Mirtow, Paula von
* 19.4.1897, Strakonitz /Strakonice † 1970, London
Botanikerin, Gartenarchitektin, Pädagogin, Schulleiterin und Publizistin
Geboren am 19.4.1897 als Paula Fürth in Strakonitz/Strakonice, Südböhmen; † 1970, London. 1915-20 Studium der Naturwissenschaften an der Universität Wien. 1917-18 Praktikum an der Höheren Gartenbaulehranstalt Berlin-Dahlem. 1925 Gründung einer Gärtnerei und der Döblinger Gartenbauschule. 5.3.1937 Verehelichung mit Serge von Mirtow (1886-1940), Schriftsteller. Juli 1939 Emigration nach London. 1946 Besuch des Wistow Training Centres for Post War Christian Service. Publikation und Übersetzung theologischer Schriften.
P. M.s Leben und berufliche Arbeit erfuhren durch die Emigration, zu der sie 1939 als Jüdin gezwungen war, eine massive Zäsur. In Wien als Botanikerin ausgebildet, widmete sie sich hier ganz dem Gartenbau und der Gartenarchitektur. Der bisher bekannte Werkumfang ist – aufgrund schlechter Quellenlage und einem fehlenden Nachlass – schmal; M.s Netzwerk und ihr berufliches Engagement lassen jedoch darauf schließen, dass sie weitaus mehr Gärten schuf, als die Nachweise in historischen Fachzeitschriften dies vermuten lassen. Im britischen Exil konvertierte M. zum Protestantismus und beschäftigte sich mit theologischen Themen.
P. M. wurde am 19. April 1897 als jüngstes von vier Kindern des Ehepaars Adolf Fürth (1854-nach 1929) und Helene geb. Dub (1871-1920) in Strakonitz, Südböhmen, geboren. Der weitverzweigten jüdischen Familie gehörten zahlreiche Unternehmer, Wissenschaftler und Ärzte an. Angehörige ihres Vaters Adolf Fürth betrieben in Strakonitz eine Fes-Fabrik, die bis 1925 in das Osmanische Reich exportierte. Anfang der 1900er-Jahre übersiedelte die Familie Fürth nach Wien, wo Adolf Fürth Realitätenbesitzer wurde. Im Kindesalter erkrankte P. M. an Kinderlähmung, infolgedessen sie ihr Leben lang hinkte. Die wohlhabende Familie war über Minna Bernays, die von 1892 bis 1896 als Gesellschafterin bei P. M.s Großmutter Emma Dub geb. Schwab gearbeitet hatte, eng mit der Familie von Martha und Sigmund Freud befreundet (Mirtow o.J., S. 1; 4). P. M.s Freundschaft zur eineinhalb Jahre älteren Anna Freud reichte bis ins britische Exil.
P. M. legte 1915 als Externe die Reifeprüfung am Akademischen Gymnasium in Wien ab und inskribierte anschließend an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität, wo sie bis 1920 naturwissenschaftliche Vorlesungen besuchte. Während ihres Studiums absolvierte sie 1917-18 ein Praktikum an der Höheren Gartenbaulehranstalt Dahlem in Berlin, zu jener Zeit eine der renommiertesten Lehranstalten für Gartenbau und Gartenarchitektur in Mitteleuropa. Ihr Botanik-Studium an der Universität Wien beschloss P. M. mit einer Arbeit „Zur Biologie und Mikrochemie einiger Pirola-Arten“, die sie am Pflanzenphysiologischen Institut unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Molisch, 1909-28 Professor für Anatomie und Physiologie der Pflanzen an der Universität Wien, durchführte. Im Labor und in Feldversuchen am Semmering, im Leithagebirge und im Wiener Wald untersuchte P. M. vier Pyrola-Arten, P. minor, P. chlorantha, P. secunda (Orthilia secunda) und P. uniflora (Moneses uniflora), auf Anatomie, Keimverhalten und die Symbiose mit Mykorrhizapilzen. Am 12.2.1921 wurde sie schließlich in Naturwissenschaften promoviert. Ihre botanischen Kenntnisse nutzte P. M. auf den gemeinsamen Sommerurlauben der Familien Fürth und Freud. Sie erinnerte sich später gerne an den Sommer 1923 in Lavarone im Trient, wo sie auf Spaziergängen mit Sigmund und Anna Freud Alpenpflanzen bestimmte (Mirtow o.J., S. 6-7). Sigmund Freud vertraute ihr aufgrund ihrer botanischen Kenntnisse auch Pflanzen zur Pflege an, die er von seinen Patienten geschenkt bekommen hatte.
