Kollisch, Eva
Gest. 10.10.2023
Literaturwissenschafterin und Schriftstellerin
E. K. wird am 17. August 1925 in Wien als zweites Kind einer wohlhabenden Familie jüdischen Glaubens geboren. Ihre Mutter ist die am 9.12.1893 in Wien geborene Schriftstellerin Margarete Kollisch (Geburtsname Moller), die nach ihrer Matura im Jahre 1911 Germanistik und Anglistik studierte, ihre Prüfung für das Lehramt an Mittelschulen 1917 ablegte und während des 1. Weltkriegs als Hilfskrankenpflegerin im Verwundetenspital der k. k. Universität Wien arbeitete. Nach dem Krieg betätigte sie sich als Übersetzerin für die französische Legation in Wien und heiratete 1923 den am 20.8.1881 in Wien geborenen Architekten und Stadtbaumeister Otto Kollisch, der sein Studium der Architektur an der Technischen Hochschule Wien mit der zweiten Staatsprüfung 1907 absolvierte, einige Wohnhäuser für die Gemeinde Wien entwarf und von 1920 bis 1937 als Geschäftsführer einer Gesellschaft für Bau- und Industriebedarf in Wien tätig war. In den Jahren 1924 und 1928 werden die Söhne Stephan und Peter geboren. Während der Kindheit und Schulzeit in Baden bei Wien ist E. K. antisemitischen Anfeindungen und Demütigungen ausgesetzt und erfährt sich als Außenseiterin. Ihre beiden Brüder und sie leiden von Beginn an mehr unter der Diskriminierung als ihre Eltern: „Erwachsene schaffen ihre Welt, Kinder finden sie vor“, schreibt sie in ihren Lebenserinnerungen Der Boden unter meinen Füßen. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das sich unter nationalsozialistischer Herrschaft befindende Deutsche Reich am 13. März 1938 sehen ihre Eltern die Flucht als einzige Überlebenschance. Dank eines Affidavits eines Verwandten gelangen Otto Kollisch im August und seine Frau im Oktober 1939 in die USA, während die Kinder mit einem Kindertransport im Juli 1939 nach England entkommen. Im April 1940 erfolgt das Zusammentreffen in den USA und New York wird ständiger Wohnsitz. Während E. K.s Mutter zuerst bei einem Antiquar, dann nach dem Erwerb einer Lizenz für Heilmassage 25 Jahre lang als Physiotherapeutin arbeitet, französischen und deutschen Sprachunterricht gibt und 1960 ihren ersten Gedichtband Wege und Einkehr erscheinen lässt, dem zehn Jahre später die Gedichtsammlung Unverlorene Zeit und nach ihrem Tod am 11.10.1979 die Versdichtung Rückblendung folgten, verdingt sich ihr Vater als Bürstenvertreter. In New York fühlt sich E. K. als Flüchtlingskind diskriminiert und als „Außenseiterin anderer Art”. Ihre Mitschüler machen „einen oberflächlichen Eindruck” auf sie und reden, wie ihrem autobiographischen Roman zu entnehmen ist, „in vorgefertigten Phrasen”. Zu den Gesprächen der „altmodischen Flüchtlingskreise”, in denen ihre Eltern verkehren, empfindet sie keinen Zugang. In ihrer Entwurzelung, dem Gefühl der Heimatlosigkeit und der Einsamkeit schließt sich E. K. 1941 der Sektion der Workers Party, einer trotzkistischen Gruppe, an und heiratet den Parteiaktivisten, Autor und Herausgeber des Dissent Magazines Stanley Plastrik (1915-1981). Vorübergehend entfremdet sie sich ihrer Familie, arbeitet in Fabriken, durchschaut aber im Lauf der Zeit die hierarchischen und patriarchalischen Strukturen der Partei und die alles bestimmende und lenkende Gruppendisziplin. Als überzeugte Individualistin verlässt sie nach vier Jahren die Partei. 1950 eröffnet sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem Maler und Photographen Gert Berliner (*1924), dem Maler David Grossblatt (1920-1981) und anderen “one of the city’s first coffee houses, the Cafe Rienzi on Macdougal Street” in Greenwich Village. Das Café war ein Mekka der New Yorker Bohème. Ein Jahr später verstirbt ihr Vater und 1956 kommt ihr Sohn Uri zur Welt. “In the early sixties, I went back to graduate school for an advanced degree. I was divorced, had a child to support, and needed a respectable profession. I was about to enroll in English literature at Columbia University when I received a message from the chairman of the Brooklyn College German Department … In essence the message was: if I did my graduate work in German, I could have a job right away”. E. K. belegt Deutschkurse, in denen Autoren wie Lessing, Kleist, Heine, Brecht und Th. Mann behandelt wurden, und schreibt 1962 an der Columbia University ihren Master-Essay über „Michael Kohlhaas: Analysis of a rebel“. Ihren Ph.D. in Vergleichender Literaturwissenschaft erlangt sie an der New York University 1963 über mündliche Prüfungen ohne Dissertation. Zur gleichen Zeit unterrichtet sie bereits am Sarah Lawrence College in New York noch ohne Ph.D., denn „das Wichtigste war, dass man mit Leidenschaft unterrichtete, von den Studenten respektiert wurde und auch etwas von der <großen Welt> (Politik, Kunst, soziale Probleme) vermitteln konnte.