Enderle-Burcel Gertrude

geb. Burcel
* 8.11.1950, Mistelbach a. d. Zaya, NÖ
Zeithistorikerin

G. B. wurde am 8. November 1950 als Tochter von Robert Burcel, von Beruf Metallarbeiter, und Margarethe Burcel, geb. Bader, in Mistelbach a. d. Zaya geboren. 1951 erfolgte der Umzug nach Wien. Nach dem Besuch der Hauptschule in Wien II besuchte sie das musisch-pädagogische Bundesrealgymnasium, Wien I, Hegelgasse, wo sie 1970 die Matura mit Auszeichnung ablegte. Ihren Interessen folgend studierte sie anschließend Germanistik, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien. Ihre Dissertation schrieb sie zum Thema „Österreichisch-italienische Wirtschaftsbeziehungen 1919-1923“ bei Ludwig Jedlicka und Erika Weinzierl. Am 13. Juni 1979 erfolgte die Promotion zur Dr.phil. Die Bildungsoffensive der Regierung Kreisky erleichterte den Einstieg in eine geisteswissenschaftliche Karriere. Im Juli 1979 trat sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in das Österreichische Ost- und Südosteuropainstitut ein, wo sie mit der Edition der Ministerratsprotokolle der Ersten Republik befasst war, welche von der Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1918 bis 1938 initiiert worden war. Im Oktober 1980 erfolgte der Eintritt in die Österreichische Gesellschaft für historische Quellenstudien, die als wissenschaftlicher Verein zur Edition der Ministerratsprotokolle der Ersten Republik gegründet worden war. Ab Dezember 1982 konnte sie diese Tätigkeit im Rahmen einer Planstelle des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung ausüben, 1986 wurde sie ins Bundeskanzleramt/Österreichisches Staatsarchiv übernommen. 1988 wurde ihr schließlich die wissenschaftliche Leitung der Edition der Ministerratsprotokolle übertragen. Im Juni 2006 wurde sie Geschäftsführende Generalsekretärin der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien.
Nicht zuletzt dank ihres wissenschaftlichen Engagements konnte die Reihe der Edition der Ministerratsprotokolle erweitert werden. 1995 wurde sie wissenschaftliche Projektleiterin der Edition der Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945. 1997 übernahm sie die Projektleitung der Edition der Ministerratsprotokolle der Regierung Figl I (1945 bis 1949). Als weitere Editionsreihe hat sie 2004 die Herausgabe der „Tagebuchnotizen Adolf Schärf“ ins Leben gerufen. 2007 schließlich erfolgte der Beginn der Edition der Protokolle des Vollzugsausschusses, des Staatsrates und des Geschäftsführenden Direktoriums 1918/1919.

