Wittgenstein Hermine (Mining, Minka); Malerin, Chronistin und Jugendfürsorgerin
Geb. Teplitz, Böhmen (Teplice, Tschechien), 1.12.1874
Gest. Wien, 11.2.1950
Der Vater Karl Wittgenstein (1847-1913) galt als Stahl- und Kohlemagnat als einer der bedeutendsten Industriellen der späten Donaumonarchie. Die Mutter Leopoldine Kallmus (1850-1926) stammte aus einer Wiener Kaufmannsfamilie. Obwohl schon in der zweiten Generation getauft, waren beide Eltern überwiegend jüdischer Herkunft und u. a. mit den Familien Figdor und Joachim verwandt. Die jüngsten Brüder Hermine Wittgensteins schrieben Geschichte: Paul (1887-1961), der im 1. Weltkrieg seine rechte Hand verloren hatte, wurde als „einarmiger Pianist“ berühmt, Ludwig (1889-1951) gilt als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.
H. W. wurde am 1. Dezember 1874 als ältestes von acht Kindern des Ehepaares Karl und Leopoldine Wittgenstein in Teplitz in Böhmen geboren, da ihr Vater zu diesem Zeitpunkt vorübergehend am dortigen Walzwerk arbeitete. Schon bald nach ihrer Geburt übersiedelte die Familie nach Wien. Als Älteste vertrat sie bei den jüngeren Geschwistern zunehmend die Stelle der kränkelnden Mutter, in besonderen Maß an den beiden jüngsten Brüdern Paul und Ludwig. Eine starke emotionale Bindung hatte sie auch zu ihrem Vater, dessen fulminanten Aufstieg sie in ihrer Kindheit miterlebte. Ausgebildet bei den Malern Franz König und Franz Hohenberger (beide Gründungsmitglieder der Wiener Secession) war H. W. auch eine begabte Malerin (insbesondere auf dem Gebiet der Pastelltechnik). Ihre Interieurstudien und Familienporträts sind heute wichtige Zeugnisse der Wittgenstein-Forschung. Auf Grund ihres Fachverständnisses beriet sie auch ihren Vater, der unter anderem einer der bedeutendsten Förderer der Wiener Secession war, bei seinen Kunstankäufen. In seinen letzten Lebensjahren schrieb sie auch nach seinem Diktat dessen Autobiographie nieder.
Zeit ihres Lebens unverheiratet übernahm sie nach dem Tod des Vaters 1913 die Verwaltung des Familienbesitzes. In großem Maße selbst an philosophischen Fragen interessiert, nahm sie Anteil an familiären Diskussionsrunden, denen neben ihren beiden Brüdern Paul und Ludwig auch der Architekt Paul Engelmann angehörte. Ihre erst kürzlich entdeckte skizzenhafte Niederschrift dieses Gedankenaustausches ist eine wichtige Ergänzung zum Denkgebäude Wittgensteins. Darüber hinaus engagierte sie sich insbesondere in der Jugendfürsorge. Das von ihr seit den zwanziger Jahren betriebene Jugendheim in Grinzing wurde jedoch nach dem „Anschluss“ 1938 geschlossen. In der NS- Zeit als „Mischling 1. Grades“ eingestuft, lebte sie zurückgezogen im Wiener Palais Wittgenstein und in Gmunden auf dem Ansitz ihrer Schwester Margaret Stonborough. In dieser Zeit schrieb sie die „Erinnerungen“ nieder, die als Familienchronik gedacht, heute eine wichtige Quelle für die Forschung sind. 1950 erlag sie einem Krebsleiden.
Weitere Kontakte: Neben ihren beiden berühmten Brüdern Paul und Ludwig, war sie mit zahlreichen Künstlern befreundet, die sie zum Teil auch förderte: insbesondere den blinden Musiker Josef Labor, aber auch den Komponisten Franz Schmidt, den Maler Rudolf v. Alt, den Architekten Paul Engelmann und andere mehr.
W.: „Erinnerungen. Unpubl. Typoskript“ (1944/48), „Autobiographie Karl Wittgensteins. Unpubl. Manuskript“ (1912/13)
L.: Gaugusch 2001, Immler 2011, Iven 2006, McGuiness 1992, Nedo/Ranchetti 1983, Prokop 2003
Ursula Prokop