Razumovsky Maria

Ps. Elisabeth Neuhoff Gräfin; Bibliothekarin, Schriftstellerin und Übersetzerin
*9.3.1923, Schönstein bei Troppau, Österr.-Schlesien (/Dolni Zivotice u Opavy, Tschechien); † 4.10.2015, Wien

Herkunft, Verwandtschaften: Ihr Vater war Andreas Graf Razumovsky (1892–1981), bis 1945 Gutsbesitzer in Tschechien, wo er das vom Großvater ererbte Gut Schönstein bei Troppau besaß, danach Übersetzer im österreichischen Bundeskanzleramt. Die Familie des Vaters stammte aus der Ukraine und spielte im Russland des 18. Jh. eine wichtige Rolle. Ein Vorfahre, Kirill G. Razumovsky, war unter der Zarin Elisabeth Hetman der Ukraine und Präsident der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften; einer seiner Söhne, Andrej K. Razumovsky, war während der napoleonischen Zeit russischer Botschafter am Wiener Hof, Mäzen Beethovens, Schwager der durch ihre Erinnerungen („Mein Leben“) bekannten Gräfin Lulu Thürheim und Erbauer des Palais Razumovsky in Wien. Ein anderer Sohn, Grigorij, Ur-Urgroßvater von Maria Razumovsky, war Geologe. Beide siedelten sich in der Österreichischen Monarchie an. Maria Razumovskys Mutter war Katharina, geb Fürstin Sayn-Wittgenstein (1895–1983). Ihre Familie ist deutschen Ursprungs. Anfang des 18. Jahrhunderts trat ein jüngerer Sohn in russische Dienste; dessen Sohn Feldmarschall Graf Peter Sayn-Wittgenstein war Oberbefehlshaber der russischen Armee in der Schlacht bei Leipzig 1813. Die Familie der Mutter musste 1918 aus Russland flüchten. Der Vater von Maria Razumovsky lernte ihre Mutter kennen, während diese bei seiner Schwester als Kindermädchen arbeitete.
Maria Razumovsky, genannt Mascha, hatte zwei jüngere Schwestern, Daria (1925–2002) und Olga (1927–1990) sowie zwei jüngere Brüder, Andreas (1929–2002) und Alexander (geb. 1931).
Freundschaften: In den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte Maria Razumovsky zahlreiche Kontakte mit russischen Dissidenten, vor allem mit Literaten und Malern. Auch in bibliothekarischen Fachkreisen des In- und Auslandes war sie sehr bekannt und bekleidete verschiedene Funktionen in der IFLA (International Federation of Library Associations and Institutions).
Ausbildungen: Sie besuchte Schulen in Troppau und Wien, legte 1941 in Troppau die Matura ab, absolvierte 1941–1944 die Sprachschule Kautetzky in Wien, legte 1942 die Dolmetschprüfung in Französisch, 1944 in Englisch ab und arbeitete ab Juni 1944 auf dem väterlichen Gut in Schönstein als Landarbeiterin, danach in der Gutsverwaltung − auch nach der Konfiskation des Gutes aufgrund der Beneš-Dekrete. Ihre Großmutter väterlicherseits, die Bankierstochter Marie Wiener von Welten, war jüdischer Herkunft (sie war zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ bereits gestorben, doch ihr Bruder Rudolf, Maria Razumovkys Großonkel, setzte damals seinem Leben selbst ein Ende). Wie so viele Betroffene war Maria Razumovsky, die russisch-orthodoxe altösterreichische Adelige, über ihre plötzliche „rassische“ Stigmatisierung völlig überrascht: „Gerade habe ich erfahren, dass mein Urgroßvater ein Jude war“, schrieb sie am 22. März 1938 in ihr Tagebuch. Maria Razumovkys Vater, somit „Mischling ersten Grades“, war „nicht wehrwürdig“ und musste als Hilfsarbeiter in einer Jutefabrik 10 Stunden pro Tag arbeiten. Ihr selbst war als „Mischling zweiten Grades“ während der nationalsozialistischen Ära u. a. das Hochschulstudium verwehrt (sie hätte gern Slawistik studiert), doch lernte sie an der Kautezkyschule, deren Leiterin höchst anglophil und eine leidenschaftliche Nazigegenerin war, eifrig Sprachen. Ständig hielt sich die Familie mit gepackten Rucksäcken zur Flucht bereit. Als die Deutschen den Rückzug angetreten hatten und die Russen einmarschierten, gab es neuerlich große Aufregungen, etwa bei folgender Szene: „[Der Offizier] versprach uns umzubringen, weil […] wir schlechte Menschen und Deutsche sind. Die Mami sagte ihm, dass sie Russin sei, aber er wollte es nicht glauben. Zum Schluß der Unterredung sagte er: ‚Also Ehrenwort, Sie sind eine Russin?‘ ‚Ehrenwort‘. Man schüttelte sich die Hände. Dann sagte die Mami: ‚Ehrenwort, Sie werden uns nicht erschießen?‘ ‚Ehrenwort‘. Man schüttelte sich abermals die Hände und dann ging er.“ (Schilderung des Bruders Andreas ). Ein andermal entging der Vater nur mit knapper Not, dank der Unterstützung durch die eilig herbeigeholte tschechische Gendarmerie, der Deportation, weil beide Eltern aus Russland stammende Adelige waren und anderseits als „Deutsche“ galten. Zwar genoss die Familie die Sympathie ihrer Angestellten und der rundum ansässigen Tschechen, dennoch wurde sie im August 1946 nach Wien ausgewiesen, wo sie glücklicherweise ein ererbtes Haus besaß, welches keinen Bombentreffer erlitten hatte. Die Erlebnisse der Familie vom „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland bis zur Ausweisung der Familie aus Tschechien sind in den von Maria Razumovsky und ihren Schwestern verfassten Tagebüchern sehr lebendig geschildert (hg. 1999 und 2000).
