Stourzh-Anderle, Helene

geb. Anderle

* 17.6.1890, Klosterneuburg, NÖ, † 21.2.1966, Wien

Gynäkologin, Sexualforscherin und Schriftstellerin

Geboren in Klosterneuburg, katholisch getauft, aufgewachsen in Wien. Tochter des Ingenieurs Franz K. A. Anderle (1847-1922) und seiner Ehefrau Anna Maria, geb. Himmel (1863-1954). Ihre Schwester Anna (1888-1964) und H. St.-A. absolvierten das erste Wiener Mädchengymnasium. Im Juli 1910 erlangte H. St.-A. die Matura. Anschließend studierte sie in Wien Medizin. Ab Jänner 1913, im Alter von 22 Jahren, ging H. St.-A. einer Anstellung als „Demonstrator“ an der „Ersten anatomischen Lehrkanzel“ unter Julius Tandler (1869-1936) nach. In der von Tandler gegründeten „Zeitschrift für angewandte Anatomie und Konstitutionslehre“ veröffentlichte die vierundzwanzigjährige H. St.-A. im Band 1 (1914) ihre erste wissenschaftliche Arbeit: „Zur Lehre von der Querschnittstopographie der Nerven an der oberen Extremität“. Die zweite wissenschaftliche Arbeit, die sie bereits während ihrer Zeit bei Tandler (1913-1915) verfasste, konnte kriegsbedingt erst 1918 im Band III jener Zeitschrift herausgegeben werden.
1915 Promotion, 1916-1918 Weiterbildung zur Frauenärztin, 1918-1920 Assistentin an der II. Wiener Universitätsfrauenklinik unter Ernst Wertheim (1864-1920). Auf Empfehlung von Wertheim und Tandler wurde H.St.-A. 1918 in die „Gesellschaft der Ärzte in Wien“ aufgenommen. 1921 Kassenzulassung als Frauenärztin in Wien, 1928 Umwandlung in eine Allgemeinpraxis. Im gleichen Jahr Heirat mit dem evangelischen Philosophen Herbert Stourzh (1889-1941), mit dem sie durch gemeinsame Mitarbeit an der progressiven Zeitschrift „Die Bereitschaft“ in Verbindung kam. 1929 Geburt des Sohnes Gerald.
H. St.-A. engagierte sich öffentlich in der Sexualaufklärungsbewegung. Am 8. November 1918 hielt sie ihren ersten Vortrag an der Wiener Urania zum Thema Physiologie und Hygiene der Frau. Im folgenden Sommer referierte sie, im Zuge eines Programms der Wiener Urania, in Graz und im Sommer 1920 in Innsbruck. Neben weiteren volksbildnerischen Vorträgen – u.a. im Rundfunk, etwa am 18.Mai 1932 „Häusliche Erziehungsfragen“ oder am 7.April 1937 ertönte in der Sendereihe „Stunde der Frau“ ihr Vortrag „Probleme der Gattenwahl“ – publizierte H. St.-A. eine Reihe von Schriften.
Ab 1930 politische Betätigung in der Österreichischen Frauenpartei, wo sie auch Leiterin der Erziehungssektion war. 1938-1945 war die Familie Pressionen ausgesetzt, doch konnte H. St.-A. weiterhin publizieren, forschen und als Ärztin arbeiten. 1953 Vorstandsmitglied der Organisation der Ärztinnen Österreichs, 1954 Mitbegründerin der Österreichischen Gesellschaft für Sexualforschung. 1955 erschien ihr erstes großes Buch über die „Sexuelle Konstitution“, 1961 ihre wegweisende Studie über die „Anorgasmie der Frau“.