Nach ihrem akademischen Abschluss beschloss P. M., sich mit einem Gewerbebetrieb selbständig zu machen, und eröffnete 1925 auf dem ausgedehnten Grundstück des Elternhauses in der Döblinger Hauptstraße 60 eine Gärtnerei und – wahrscheinlich zeitgleich – die Döblinger Gartenbauschule. Wie Yella Hertzka mit der Höheren Gartenbauschule für Frauen (gegründet 1913) und Grete Salzer mit dem Hortensium Gartenbauschule für Mädchen und Knaben (gegründet um 1922), beide in Wien, leistete P. M. damit einen wesentlichen Beitrag zur Frauenbildung und Emanzipation. So ermöglichte die zweijährige Fachschule Frauen eine Lehre im Gartenbau, dessen Arbeitsmarkt ihnen damals nur sehr eingeschränkt zugänglich war, zu absolvieren. Ein Lehrabschluss wiederum war Voraussetzung für den Besuch einer höheren Gartenbauschule. Zwischen 1929 und 1932 besuchten rund neun bis 14 Schülerinnen jährlich die Schule (Österreichischer Gartenkalender 1927-32). Darüber hinaus richtete P. M. an der Schule Nachmittagskurse ein, in denen Gartenbauschülerinnen Kindern einfache gärtnerische Arbeiten und somit den Bezug zur Natur vermittelten. Einträge in mehreren Verzeichnissen lassen darauf schließen, dass sich P. M. – bis ins britische Exil – als Pädagogin verstand.
Neben der Schule und der Gärtnerei führte P. M. ein Blumengeschäft und entwarf eine –aufgrund unzureichender Quellenlage – nicht näher bekannte Anzahl an Privatgärten im Wohngartenstil der 1920er- und 1930er-Jahre. Sie setzte sich in einigen Fachartikeln auch theoretisch mit zeitgenössischer Gartengestaltung auseinander und definierte deren Gestaltungsprinzipien: „Der moderne Garten entspricht dem modernen Hause: Zweckmäßigkeit, Wohnlichkeit, Einfachheit und Instandhaltung sind seine obersten Gesetze“ (Fürth 1932, S. 29). Den letzten Artikel veröffentlichte sie im September 1938, als ihr als Jüdin bereits jegliche berufliche Tätigkeit untersagt war, in der monatlich erscheinenden Fachzeitschrift „Gartenschönheit“ über eine Gartengestaltung des renommierten Wiener Gartenarchitekten Albert Esch. P. M. engagierte sich ab dem Zeitpunkt ihrer Selbstständigkeit auch in Berufsorganisationen. So trat sie 1925 der Landesgruppe Österreich der DGfG Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst bei. 1926, als sich der 1920 gegründete Absolventinnenverband Verein der Grinzinger Gärtnerinnen für alle in Österreich tätigen Gärtnerinnen öffnete, wurde P. M. dessen Vorsitzende Stellvertreterin. Unter dem neuen Namen Verein der Gärtnerinnen Österreichs verfolgte die Organisation weiterhin die Ziele, die fachliche Fortbildung von Gärtnerinnen zu fördern und deren wirtschaftliche Interessen zu vertreten. P. M.s berufliches Engagement und ihre Kontakte reichten aber weit über den Gartenbau und die Gartenarchitektur hinaus auch in fachverwandte Disziplinen wie Architektur und bildende Kunst. Dazu zählten regelmäßige Ausstellungsbeteiligungen. 1930, auf der großen Werkbund-Ausstellung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie übernahm P. M. die Innenausstattung eines Muster-Blumenladens, den der Architekt Fritz Rosenbaum entworfen hatte (Rosenbaum 1930, S. 260-261). Im selben Jahr stellte sie auf der Ausstellung „Wie sieht die Frau“ der Wiener Frauenkunst in der Neuen Hofburg gemeinsam mit Liane Zimbler einen kleinen Innenraumgarten aus. Die jüdische Architektin Zimbler war die zentrale Figur der Wiener Frauenkunst, eines informellen Netzwerks von Kunstgewerblerinnen, Künstlerinnen und Designerinnen, das 1926 als linksliberale Abspaltung der VBKÖ Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs gegründet worden war (Plakolm-Forsthuber 1995, S. 295-309). 1931 gestaltete P. M. mit dem Architekten Otto Prutscher, Professor an der Wiener Kunstgewerbeschule und 1922-41 Mitglied der Gesellschaft Bildender Künstler Österreichs, einen Hofgarten auf der Ausstellung „Blume und Plastik“ im Wiener Künstlerhaus.