Für alle Editionsreihen wurden biographische Dokumentationen über Personen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Kunst aufgebaut. Die umfangreichen biographischen Recherchen für die Personenregister der Ministerratsprotokolle liefern Grundlagen für die Publikation biographischer Handbücher zur Elitenforschung (z. B. Mandatare im Ständestaat, Sektionschefs der Ersten Republik und des Jahres 1945 sowie österreichische Spitzendiplomaten 1918-1959) und für Forschungsbeiträge zu Eliten in Verwaltung und Politik sowie zu deren Netzwerken (z. B. Publikationen zu den Österreichischen Parteien 1945-1955; zu Lobbyismus von Interessengruppen der österreichischen Industrie; zu politischen Eliten in Niederösterreich). Aus den biographischen Forschungen ergibt sich weiters ihre Mitarbeit beim Österreichisch-biographischen Lexikon der Akademie der Wissenschaften.
Neben der Editionstätigkeit arbeitete G. E.-B. zwischen 1988 und 1993 an einem internationalen Bankforschungsprojekt der renommierten London School of Economics mit. Von 1993 bis 1995 war sie an einem Forschungsprojekt des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung über die Finanzpolitik Österreichs im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit beteiligt, das unter der Leitung von Universitätsprofessorin Dr. Alice Teichova stand, mit der sie bis zu deren Tod 2015 freundschaftlich verbunden war.
Zu allen Forschungsfeldern hält G. E.-B. regelmäßig Vorträge, z. B. an der Universität Wien und am Jüdischen Institut für Erwachsenenbildung.
Wiederholt nahm sie an nationalen wie internationalen Konferenzen und Tagungen teil (z. B. 1996 „Cercles et milieux économiques au XXème siècle: diversités, convergences et solidarités“ in Arras; 2008 „Austria & Italia nell`Europa centrale tra le due guerre mondiali” in Trento). Besonders hervorzuheben ist die Organisation von drei großen internationalen Konferenzen in den Jahren 2004 in Wien, 2005 in Bratislava und 2006 in Helsinki zu den Themen „Wirtschaftshistorische Entwicklungen in Europa“ und „Kalter Krieg und Neutralität“ mit jeweils eigenen wissenschaftlichen Beiträgen.
Parallel zu ihrer Editions- und Forschungstätigkeit lief ihre Beamtenkarriere. Im Jänner 1997 wurde sie zur Hofrätin im Österreichischen Staatsarchiv ernannt. Eine Erweiterung des Tätigkeitsfeldes erfolgte von 2003 bis 2012 als stellvertretende Leiterin der Stabsabteilung des Österreichischen Staatsarchivs mit dem Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit. In diesem Rahmen wurde unter anderem die regelmäßige Vortragsreihe „Aus der Werkstatt der Forschung“ von ihr initiiert.
Bei allen wissenschaftlichen Aktivitäten hat G. E.-B. stets nationale und internationale Kooperationen gesucht und genützt. Laufend war sie bestrebt, der Edition ein sicheres Dach zu geben. So war sie 2006 stellvertretende Vorsitzende einer ad-hoc Arbeitsgruppe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die für die Erstellung eines Rankings der besten Quelleneditionsvorhaben gegründet und in deren Rahmen ein umfassendes Editionsprojekt zu „Regierung und Parlament in Österreich 1848-1955“ entworfen wurde. 2009 war sie im Rahmen von NIKE (Netzwerk Initiative Kulturelles Erbe) maßgeblich an der Ausarbeitung eines Projektes zu „Regierung und Parlament in Österreich“ in Verbindung mit weiteren Teilprojekten der Akademie der Wissenschaften, der Israelitischen Kultusgemeinde, des Instituts für Zeitgeschichte Wien und der Universität Salzburg beteiligt, das beim Wissenschaftsministerium vorgelegt wurde.
Die Realisierung von größeren Forschungseinheiten und eine langfristige Lösung zur Förderung der Edition der Ministerratsprotokolle scheiterte jedoch auf Grund mangelnder Fördermittel und an der Forschungspolitik ab dem Jahr 2000.
Die letzten Berufsjahre waren geprägt vom Kampf um finanzielle Mittel zur Fortführung der Edition der Ministerratsprotokolle, die durch die im Laufe der Jahre sinkenden Subventionen und schließlich infolge der Streichung jeglicher Förderung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen im Jahr 2011 nur auf Sparflamme betrieben werden kann. Es ist keine konstante Weiterführung in Aussicht.
Als Anerkennung ihrer hervorragenden zeitgeschichtlichen Forschungs-, Publikations- und Vermittlungstätigkeit wurde G. E.-B. am 25. Februar 2013 der Berufstitel „Professorin“ verliehen. Durch ihre analytische und editorische Arbeit hat sie wesentlich zum Standard und zur Qualität der österreichischen Zeitgeschichtsforschung beigetragen.
Mit Dezember 2015 trat sie in den Ruhestand. Seitdem arbeitet sie an einem Sammelband „Antisemitismus in Österreich 1933-1938“, bereitet eine Briefedition zu Berta Zuckerkandl vor und plant die Fortsetzung der Edition der „Tagebuchnotizen Adolf Schärf“. Weiters ist sie in der Arbeitsgruppe „Jüdisches Leben in Korneuburg“ sowie in einer Arbeitsgruppe zum Aufbau eines Archives einer Waldviertler Gemeinde aktiv.
1980 heiratete sie Dr. Peter Enderle, zuletzt Chefredakteur von „Wien aktuell“, der Betriebszeitung der Gemeinde Wien. Er teilt ihre Interessen und unterstützt die wissenschaftlichen Forschungen.
Zu ihren Hobbys gehören Italienisch, Konzert- und Theaterbesuche, Weinbau sowie der Umbau und die Arbeit an ihrem Hof im Waldviertel.