Als in den 1920er Jahren ihr akademischer Lehrer Julius Tandler im „Roten Wien“ eine Vielzahl staatlicher Förderprojekte für sozial benachteiligte Schichten anstieß, setzte H. St.-A. dagegen eine ärztlich angeleitete, jedoch prinzipiell selbständige Lebensreform des weiblichen Individuums. Durch populäre Handreichungen (1925a, 1925b, 1931a, 1931b) und die Ermunterung an Standeskollegen (1931c), sich ebenfalls auf das wenig angesehene und durch die Abtreibungsdebatten bestimmte Gebiet der Sexualaufklärung zu wagen, suchte sie die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Frau zu fördern. H. St.-A. umging die Frage nach der Freigabe der Abtreibung und konzentrierte sich auf prophylaktische Maßnahmen zur Geburtenkontrolle und Selbstbestimmung im weiblichen Sexualleben. So entwickelte sie für die Knaus-Ogino-Methode eine Taschentabelle (1935). Während viele ihrer Zeitgenossinnen sich für die Lockerungen von gesetzlichen und administrativen Bestimmungen einsetzten und sich radikalen politischen Bewegungen öffneten sowie ganz dezidiert bestimmte diagnostische oder therapeutische Schulen präferierten, vermied H. St.-A. eine genaue Positionierung. Vielmehr bemühte sie sich, die ihrer Ansicht nach positiven Elemente der verschiedenen medizinischen Ansätze (u. a. Konstitutionslehren, Psychotherapie, soziale Medizin) zu synthetisieren und ab Mitte der 1930er Jahre grundsätzlich zu hinterfragen. H. St.-A. sah sich mit der in der deutschsprachigen Medizin seit den 1920er Jahren dominant werdenden Konstitutionslehren konfrontiert, deren Kerninhalt darin bestand, anhand des anatomischen Corpus auf psychische Eigenschaften zu schließen. Das Grundmodell der Konstitutionslehren bildete die Differentialdiagnose zwischen Schizophrenie und manischer Depressivität, die der deutsche Psychiater Ernst Kretschmer (1888-1964) in den 1920er Jahren entwickelt hatte. Darauf aufbauend waren frauenheilkundliche Typologien präsentiert worden, anhand derer Frauen die Fähigkeit zur Mutterrolle entweder attestiert (Pyknika) oder abgesprochen (Asthenika) wurde.
1949 empfahl H. St.-A. erstmals individualbezogene Hormontherapien anstelle der bis dahin relativ wahllosen bzw. konstitutionsbiologisch begründeten Behandlungen. Weiterhin tat sie sich in der Ehe- und Sexualberatung hervor (1931b, 1952a, 1953a, 1954a). In ihrer ersten großen Monographie „Sexuelle Konstitution“ (1955) vertiefte sie ihre bisherigen Studien und verwarf die üblichen diagnostischen Vorverurteilungen von Patienten aufgrund ihrer Konstitution oder Sexualität. Sie erhielt Zustimmung durch den deutschen Psychiater Hans Giese (1920-1970) und den amerikanischen Sexologen Harry Benjamin (1885-1986) – die meisten Rezensenten waren aber vor allem verblüfft, dass eine Ärztin es wagte, die eingeführten konstitutionstypologischen Muster neu und nicht mehr frauenfeindlich zu instrumentalisieren. Unter dem Fokus der menschlichen Sexualität, differenzierte H. St.-A. die sexuellen Konstitutionstypen nach den (eher seltenen) „reinen“ Normosexuellen und dem (weiter gefassten) Bereich der Parasexuellen.
1961 publizierte H. St.-A. eine empirisch und experimentell begründete Studie über die „Anorgasmie der Frau“. Aus eigener ärztlicher Praxis brachte sie 1000 Fallgeschichten bei, die II. Universitätsfrauenklinik Wien stellte der Autorin noch einmal 500 Krankengeschichten zur Verfügung. H. St.-A. verwarf sowohl vorverurteilende Begriffe („Frigidität“) als auch überkommene chauvinistische Vorstellungen über die weibliche Sexualität. In der Untersuchung konnte H. St.-A. nachweisen, dass der klitoridale Orgasmus nicht als Ausdruck von Anorgasmie gilt, sondern eine wesentliche Rolle für den weiblichen Orgasmus einnimmt.
Für das Glück der Frau war, nach Ansicht H. St.-A.s, neben ihr selbst auch eine ausgeglichene Beziehung zum Partner erforderlich.
Den Konstitutionslehren als diagnostisches Modell gestand sie allenfalls noch eine periphere Bedeutung zu. Damit nahm sie den Kollaps der entsprechenden Überlegungen einige Jahre später vorweg und auch in ihrer Deutung der Klitoris/Vagina-Problematik war sie den Psychoanalytikern und übrigen Frauenärzten um Jahre voraus. Zeittypisch lehnte sie psychotherapeutische Ansätze weitgehend ab und befürwortete stattdessen hormonelle Beeinflussungen des menschlichen Organismus. Um die zunehmend frauenfreundliche Entwicklung der angloamerikanischen und skandinavischen Frauenheilkunde in Österreich unter Ärzten bekannt zu machen, schrieb sie bis kurz vor ihrem Tod wohlwollende Rezensionen über entsprechende Bücher in der „Wiener medizinischen Wochenschrift“.
Eine größere Anerkennung in Fachkreisen oder seitens der Frauenbewegung blieb H. St.-A. sowohl zu Lebzeiten als auch nach ihrem Tode verwehrt. Für die zeitgenössischen Ärzte war sie zu modern, für die weibliche Emanzipationsbewegung stets zu wenig eindeutig „Frau“ und zu bürgerlich-unpolitisch. Kernaussage ihres Werkes war, dass die ärztlich geförderte weibliche Selbstfindung und der Weg zum sexuellen Glück möglich waren. Einer „sexuellen Revolution“ hätte sie wahrscheinlich verständnislos gegenüber gestanden.