Aus der Zeit des Austrofaschismus sind bisher weder Ausstellungsbeiträge noch Gartenentwürfe bekannt. P. M. heiratete Anfang März 1937 mit knapp 40 Jahren Serge von Mirtow, einen am 27.2.1886 in Simbirsk (heute Uljanowsk) an der Wolga geborenen Schriftsteller. Beide wohnten nach der Heirat in P. M.s Elternhaus in der Döblinger Hauptstraße 60, wo sie auch ihren Betrieb führte. Die Ehe blieb kinderlos. Ihre Gärtnerei war laut der „Vermögensanmeldung“ vom 27.4.1938 verpachtet. P. M. emigrierte im Juli 1939, vier Tage vor ihrem Ehemann, nach Großbritannien. Im September 1939 gab sie in einem Kondolenzschreiben an Anna Freud das Dorset House in Clifton als Anschrift an. Das Dorset House, die erste ergotherapeutische Ausbildungsstätte in Großbritannien, war auf Initiative der britischen Ärztin Dr. Elizabeth Casson Anfang 1930 in einem Pflegeheim für neurotische und psychotische Beschwerden in Bristol gegründet worden. Die 1939 eröffnete ergotherapeutische Abteilung am Bristol General Hospital bot neben traditionellen ergotherapeutischen Therapien u. a. auch Gartenarbeit an (Dorset House o. J., o. S.). Serge von Mirtow beging Anfang 1940 im Alter von 54 Jahren in Bristol Selbstmord.
Die gewaltsame Vertreibung, der Verlust ihrer beruflichen Netzwerke und fehlende ökonomische Grundlagen dürften dazu beigetragen haben, dass sich P. M. im britischen Exil für einen Berufswechsel entschied. Zudem interessierte sie sich vermehrt für Theologie, insbesondere für interreligiöse Aspekte des Alten Testaments. Zum Protestantismus konvertiert, absolvierte sie im Jänner 1946 die zweite Prüfung zur Pfarrgehilfin am Wistow Training Centre for Post War Christian Service (Röhm 2004, S. 583), einer evangelisch-theologischen Ausbildungsstätte für deutschsprachige, „rassisch“ verfolgte Emigrantinnen und Emigranten, die der 1939 aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland emigrierte evangelische Pfarrer Carl Gunther Schweitzer 1943 gegründet hatte. Ebenfalls 1946 veröffentlichte P. M. in der von Alec R. Vidler herausgegebenen Monatszeitschrift ”Theology“ den Artikel ”The Glory of Christ in the Fourth Gospel“. Im November 1949 wurde P. M. britische Staatsbürgerin. Sie publizierte 1957 die kurze theologische Schrift ”Jesus and the Religion of the Old Testament“, die den Wurzeln des Christentums im Alten Testament nachging und als Diskussionsgrundlage für Leserunden angelegt war. Anfang der 1960er-Jahre übersetzte P. M. zwei theologische Bücher von Charles Davey bzw. Ronald Arbuthnott Knox aus dem Englischen ins Deutsche. Zu dieser Zeit lebte sie bereits in London, wo sie 1970 im Alter von 73 Jahren verstarb.
Werke
Schriften
Garten Olga und Heinrich Gans, Wien, 1929.
Garten Langer, Wien, 1929.
Innenraumgarten auf der Ausstellung der Wiener Frauenkunst „Wie sieht die Frau“. Gem. mit Liane Zimbler, Wien, 1930.
