Berger Hanna; Tänzerin, Choreografin und Pädagogin
Geb. Wien, 23.8.1910
Gest. Ost-Berlin (Deutschland), 15.1.1962
Hanna (eig. Johanna Elisabeth) Berger war eine den zeitgenössischen Strömungen des europäischen modernen Tanzes in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. verpflichtete Tänzerin, Choreografin, Pädagogin, Regisseurin, Theaterleiterin, Autorin und Nazigegnerin. Geboren am 23. August 1910 (römisch-katholisch getauft), aufgewachsen im Arbeiter-Bezirk Meidling, nimmt sie ab ihrem 14. Lj. Klavierunterricht. 1927/28 wird sie Mitglied der Kommunistischen Partei. Von 1929 bis 1934 studiert sie in Berlin Tanz bei Jonny Ahemm, Vera Skoronel, Gertrud Wienecke und bei Mary Wigman in Dresden. In dieser Zeit beginnt ihre Beziehung zum kommunistisch engagierten, deutschen Bildhauer Fritz Cremer, die bis 1950 dauert.
Engagements als Tänzerin führen B. u. a. 1935 in das Tournee-Ensemble von Mary Wigman und jenes von Trudi Schoop (USA-Tournee). B. aber will Eigenes schaffen. Ihre Kenntnisse des Modernen Tanzes ergänzt sie an den „Deutschen Meisterstätten für Tanz“ in Berlin. Am 11. Oktober 1937 debütiert B. als Choreografin und Tänzerin eines elfteiligen Solo-Abends im Berliner Bach-Saal. Die zeitkritische Gestaltung ihres Solos „Krieger“ zwingt die Tänzerin zur Flucht aus NS-Deutschland. Kritik an der faschistischen Diktatur hatte sie bis dahin nur unter Pseudonym in der Schweizer Zeitschrift „Der Bühnenkünstler“ (1936) geübt. Auch nach Kriegsende wird B. publizistisch als Tanzkritikerin aber auch als Autorin von Tanzlibretti und Filmdrehbüchern hervortreten. Ihr Wien-Debüt gibt B. am 1. Dezember 1937 im Großen Saal der Urania. Viktor Matejka, der ihr immer wieder behilfliche, spätere Wiener KPÖ-Stadtrat für Kultur und Volksbildung schreibt u. a. über das Debüt: „Bert Brecht trotzte aus ihren tänzerischen Figuren, das Bleibende vom zeitbewusstem Expressionismus wurde offenbar, der Zeigefinger ging in Richtung höchster politischer Gefahr.“
Nach umfangreicher Tätigkeit in Italien, das viele Jahre lang abschnittweise Lebens- und Arbeitsort sein wird, u. a. nimmt der Tanz-Zyklus „Italienische Reise“ Gestalt an, wird B. mit Cremer in Berlin im kommunistischen Widerstand der Schulze-Boysen-Gruppe aktiv. Nach Auftritten u. a. im Schillertheater wird die Tänzerin in Posen im Herbst 1942 wegen „Verdachts der Vorbereitung zum Hochverrat“ verhaftet. B. wird die „Ermöglichung staatsfeindlicher kommunistischer Zusammenkünfte in ihrer Wohnung“ angelastet. Aus Mangel an Beweisen wird B. nach mehrmonatiger Haft am 22. August 1943 vor dem Volksgerichtshof in Berlin frei gesprochen. Zweijährige Lager-Zwangsarbeit aber soll sie dennoch verrichten, der Auslieferung entkommt sie während eines Bombardements in Berlin in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1943. Tage später gelingt es ihr, trotz Verwundung legal nach Wien zu gelangen.
Die Zeit vom Kriegsende bis 1952 ist fruchtbar: H. B. tritt viel auf, schreibt, lehrt das Fach Moderne Tanzform an der Akademie für Musik und darstellende Kunst und leitet bis 1950 das als private Initiative von ihr gegründete, antiautoritäre „Wiener Kindertheater“, aus dem später bekannt gewordene KünstlerInnen wie u. a. Christine Ostermayer, Klaus Löwitsch und Gerhard Senft hervorgehen. Das Tanzen der Soli „Solidarität“ (Eisler/Brecht) und „Kampfruf“ gehörte zu B.s festem Programm. Sie ist in dieser Zeit eine bekannte Größe.
Die Gründung der DDR lockt die idealistische Alt-Kommunistin H. B. zu vielfältigen Aktivitäten. Sie überlegt, in die DDR zu übersiedeln. Ein Triumph gelingt ihr 1956 mit der Bewegungsregie für die Janacek-Oper „Das schlaue Füchslein“, die der Leiter der Komischen Oper in Ost-Berlin, Walter Felsenstein, inszeniert. Bemühungen, unter Felsenstein als Leiterin eines Tanztheaters fest bestellt zu werden, scheitern. B. wird bis zu ihrem frühen Tod eine zwischen Wien, Paris, Italien und der DDR sowie weiteren sozialistischen Ländern vazierende Künstlerin bleiben, die keine feste Heimat findet. Ihr Hauptwohnsitz bleibt Wien. Dort gilt ihre kommunistische Überzeugung als Hindernis für die große Karriere. In der DDR kann sie ihre künstlerische Persönlichkeit nicht ausleben, u. a. weil sie zu wenig dogmatisch ist.
Nach Fritz Cremer wird der Wiener Komponist Paul Kont ihre zweite große Liebe. Mit ihm gründet sie 1954 die Wiener Kammertanzgruppe. Er schreibt Musik u. a. für drei Tanzstücke, die B. 1956 („Getanzte Annoncen“ nach Schoop) und 1958 ( „Die traurigen Jäger“, „Amores Pastorales“) im Auftrag des Österreichischen Fernsehens in Szene setzt und choreografiert. Durch das Studium des Fachs Film-Gestaltung an der Wiener Musik-Akademie von 1955 bis 1957 hofft B. bis zuletzt auf eine neue Karriere als Filmemacherin. Der Förderpreis der Stadt Wien 1959 kommt spät, ermöglicht aber B. ein Studium bei Marcel Marceau in Paris. Als erste seiner SchülerInnen erwirbt sie ein Pädagogisches Diplom.
Bereits an Krebs erkrankt, erfährt B., dass die DEFA ihre erste große eigene Film-Regie, ein „Dornröschen“, doch nicht umsetzen wird. Nach der zweiten Operation eines Gehirntumors stirbt H. B. am 15. Jänner 1962 im Ost-Berliner Charité-Krankenhaus. Sie ist in einem von der Stadt Wien seit 2006 ehrenhalber betreuten Grab in Wien-Meidling begraben. Die Wiederentdeckung der zeitfühligen und visionären Frau, u. a. schlug sie die Gründung einer Tanzbühne und eines Tanzfilmmuseums vor, beginnt in Wien 1995 mit der Neueinstudierung des Solos „Die Unbekannte aus der Seine“.
Das Copyright an den Tänzen von H. B. „Die Unbekannte aus der Seine“, „Mimose“ sowie „Reiterin“ liegt bei Ottilie Mitterhuber und Andrea Amort.
L.: Amort 2010 (beinhaltet auch eine ausführliche Chronik sowie Literaturhinweise und Quellen)
Andrea Amort