Schmidl Marianne

auch Schmiedl, Theresie, Therese; Ethnologin und Bibliothekarin
* 3.8.1890, Berchtesgaden, Bayern, Deutsches Reich (Deutschland), † vor 9.5.1945 (Amtliche Todeserklärung vom 12.5.1950)

Herkunft, Verwandtschaften: Vater: Dr.iur. Josef Schmidl (1852–1916), Wiener Hof- und Gerichtsadvokat; Mutter: Dr. Marie Schmidl, geb. Friedmann (1858–1934), Dramatikerin und Schriftstellerin.
Ausbildungen: Absolvierte die unteren Gymnasial-Klassen am Schwarzwaldschen Mädchengymnasium in Wien, die weiteren Jahrgänge in Graz. Ab 1910 studierte Marianne Schmidl an der Universität Wien Mathematik und Physik, ab 1913 Ethnographie, Anthropologie und Urgeschichte sowie Volkskunde, v. a. bei Rudolf Pöch, Moriz Hoernes und Michael Haberlandt. 1915 Dr.phil., als erste Frau Dissertation in Ethnographie, Volkskunde und Anthropologie.
Laufbahn: Noch während ihrer Studienzeit arbeitete Marianne Schmidl als Volontärin am Österreichischen Museum für Volkskunde, 1913 Eintritt in den Verein für Volkskunde und Sammlungsfahrt im Auftrag des Museums im Ötztal (Erwerb von Alltagsgegenständen und Arbeitsgeräten). 1916/17 an der Afrikanischen Abteilung des Museums für Länder- und Völkerkunde in Berlin, 1917–20 als Assistentin am Lindenmuseum in Stuttgart, nach der durch Personalreduktion bedingten Entlassung am Museum für Kunst und Kunstgeschichte in Weimar. 1921 trat sie als Hospitantin in den Dienst der Österreichischen Nationalbibliothek, wurde in den Beamtenstand übernommen und 1938 zum Staatsbibliothekar 1. Klasse ernannt, noch im selben Jahr, schon schwer zuckerkrank, pensioniert (nach Auskunft B. Johler: mit 1.10.1938 wegen ihrer jüdischen Herkunft in den „dauernden Ruhestand versetzt“).
Ab 1926 Arbeit an einem Forschungsprojekt zur vergleichenden Kulturgeschichte des afrikanischen Kunsthandwerks, vom Museum für Völkerkunde in Wien ideell unterstützt, vom Sächsischen Forschungsinstitut für Völkerkunde zu Leipzig finanziert, betreut von Museumsleiter Fritz Krause. Im Zuge des Projekts Besuch der großen ethnographischen Sammlungen Europas. Durch gesundheitliche und finanzielle Engpässe kam es zum Verzug der Fertigstellung, worauf sich, betrieben durch den nationalsozialistisch orientierten Anthropologen Otto Reche, ein wissenschaftlicher „Kriminalfall“ entwickelte. Nach Androhungen übersandte Marianne Schmidl schließlich die gesamten Arbeitsmaterialien an Reche. Die eingeleitete Begutachtung der Ethnologen und Anthropologen Martin Heydrich in Köln, Eugen Fischer in Berlin und Rudolf Lehmann am Linden-Museum in Stuttgart ergaben, dass es sich hierbei um eine umfangreiche, wertvolle und äußerst gewissenhaft zusammengestellte Dokumentation handle. Marianne Schmidls persönliche Situation verschärfte sich zusehends, sie wurde am 9. April 1942 in das Lager Izbica (Polen) deportiert, von wo einen Monat später ihre letzte Nachricht stammt.
Marianne Schmidl widmete sich publizistisch schon in ihrer Studienzeit der Volks-, später hauptsächlich der Völkerkunde und betreute dieses Fach neben anderen wissenschaftlichen Sparten als Referentin an der Österreichischen Nationalbibliothek. 1929 beschloss sie gemeinsam mit Walter Hirschberg und Robert Routil die Begründung eines Afrika-Archivs, ein Gedanke, der im Folgejahr mit der Wiener Arbeitsgemeinschaft für Afrikanische Kulturgeschichte seine Verwirklichung fand und in deren Rahmen Ergänzungen zu der in Wien vorherrschenden Kulturkreislehre die Erarbeitung von Stammesgeschichten erfolgen sollte. Marianne Schmidl zog sich jedoch bald wegen Differenzen bezüglich der Methodik zurück und die Arbeitsgemeinschaft löste sich bereits 1932 wieder auf. Erst Jahrzehnte später wurden die von Marianne Schmidl und ihren Kollegen vertretenen Intentionen neuerlich aufgegriffen, u. a. 1962 durch Walter Hirschberg sowie mit der 1970 erfolgten Begründung der „Wiener Ethnohistorischen Blätter“ durch Karl Rudolf Wernhart.