Blumenpavillon auf der Werkbundausstellung. Gem. mit Fritz Rosenbaum, Wien, 1930.
Laubengarten auf der Ausstellung „Blume und Plastik“. Gem. mit Otto Prutscher, Wien, 1931.
Zur Biologie und Mikrochemie einiger Pirola-Arten. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Abteilung I, Bd. CXXIX, 1920, S. 560-587.
Der moderne Garten. In: Architektur und Bautechnik 17. Jg., 5/1930, S. 78-80.
Wiener Gartenbauschulen. In: Die Bühne 7. Jg., 284/1930, S. 26-28.
Gärtnerinnen sprechen über ihre Gärten. In: Österreichische Kunst 3. Jg., 7/1932, S. 28-29.
Ein Wohngarten. In: Gartenzeitung der Österreichischen Gartenbau-Gesellschaft 13. Jg., 9/1937, S. 101-103.
Der Kriegerfriedhof in Arnbach, Osttirol. In: Gartenzeitung der Österreichischen Gartenbau-Gesellschaft 13. Jg., 11/1937, S. 129-131.
Stein und Beton als Gartenwerkstoffe. In: Innendekoration 48. Jg., 5/1937, S. 176-182.
Die Pflanze im Gefäß. In: Gartenzeitung der Österreichischen Gartenbau-Gesellschaft 14. Jg., 3/1938, S. 33-35.
Wohnecke im Hausgarten. In: Gartenschönheit 19. Jg., 9/1938, S. 340.
The Glory of Christ in the Fourth Gospel. In: Theology 49. Jg., 317/1946, S. 336-340 und 318/1946, S. 359-365.
Jesus and the Religion of the Old Testament. S.P.C.K., London, 1957.
Übersetzungen
Davey, Ch.: Klage um den Sieg: Die Geschichte König Davids wie sie sein Hoherpriester Abjathar erzählte. Übersetzung P. v. Mirtow. Lucas Cranach Verlag, München, 1961 (engl. Lament for victory. SCM Press, London, 1959).
Knox, R. A.: Innere Erneuerung. Übersetzung P. v. Mirtow. Räber, Luzern, 1963 (engl. The Layman and his conscience. Sheed & Ward, New York, 1961).
Literatur / Quellen
Literatur
Fürth, P.: Gärtnerinnen sprechen über ihre Gärten. In: Österreichische Kunst 3. Jg., 7/1932, S. 29.
Krippner, U. / Meder, I.: Ein herrliches Selbstbewusstsein – Wiener jüdische Gartenarchitektinnen im frühen 20. Jahrhundert. In: Die Gartenkunst, 22. Jg., 2/2010, S. 247 – 264.
Plakolm-Forsthuber, S.: Ein Leben, zwei Karrieren. Die Architektin Liane Zimbler. In: Boeckl, M. (Hg.): Visionäre und Vertriebene. Ausstellungskatalog Kunsthalle Wien, Wien, 1995, S. 295 – 309.
Röhm, E. / Thierfelder, J.: Juden, Christen, Deutsche, Bd. 4/1: 1941 – 1945. Vernichtet. Calwer Taschenbibliothek, Stuttgart, 2004.
Rosenbaum, F.: Der Blumenpavillon in der Ausstellung des Österreichischen Werkbundes 1930. In: Architektur und Bautechnik 17. Jg., 1930, S. 260 – 261.
Dorset House, Oxford Brookes University, www.brookes.ac.uk/library/speccoll/dorset/dorsethist1.html (20.10.2010).
Quellen
Fürth, Paula: Lebenslauf, Rigorosenakt im Archiv der Wiener Universität, Wien, o. J. [1920].
Mirtow, Paula von: Brief an Anna Freud vom 25.9.1939, Freud Museum London.
Mirtow, Paula von: Reminiscences of Paula v. Mirtow, Interview mit Kurt R. Eissler. Sigmund Freud Collection, The Library of Congress, Washington, D.C., o. J. [wahrscheinlich 1950er-Jahre].
Für wertvolle Hinweise und Auskünfte zur Familie Fürth danke ich Kate Teltscher, Stephan Templ und Thomas Ulrich.