Laufbahn: Im September 1946 trat Maria Razumovsky den Dienst an der Österreichischen Nationalbibliothek an, wo sie bis zu ihrem Übertritt in den Ruhestand 1986 blieb. Sie war in der Erwerbung und im Schriftentausch tätig, als Referentin für russische Literatur sowie als Leiterin des Referates für internationale Beziehungen. In diesen Funktionen förderte sie den schrittweisen Ausbau der Verbindungen mit Bibliotheken insbesondere in den damaligen COMECON-Ländern. Die Basis bildete der Schriftentausch, eine unverzichtbare Erwerbungsquelle, wodurch sie ihre Kontakte nicht nur zu den Nationalbibliotheken des Ostblocks, sondern auch zu den entsprechenden Einrichtungen in den damaligen Sowjetrepubliken knüpfen konnte. Ihr Verhandlungs- und Improvisationsgeschick halfen ihr dabei. Wenn z. B. der Tausch über Währungswechselkurse nicht möglich war, fand sie als neue Lösung den sog. Seitentausch. Dadurch konnten bei uns die Texte noch weitgehend unbekannter AutorInnen wie z. B. Herta Müller oder Cingiz Ajtmatov der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und umgekehrt z. B. Werke von Theodor Herzl oder Franz Kafka in Bibliotheken des Ostblocks gelangen.
„Die Beziehungen Razumovskys zu Dissidenten in Russland sind allgemein bekannt. So mag es nicht verwundern, dass das sogenannte Slawistenzimmer in der Nationalbibliothek auch immer wieder als Anlaufstelle für Erstkontakte von Personen diente, die aus welchen Gründen auch immer Mosku verlassen mussten und Wien erreicht hatten. Lev Kopelev war einer von ihnen.“ (Nachruf von Werner Rotter und Eva Ramminger. In: VÖB-Mitt. 68/, Nr. 3/4, S. 508). Im Laufe der Zeit erlangte sie in Fachkreisen internationale Bekanntheit und war 1956 an der Bibliothek der Vereinten Nationen in New York tätig, ab 1959 in der Libraries Division der UNESCO Paris. Die Verabschiedung der „Konvention zum multilateralen Schriftentausch der UNESCO-Staaten“ 1958 ist nicht zuletzt ihrem Beitrag zu verdanken.
Obwohl ihre Tätigkeiten „A-wertig“, d. h. jenen von UniversitätsabsolventInnen gleichwertig waren, wurde bei ihrer dienst- und besoldungsrechtlichen Einstufung im Unterschied zu manchen männlichen Beamten nicht von dem Formalerfordernis des Hochschulabschlusses abgesehen; sie blieb im B-Dienst, d. h. als Maturantin eingestuft, wurde schließlich Amtsdirektorin und erhielt den Titel „Regierungsrätin“. Nach ihrem Übertritt in den Ruhestand wurden ihre Aufgaben von einer bereits an der Österreichischen Nationalbibliothek angestellten promovierten Slawistin übernommen. Ihr Dienstposten konnte daher neu besetzt werden, und es passt in ihr von Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft geprägtes Persönlichkeitsbild, dass sie ihre Pensionierung vorzeitig einreichte, um einem jungen Familienvater, der auf einem auslaufenden Karenzposten angestellt war, die feste Anstellung auf ihrem freiwerdenden Posten zu ermöglichen.
Neben ihrem Beruf sowie im Ruhestand verfasste sie Übersetzungen, Aufsätze über literaturwissenschaftliche, kunstgeschichtliche und bibliothekarische Themen sowie historische, biographische und selbstbiographische Werke.
Sie nahm auch weiterhin am Bibliothekwesen Anteil; so besuchte sie die IFLA-Konferenz in Moskau im Sommer 1991, als sich eben der Zusammenbruch der Sowjetunion abspielte und die Tagung in abgeschirmten Räumen stattfand. Sie jedoch wurde gesehen, wie sie unbeirrt ihren Weg über Sraßenbarrieren fortsetzte.
Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in dem Malteser Seniorensitz in Wien.
Auszeichnungen, Mitgliedschaften: Dr. Josef-Bick-Ehrenmedaillen in Silber und in Gold. Erste Vizepräsidentin der Vereinigung österreichischer Bibliothekare (VÖB) 1978–1980 (Mitglied seit 1950). Sekretärin der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA) 1962. Amtstitel: Amtsdirektorin, Regierungsrätin.