Literatur / Quellen

Literatur
Blumesberger, Susanne/Doppelhofer, Michael: Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft. 18. bis 20. Jahrhundert. Hg. v. der Österr. Nationalbibliothek. München 2002.
Blumesberger, Susanne: Verlorenes Wissen. Ein gewaltsam abgebrochener Lebenslauf am Beispiel von Marianne Schmidl. In: Mirabilia Artium liborum Recreant Te tuosque Ebriant. Festschrift zum 66. Geburtstag für Hans Marte (= Biblos-Schriften Band 177). Wien 2001. S. 9–19.
Byer, Doris: Der Fall Hugo A. Bernatzik. Ein Leben zwischen Ethnologie und Öffentlichkeit 1873–1953. Köln, Wien u. a. 1999.
Byer, Doris: Schmidl, Marianne. In: Keintzel, Brigitta/Korotin, Ilse (Hg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Wien, 2002. S. 655–658.
Fischer, H.: Völkerkunde im Nationalsozialismus. Aspekte der Anpassung, Affinität und Behauptung einer wissenschaftlichen Disziplin (= Hamburger Beiträge zur Wiss. Geschichte 7). Berlin u. a. 1990.
Geisenhainer, Katja: Marianne Schmidl (1890–1942). Das unvollendete Leben und Werk einer Ethnologin (= Veröffentlichungen des Instituts für Ethnologie der Universität Leipzig. Reihe: Fachgeschichte 3). Leipzig 2005.
Korotin, Ilse: „[…] vorbehaltlich eines jederzeit zulässigen Widerrufes genehmigt“. Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Wissenschafterinnen und Bibliothekarinnen. In: Korotin, Ilse (Hg.): Österreichische Bibliothekarinnen auf der Flucht. Verfolgt, verdrängt, vergessen? (= biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografieforschung 4). Wien, 2007. S. 103–126.
Kulllik, Rosemarie: Frauen „gehen fremd“: Eine Wissenschaftsgeschichte der Wegbereiterinnen der deutschen Ethnologie (= Mundus R. Ethnol 40). Bonn 1990.
Österreichisches Biographisches Lexikon.
Pusman, Karl: Die Wiener Anthropologische Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diss. Univ. Wien 1991.
Wikipedia

Quellen
AVA Wien, WStLa; Fachbereich Orientalistik und Afrikanistik, Universität Leipzig; Auskunft B. Johler.

Werke

Flachs-Bau und Flachs-Bereitung in Umhausen. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 19, 1913.
Zahl und Zählen in Afrika. Phil. Diss. Univ. Wien 1915. Ersch. in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 45, 1915.
Beiträge zur Kenntnis der Trachten in Südost-Bulgarien. In: Wiener Zeitung für Volkskunde 30, 1925, zugleich Festschrift für M. Haberlandt, 1925.
Volkskundliche Studien in der Ebene von Sofia. In: Festschrift der Nationalbibliothek in Wien. Hg. zur Feier des 200jährigen Bestehens des Gebäudes, 1926.
Das Verhältnis von Form und Technik bei der Übertragung afrikanischer Flechtarbeiten. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 57, 1927.
Altägyptische Techniken in afrikanischen Spiralwulstkörben. In: Festschrift P. W. Schmidt. Hg. v. W. Koppers, 1928.
Die Mondkönige in Ostafrika. In: Congrés de l´Inst. International des Langues et Civilisation Africaines, 1931.
Die Grundlagen der Nilotenkultur. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 65, 1935, auch selbständig erschienen.