Werke

Edition der Protokolle des Vollzugsausschusses, des Staatsrates und des Geschäftsführenden Direktoriums 1918/1919, 1 Band.
Edition der Ministerratsprotokolle der Ersten Republik, Kabinett Dollfuß und Schuschnigg, 15 Bände.
Edition der Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner, 3 Bände.
Edition der Ministerratsprotokolle der Zweiten Republik, Kabinett Figl I, 6 Bände (Bände 7 bis 18 in Bearbeitung).
Politische und ökonomische Aspekte des Renner-Nitti-Abkommens vom April 1920, in: Zeitgeschichte, Heft 4, Jänner 1980, S. 115-124.
Karl Buresch. In: Weissensteiner, F. / Weinzierl, E. (Hg.): Die österreichischen Bundeskanzler. Leben und Werk. Wien, 1983, S. 174-188.
Die Wiederaufnahme der österreichisch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem 1. Weltkrieg. In: Zeitgeschichte, Heft 5, Februar 1986, S. 167-178.
Gem. mit Enderle, P. / Hradil, W. / Smola, A.: Wir sind das Bauvolk, 40 Jahre SPÖ-Meidling 1945-1985. Wien, 1987.
Gem. mit Kraus, J.: Christlich-ständisch-autoritär. Mandatare im Ständestaat 1934-1938, Biographisches Handbuch der Mitglieder des Staatsrates, Bundeskulturrates, Bundeswirtschaftsrates und Länderrates sowie des Bundestages. Wien, 1991.
The Austrian Workers´ Bank: a financial institution for the community, or simply another profit-orientated institution? In: Cottrell, P. L. / Lindgren, H. / Teichova, A. (Hg.): European Industry and Banking Between the Wars. A review of Bank-Industry relations. Leicester University Press 1992, S. 95-108.
Militarisierung der Gesellschaft – Aspekte österreichischer Wehrpolitik 1918-1938. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Band 43. Wien, 1993, S. 178-193.
Gem. mit Budig, Robert S. / Enderle, P.: Ehrengräber am Wiener Zentralfriedhof. Wien 1995, 22002.
Gem. mit Follner, M.: Diener vieler Herren. Biographisches Handbuch der Sektionschefs der Ersten Republik und des Jahres 1945. Wien, 1997.
Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch- tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 3. Wien 1997, S. 175-190.
„Planwirtschaft“ als Krisenbekämpfung. Aspekte österreichischen Staatsinterventionismus 1930 bis 1938. In: Teichova, A. /Mosser, A. /Pátek, J. (Hg.): Der Markt im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit. Karolinum, Prag 1997, S. 379-391.
Lobbyismus von Interessengruppen der österreichischen Industrie in den dreißiger Jahren – unter Berücksichtigung der Veränderungen bei der Durchsetzung industrieller Interessenpolitik in den zwanziger und dreißiger Jahren. In: Teichova, A. / Matis, H. / Resch, A. (Hg.): Business History. Wissenschaftliche Entwicklungstrends und Studien aus Zentraleuropa. Wien, 1999, S. 247-268.
Wien, Triest und die Südbahn – eine Schicksalsgemeinschaft. In: Artl, G. et al. (Hg.): Vom Teufelswerk zum Weltkulturerbe: 150 Jahre Semmeringbahn. Wien, 2004, S. 203-213.
Gem. mit Stiefel, D. / Teichova, A. (Hg.): „Zarte Bande“ – Österreich und die planwirtschaftlichen Länder (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 9). Wien, 2006.