“ Mit Beginn des Jahres 1964 wird sie fest angestellt und drei Jahre später erhält sie die „tenure”, die Anstellung auf Lebenszeit. Am Anfang ihrer Lehrtätigkeit steht das Thema „The city as metaphor in literature“, dem Kurse über Balzac, Blake, Dickens, Dostojewski, Goethe und Kafka folgen. Mit ihren fortgeschrittenen Deutschstudentinnen liest sie Texte von Thomas Mann, vor allem die Kurzgeschichte Tonio Kröger. Thema ist das Motiv und die Figur eines sensiblen Außenseiters. Anhand der Figur des Hans Castorp im Zauberberg geht sie der Frage der sexuellen Ambivalenz und im Tod in Venedig der der sexuellen Identität nach. Gemeinsam mit Gerda Lerner und Joan Kelly-Gadol entwickelt sie einen Lehrplan für Frauenforschung. Präsentiert wird er im Oktober 1972 unter dem Titel Women: Myth and Reality; im Department of Literature trägt E. K. die Verantwortung für den Kurs Love, Marriage and Autonomy in the Novel, von Jane Austen zu Virginia Woolf. Das Sarah Lawrence College war das erste College in den USA, das Frauenstudiengänge anbot und Graduierungsmöglichkeiten entwickelte, um den Master in „Weiblicher Geschichte“ zu erreichen. 1977 wird das Sarah Lawrence College in einem Artikel der New York Times von einer Studentin als Ort „full of unhappy lesbianism“ denunziert und E. K. in ihrer Eigenschaft als „the head oft he teaching faculty“ und „the director of the Center for Continuing Education“ persönlich als lesbisch angegriffen und dämonisiert. Ende der 70iger, Anfang der 80iger, in einer Zeit der Homophobie, ist sie im Lehrkörper weitgehend isoliert: „I was never elected to committees anymore and no longer even tried to run for a committee.” Mitte der 80iger Jahre ändert sich die Atmosphäre am College, gegenüber Randgruppen wird ein Mehr an Sensibilität an den Tag gelegt. Bis zu ihrer Emeritierung 1993 wendet sie sich in Kursen den Black und Jewish Studies zu. Neben ihrer Arbeit am College engagiert sich E. K. in Friedens- und Frauenbewegungen. Sie setzt sich für die Rechte von homosexuellen Frauen und Männern ein, wirkt bei der Bewegung ”One by One” mit, die den Dialog zwischen Nachkommen der Täter und Opfer der NS-Zeit unter dem Motto „Nicht das Wegsehen, sondern das Hinsehen macht die Seele frei” fördert, und unterstützt eine noch junge politische feministische Antikriegsorganisation, Code Pink genannt. Im Jahr 2000 lässt sie ihren autobiografischen Roman Girl in Movement erscheinen. Darin berichtet sie über ihre Jugend und ihr politisches Engagement im New York der 1940iger Jahre. Als Fortsetzung verstehen sich ihre „autobiographical stories and essays” unter dem Titel The Ground Under My Feet, in denen sie über ihre Erfahrung von Antisemitismus, Ausgrenzung, Flucht und Exil schreibt. Aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der Theodor Kramer Gesellschaft nimmt sie im September 2009 an dem internationalen Symposium Subjekt des Erinnerns? in Wien teil. 2012 erhält sie den Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil. E. K. lebt in New York, verheiratet seit 2010 mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin Naomi Replansky, einer bekannten Lyrikerin: „Over the years I have learned that Naomi lives with poems as if they are old friends.”
Werke
Girl in Movement: a memoir, VT 05074, Thetford 2000; Mädchen in Bewegung, Wien, 2003.
The Ground Under My Feet, Maplewood, NJ 2007; Der Boden unter meinen Füßen, Wien, 2010.
Literatur / Quellen
Voices of Feminism Oral History Project, Sophie Smith Collection, Smith College Northampton MA, Eva Kollisch interviewed by Kate Weigand, 16./17.02.2004 New York.
Puschak, Ch.: Eine Begegnung mit Eva Kollisch, Neuer Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung e. V., Nr. 34, Dezember 2009.
Puschak, Ch.: Fremd im „Vaterland“, junge Welt (jW) 13.8.2010.
Puschak, Ch.: Immer in Bewegung, Feminismus – Beilage der jW, 3.3.2010.
Puschak, Ch.: „Man braucht Boden unter den Füßen“, Interview mit Eva Kollisch, Feminismus – Beilage der jW, 03.03.2010.
Trotzki und Eistee, Eva Kollisch schreibt über die Zeit ihrer Jugend, Aufbau, No. 3, 1. February 2001.
Der Zauberberg: die beste College Education, Aufbau, No. 12, 15. June 2000.
Korrespondenz mit Eva Kollisch