Werke

Zitat

„Läßt sich also der Mensch als Ganzer nie in ein einziges Adjektivum einfangen und beleidigt ein einseitiges Urteil stets die Menschenwürde, so wird ein Urteil noch schwieriger und gefährlicher, wenn es ein Gebiet zwischen krank und gesund betritt. Und das ist das weite Land der Parasexualität so wie das ihm so nahe benachbarte der Psychopathie.“ (1955, 81)

Schriften
Zur Lehre von der Querschnittstopographie der Nerven an der oberen Extremität.  In: Zeitschrift für angewandte
Anatomie und Konstitutionslehre, hg. von Julius Tandler, Band I, 1914, S. 397-425.
Zur Lehre von der Querschnittstopographie der Nerven an der unteren Extremität. In: Ebda., Band III, 1918, S. 298-313.
Die sexuelle Aufklärung, Heft 26 der Bücherei der „Quelle“. Deutscher Verlag für Jugend und Volks, Wien, Leipzig, New York 1925 [1925a].
Das Geschlechtsleben des Weibes. Mit Beiträgen von Dr. Rudolf Allers. In: Allers, R. (Hg.): Hausbuch der Heilkunde, Teil II: Der Ablauf des normalen Lebens. Tagblatt-Bibliothek, Wien, 1925, S. 221-304 [1925b].
Erziehung zur Elternschaft. In: Die Bereitschaft.  Zeitschrift für Menschenökonomie,  Wohlfahrtspflege und soziale Technik, 10, 1930, Nr. 9, S. 139-140.
Kindesrecht und Elternpflicht. In: Die Frau und Mutter (vereinigt mit Die moderne Frau), 20, 1931, Heft 4, S. 15-16 [1931a].
Eheberatung und Beratung in der Ehe. In: Die Bereitschaft, 11, 1931, S. 33 [1931b].
Die sexuelle Aufklärung. In: Steiner, H. (Hg.): Sexualnot und Sexualreform. Verhandlungen der Weltliga für Sexualreform, IV. Kongress, abgehalten in Wien vom 16. bis 23. September 1930. Elbemühl Verlag, Wien, 1931, S. 630 [1931c].
Was soll der Laie vom Gebärmutterkrebs wissen? In: Mein Arzt. Volkstümliche Zeitschrift für Gesundheitspflege, Lebensführung und Kosmetik, 1931, Nr. 9, S. 134-135.
Diskussionsbeitrag auf der VI. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Volksgesundheit „Erziehung und Gesundheit“, 9. April 1932. In: Volksgesundheit. Zeitschrift für soziale Hygiene,  6, 1932,  Heft 6/7, S. 134-135 (gegen Prügelstrafe,  für Aufhebung des elterlichen Züchtigungsrechts).
Entpolitisierung der Jugend. In: Die Bereitschaft,  12, 1932, Nr. 4, S. 33-35.
Diskussion zum Thema „Moralische Abrüstung“ des 19. Weltfriedenskongress in Wien, 4.-9 September 1932. In: Le Mouvement Pacifiste. Organe du Bureau international de la Paix, 1932, Heft 7-8, S.191-193.
Genie und Weiblichkeit. In: Stimmen der Zeit,  64, 1933, Heft 2, 129-131.
Die Frau in den Wechseljahren. In: Volksgesundheit, Organ der Österr. Gesellschaft für Volksgesundheit, 8, 1934, Hefte 5-6, S.73-75.
Schieber zur Bestimmung der fruchtbaren und unfruchtbaren Tage. In: Karner, H.: Die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage der Frau. Allgemeinverständliche Darstellung der Lehre des Professor Knaus. Verlag Wilhelm Maudrich, Wien, 1935, Beilage.
Von Mutterschaft und Mütterlichkeit. In: Elternhaus und Schule, Jg. 1936/37, Heft 5, S. 104-107.
Ein Beitrag zur Mechanik des Traumes. In: Wiener Medizinische Wochenschrift,  Nr. 49, 1937, Sonderdruck, S. 1-7.
Zur Frage der sexuellen Konstitution. In: Zentralblatt für Gynäkologie, 66, 1942, S. 1005-1006.