Literatur / Quellen

Stumpf-Fischer, Edith: Wie überlebt man „finstere Zeiten“? 5 Bibliothekarinnen, 5 Antworten. In: Korotin, Ilse (Hg.): Österreichische Bibliothekarinnen auf der Flucht. Verfolgt, verdrängt, vergessen? Wien 2007, S. 21–32.
Rotter, Werner/Ramminger, Eva: …die Barrikaden überwand. Maria Razumovsky 1923–2015. Ein Nachruf. In: Mitteilungen der VÖB. 68 (2015) 3/4, S. 508–512.
Schriftliche Auskünfte von Maria Razumovsky, Teilnachlass in der ÖNB.

Werke

Marina Zwetajewa. Mythos und Wahrheit. 1981.
Marina Zwetajewna. Eine Biographie. 1989.
Die Rasumovskys: Eine Familie am Zarenhof. 1998.
Mascha, Dolly, Olga Razumovsky: Unsere versteckten Tagebücher 1938–44. Drei Mädchen erleben die Nazizeit. 1999.
Maria, Daria und Olga Razumovsky. Unser Abschied von der tschechischen Heimat. Tagebücher 1945–1946. 2000.
Übersetzungen, Bearbeitungen:
Marina Cvetaeva. Gedichte (russisch und deutsch). 1979.
Ternovsky, J.: Nach der Dämmerung. Roman. 1976.
Volensky, M.: Nomenklatura. 1980, Übersetzung aus dem Russ. unter dem Pseud. Elisabeth Neuhoff.
Sayn-Wittgenstein, Katherina Prinzessin: Als unsere Welt unterging. Tagebuch aus der Russischen Revolution. 1984, Hg. des russ. Originals 1986.
Zwetajewa, Marina: Briefe an Vera Bunina und Dimitrij Schachowskoy. 1991.
Zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und Festschriften.

BiografieautorIn:

Edith Stumpf-Fischer

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