(Hg.): Adolf Schärf. Tagebuchnotizen des Jahres 1955. Innsbruck, 2008.
Gem. mit Kubu, E. / Sousa, J. / Stiefel, D. (Hg.): Discourses – Diskurse. Essays for – Beiträge zu Mikulas Teich & Alice Teichova. Prag, Wien, 2008.
Gem. mit Agstner, R. / Follner, M.: Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien, 2009.
Austrian business interests in socialist neighbouring countries: cloaked companies – CPA-related firms´ Eastern trade. In: Enderle-Burcel, G. / Franaszek, P. / Stiefel, D. / Teichova, A. (Hg.): Gaps in the Iron Curtain. Economic relations between neutral and socialist countries in Cold War Europe. Kraków, 2009, S. 125-141.
(Hg.): Adolf Schärf. Tagebuchnotizen des Jahres 1952. Innsbruck, 2010.
Gem. mit Jeřabek, R. : Verwaltungseliten in Umbruchzeiten, Spitzenbeamte des Bundes 1918/1933/1938/1945. In: Biographien und Zäsuren. Österreich und seine Länder 1918-1933-1938 (= Historisches Handbuch der Stadt Linz 2010/2011). Linz, 2011, S. 17-54.
Lust und Frust des Edierens. Gedanken zu dreißig Jahren Edition der Ministerratsprotokolle der Republik Österreich. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer. Wien, 2012, S. 297-312.
Gem. mit Neubauer- Czettl, A.: Staat im Umbruch. Forschungslücken zur Geschichte Österreichs der Jahre 1933 bis 1938. In: Wenninger, F. / Dreidemy, L. (Hg.): Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes. Wien, Köln, Weimar, 2013, S. 413-427.
Flucht aus dem Staatsdienst, Beamtenproletarier und Mandarine auf dem Weg von der Monarchie in die Republik. In: Eigner, P. / Matis, H. / Resch, A. (Hg.): Entrepreneurship in schwierigen Zeiten, Unternehmertum, Karrieren und Umbrüche während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wien, 2013, S. 117-141.
Gem. mit Neubauer- Czettl, A. / Stumpf- Fischer, E. (Hg.): Brüche und Kontinuitäten 1933–1938–1945. Fallstudien zu Verwaltung und Bibliotheken (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 12). Wien, 2013.
Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung. Verwaltung im Ausnahmezustand – die Wiener Zentralbürokratie im Ersten Weltkrieg. In: Pfoser, A. / Weigl, A. (Hg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Wien, 2013, S. 274-283.
Rezension zu Klaus Taschwer: Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien, 2015. In: Europäische Rundschau 2015/3, S. 111-112.
Gem. mit Neubauer- Czettl, A.: Justiz am Prüfstand. Spitzenbeamte im Justizministerium 1938–1945–1955. In: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, 5. Jg., Band 1/2015, S. 32-57.
Gem. mit Stumpf- Fischer, E.: Weibliche Eliten und ihr Verhältnis zur Politik. In: Jahrbuch für politische Beratung 2014/2015. Zeit und Geist in Mitteleuropa. Wien, 2015, S. 141-167.

Literatur / Quellen

Lebenslauf
Mitteilungen von Gertrude Enderle-Burcel
Fellner, F. / Corradini, D. A.: Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon. Wien, Köln, Weimar, 2006, S. 112-113.
Who is who in Österreich und Südtirol. Zug, 1995, S. 514.

BiografieautorIn:

Alexandra Neubauer-Czettl