Zur Therapie der Sterilität und des Vaginismus (Referat in der Wiener Geburtshilflich-gynäkologischen Gesellschaft). In. Zentralblatt für Gynäkologie, 67,  1943, S. 354-355.
Konstitution und Sexualität.  In. Wiener klinische Wochenschrift, 56, 1943,  Nr. 37/38, S. 556-564 .
Die Behandlung des Fluor vaginalis mit Dextrovagin. In: Therapie der Gegenwart, 1943, Heft 11/12 (Sonderdruck).
Hormonale Therapie des Vaginismus. In: Wiener Klinische Wochenschrift, 61, 1949, S. 502-505.
Die Psychologie des Klimakteriums. In: Soziale Berufe, 4, 1952, S. 65-67 [1952a].
Erwiderung zu K. Nordmeyers Arbeit: „Frigidität“. In: Zentralblatt für Gynäkologie, 74, 1952, S. 914-915.
Ovulation – Menstruation – Konzeption.  In. Soziale Berufe, 4,  1952, S. 52-56.
Die sexuelle Konstitution. In: Soziale Berufe, 4,  1952, S. 129-130 sowie S. 146-148.
Die Pubertät. In: Soziale Berufe, 5, 1953, S. 117-119, S. 139-141 [1953a].
Die kindliche Sexualität vom biopsychologischen Standpunkt. In Journal für medizinische Kosmetik, Jg. 1953, Heft 5 (Sonderdruck). S. 166-175.
Folgende Beiträge in dem Sammelwerk Ehe – Familie – Heim, hg. v. Heinrich Wallnöfer u. Heinz Scheibenpflug. Wien/München/Stuttgart 1954: Die gesunde Frau in der Ehe, S. 43-70; Die häufigsten Krankheiten und ihre Verhütung: Frauenleiden, S. 71-89; Dein Kind: Das Kind kommt, S. 251-265 [1954a].
SOS einer Kinderseele.  In: Die Presse, 28. 3. 1954,  S.7.
Behandlung des Vaginismus mit Retalon retard. In: Der praktische Arzt. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung, 8, 1954, Nr. 87, S. 470-473.
Das familiäre Milieu in Bezug auf Krankheit und Krankenpflege (Vortragszusammenfassung). In: Soziale Berufe, 6, 1954, S.77.
Sexuelle Konstitution. Psychopathie, Kriminalität, Genie. Verlag Wilhelm Maudrich, Wien, 1955. (=Wiener Beiträge zur Sexualforschung 1.)
Zur Frage der Frigidität. In: Wiener Medizinische Wochenschrift, 105, 1955, Nr 41, S. 838-840.
Evolution des Geistigen. In: Wiener Archiv für Psychologie, Psychiatrie und Neurologie, 6, 1956, S. 90-103.
Östrogen-Vaginaletten in der Fluortherapie. In: Der praktische Arzt, 10, 1956, S. 446-449.
Wahrnehmung und Wertung in einem Mikropsie-Traum. In: Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie, 8, 1958, S. 154-156.
Die Anorgasmie der Frau. Verlag Ferdinand Enke, Stuttgart, 1961, 2. Auflage 1962 (= Beiträge zur Sexualforschung 23).

Literatur / Quellen

Denk, W.: Nachruf für Helene Stourzh-Anderle. In: Wiener Klinische Wochenschrift , 78, 1966, S. 202.
Mildenberger, F.: Allein unter Männern. Helene Stourzh-Anderle in ihrer Zeit (1890-1966). Centaurus, Pfaffenweiler, 2004.
Mildenberger, F.: Helene Stourzh-Anderle (1890-1966). In: Sigusch, V. / Grau, G. (Hg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Campus, Frankfurt/M., 2009, S. 687-688.
Mildenberger, F.: Im Zerrspiegel von Eugenik, Emanzipation und Sexualwissenschaft: Helene Stourzh-Anderle (1890-1966). In: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, 10, 2011, S. 75-84.
Stourzh, G.: Stourzh (Stourzh-Anderle), Helene. In: Österreichisch Biographisches Lexikon ab 1815 (2. überarb. Auflage), ÖBL Online-Edition, Lfg. 3 (15.11.2014), Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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