Verosta Maria; Dermatologin und Bibliophile
Geb. Wien, 1909
Gest. Wien, März 1983
M. V. wurde 1909 in Wien als jüngstes Kind des Bäckermeisters Andreas Stühler und seiner Frau Helene Stühler, geb. Söllner, geboren. Ihre älteste Schwester Julia, die bereits 15 Jahre alt war, als M. zur Welt kam, verstarb 2 Jahre später, gerade erst 17 Jahre alt. Mit ihren anderen Geschwistern Hilda und Fritz sowie mit Schwager und Schwägerin und ihren Neffen und Nichten verband sie eine aufrichtige Zuneigung.
Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in der Rahlgasse im 6. Bezirk studierte M. V. Medizin, erwarb in der Turnusausbildung im Wiener Wilhelminenspital das ius practicandi und absolvierte die Ausbildung zur Fachärztin für Dermatologie.
In ihrer Studienzeit – M. V. promovierte 1934 – waren weibliche Studentinnen nicht nur auf der medizinischen Fakultät noch eine Rarität. So sagte ein Ordinarius, dessen Vorlesung sie als einzige Frau besuchte, nachdem er sie gesehen hatte, er werde warten, bis alle Damen den Hörsaal verlassen hätten. M. V. verließ den Hörsaal aus Rücksicht auf ihre männlichen Kollegen, da diese die Vorlesung ja hören wollten. Sie behalf sich aber in der Folge damit, dass sie ihre Haare kürzte und zur nächsten Vorlesung bei diesem Ordinarius mit Hemd, Hosenanzug und Krawatte erschien. So gekleidet, wurde sie nicht als „Frau enttarnt“ und konnte unangefochten die Vorlesung hören.
Ihre Tätigkeit im Wilhelminenspital fiel teilweise bereits in die Zeit nach dem „Anschluss“. Die Spitalsärzte wurden damals aufgefordert, dem NS-Ärztebund beizutreten. M. V. gelang es, weiterer Vereinnahmung dadurch zu entgehen, dass sie nach Beendigung der Facharztausbildung die Tätigkeit im Spital, die wohl zu einer Oberarztstelle geführt hätte, aufgab und während des Weltkrieges als Schulärztin im katholischen Gymnasium Maria Regina in der Hofzeile im 19. Bezirk arbeitete.
Andreas Stühler betrieb in der Bäckerstraße im ersten Bezirk eine Bäckerei und einen Verkaufsladen in der Wollzeile. Es handelte sich zwar nicht um einen Familienbetrieb, sondern um eine größere Bäckerei mit zeitweise bis zu zwanzig Mitarbeitern, doch kam es immer wieder vor, dass M. und ihre Schwester Hilda als Aushilfen im Verkaufslokal tätig waren. Aus pragmatischen Gründen absolvierte M. V. teilweise während ihrer Schulzeit, teilweise während ihres Studiums die Bäckerlehre und legte die Gesellenprüfung mit Erfolg ab. Sie war daher in der Lage, mit einer antragsgemäß erteilten Dispens von der Meisterprüfung während des Krieges neben ihrer Tätigkeit als Schulärztin die Bäckerei weiterzuführen, Ihr Vater war nach einem Schlaganfall dazu nicht mehr in der Lage, ihr Bruder Dipl.Ing. Fritz Stühler, der Bäckermeister war und das Geschäft bisher geführt hatte, als Soldat an der Front.
M. V. erzählte später, dass sie die eine oder andere schlaflose Nacht verbracht hatte, wenn sie am nächsten Tag in das Amtsgebäude der Gestapo am Morzinplatz zu gehen hatte, um Heimaturlaub für die Bäckergesellen, die sie für das Geschäft brauchte, zu beantragen.
Im März 1942 heiratete M. St. Herrn Dr. Stephan Verosta, der zu diesem Zeitpunkt eingerückt war. Dieser war nach Absolvierung seines Jusstudiums Assistent bei Dr. Alfred Verdroß, dem damaligen Ordinarius für Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Wien und wurde dem Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten dienstzugeteilt. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten wurde er wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ suspendiert. Er hatte schon vorher die Richteramtsprüfung abgelegt und arbeitete bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst als Richter. Nach der Rückkehr nach Wien wurde er in das Außenministerium berufen und war in der Folge als Diplomat in Italien und Ungarn tätig. Anschließend fungierte er als Leiter der außenpolitischen Abteilung und war in dieser Funktion federführend für die Vorbereitung des österreichischen Staatsvertrages und des Neutralitätsgesetzes. Danach war er als Botschafter in Polen tätig und wurde 1961 als Ordinarius für Völkerrecht und Rechtsphilosophie an die Universität Wien berufen.
Aus dieser Ehe entstammten drei Kinder, Lukas, Gabriele und Michael. Ihren Kindern war M. V. eine verständnisvolle und liebevolle Mutter, wenn sie auch zeitlebens die geistigen Behinderung ihres jüngsten Sohnes emotional belastete.
M. V. war eine sehr gute Ärztin. Viele Freunde und Bekannte holten sich bei ihr Rat, beispielsweise vor medizinischen Eingriffen. Es kam immer wieder vor, dass der eine oder andere Freund auf ihren Rat hin sich einem von einem anderen Arzt empfohlenen Eingriff nicht unterzog und sich nachher herausstellte, dass der Eingriff, von dem Dr. V. abgeraten hatte, ohnehin ganz überflüssig gewesen wäre. Sie hatte ihre Tätigkeit als Ärztin nach dem Krieg aufgegeben, widmete sich der Familie und unterstützte zeitweise ihren Bruder bei der Führung der in verkleinertem Umfang noch vorhandenen Bäckerei, bis diese verpachtet wurde. Berufstätigkeiten übte sie nicht mehr aus.
Die wahre Liebe von Frau Dr. V. gehörte der Kunst, insbesondere der Malerei. Sie war auch mit einigen Malern bekannt, darunter Kokoschka, Wiegele, Kolig, Laske und Boeckl. Ihr Schwager Theodor Herzmansky, ebenfalls Maler, war ein Schüler von Franz Wiegele und Anton Kolig.
Fast ihr ganzes Leben war M. V. in enger Freundschaft mit Dr. Johanna Monschein verbunden, einer Diplomatin und Besitzerin einer der wohl ansehnlichsten Sammlungen alter Kinderbücher. Die beiden besuchten immer wieder gemeinsam Dr. Theodor Kreysa, einen berühmten Bibliophilen, und seine Frau Gabi in Mödling, wo sie an Hand der umfangreichen und bemerkenswerten Bibliothek ihres Gastgebers sehr viel für ihre eigene Sammlertätigkeit lernen konnten und interessante Tage verbringen konnten. Während Dr. Monschein sich hauptsächlich auf alte Kinderbücher konzentrierte, sammelte Dr. V. zwar auch Kinderbücher, aber auch seltene Erstausgaben und Autographen. Leider existiert diese Sammlung nicht mehr.
Zum Freundeskreis von M. und Stephan Verosta gehörten neben Dr. Johanna Monschein auch deren Schwester Karoline Neider, genannt Mucki, und ihr Mann Heinz sowie Kurt und Ella Lingens. Besonders mit Dr. Heinz Neider war das Ehepaar Verosta in tiefer Freundschaft verbunden.
Als M. und Stephan Verosta in März 1942 in der Churhaus-Kapelle auch kirchlich heirateten, war es ihr Freund Heinz Neider, der, obwohl Atheist, besonderen Wert darauf gelegt hatte, ihr Trauzeuge zu sein. In dieser Zeit war sowohl für eine kirchliche Trauung als auch für die Funktion eines Trauzeugen doch ein gewisser Mut erforderlich.
An Dr. V. war eine Kunstexpertin verloren gegangen. Dazu gibt es eine Anekdote aus der Kriegszeit: Sie besorgte sich gemeinsam mit einer Freundin ein Werk über niederländische Maler. Diese Freundin erzählte später, dass M. V. bei der Ansicht eines der Bilder in diesem Buch nur die Nase gerümpft und erklärt hatte, dieses Bild sei nicht gut, etwas stimme damit nicht. Jahre später stellte eine Expertise unter Beweis, dass dieses Bild ein Fälschung war.
Die Eltern von Frau Dr. V., Andreas und Helene Stühler, stammten beide aus zwei benachbarten Dörfern in der Nähe von Geroldshofen in Unterfranken (Bayern) und hatten sich in Wien kennengelernt. Ihre Herkunft hinderte sie jedoch keineswegs, sich als „Urwiener“ zu fühlen, beide votierten bei der Abstimmung über den Anschluss mit „nein“. In diesem Umfeld, einer Mischung aus teilweiser Integration der Familie in den Geschäftsbetrieb, dem Bestreben der Eltern, ihren Kindern eine umfassende und solide Bildung und Ausbildung zuteilwerden zu lassen und der Liebe zu Wien und Österreich, wuchs Frau Dr. V. auf. Den „Anschluss“ empfand sie als eine harte Strafe für Österreich und hielt sich mit dieser Meinung auch nicht zurück.
Dr. M. V. verstarb im März 1983 in Wien.
Von Frau Dr. V. liegen keine Publikationen vor. Diese Biographie stammt aus ihren mündlichen Mitteilungen sowie aus Informationen aus dem Familien- und Freundeskreis, soweit dieser noch vorhanden war.
Gabriele Kulka