Weiss, Gisela

* 14.7.1891, Wien, † 12.6.1975, Wien
Astronomin

Deutlich nachdem die ersten Frauen in Harvard und an anderen amerikanischen Sternwarten tätig waren, sowie mehr als ein Jahrzehnt nach der Zulassung von Frauen an der Universität Wien, schloss auch in Wien die erste Frau ein Studium der Astronomie ab. Bereits 1865 wurde z. B. Maria Mitchell als erste Frau am Vassar College zur Professorin für Astronomie ernannt, Annie Jump Cannon schloss ihr Astronomiestudium am Wellesley College 1884 ab. In Österreich konnten Mädchen zwar ab 1872 die Matura als Externistinnen an einem Knabengymnasium ablegen, erwarben damit aber nicht die Berechtigung zu einem Hochschulstudium. Die ersten Frauen, die an der Universität Wien ein Studium absolvieren konnten, promovierten 1902.

Die erste Frau, die ein Astronomiestudium an der Universität Wien abschloss, war G. W., sie promovierte 1917.
G. W. wurde am 14. Juli 1891 in Wien geboren. Ihr Vater Leo Weiß war ein jüdischer Handelsagent und stammte aus Galizien. Wann er nach Klosterneuburg kam, lässt sich nicht mehr feststellen. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er jedenfalls 1898 Fanny, geborene Chill, die offenbar damals schon in Klosterneburg lebte, und war einer der Gründer bzw. Inhaber mehrerer Industriebetriebe in Klosterneuburg (Klosterneuburger Holzindustrie, Klosterneuburger Metallfabrik, sowie Kauf der Firma Schüssler&Dirscherl). All diese Unternehmen waren in der Aufeldgasse in Klosterneuburg angesiedelt. Aufeldgasse 29 gab G. W. in ihrem Lebenslauf im Promotionsakt im Archiv der Universität Wien als Wohnadresse an, das Stadtarchiv von Klosterneuburg nennt Aufeldgasse 27a als Anschrift, außerdem schrieb sie in diesem Lebenslauf, dass sie ein Mädchenobergymnasium in Wien in der Pöchlarnstrasse besucht hat. Genaueres zu dieser Schule konnte trotz intensiver Nachforschungen nicht gefunden werden, es dürfte keine öffentliche Schule gewesen sein, möglicherweise war an die Schule ein Internat angeschlossen, denn es war wahrscheinlich am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht einfach, täglich von Klosterneuburg nach Wien zu fahren, eventuell hatte sie in Wien auch eine Wohnmöglichkeit. Aus dem Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien erfuhr ich, dass es sich nicht um eine Schule der Kultusgemeinde handelte.
Die Reifeprüfung zur Erlangung der Befähigung für ein Universitäts-Studium legte sie an der einzigen Schule Wiens, die Mädchen zu einer Studienberechtigung führte, in der Rahlgasse ab. Unterlagen über sie sind an dieser Schule noch vorhanden. Im Maturazeugnis ist auch ihre Zugehörigkeit zur mosaischen Religion angegeben. Das Maturazeugnis wird im Archiv der Universität Wien aufbewahrt.
Nach der Matura inskribierte G. W. an der Universität Wien, sie studierte Mathematik, Physik und Astronomie. Ihre Doktorarbeit befasste sich mit der Bahnbestimmung eines Kleinen Planeten und wurde von den Professoren J. Hepperger (1855 – 1928) und S. Oppenheim (1857 – 1928) beurteilt.
Das Thema der Bahnbestimmung eines Kleinen Planeten oder eines Kometen wurde zu dieser Zeit an mehrere in Astronomie dissertierende Studierende vergeben, es war ja die Positionsbestimmung dieser Objekte das beinahe einzige Arbeitsgebiet der an der Wiener Sternwarte tätigen Astronomen.
Das Thema der Dissertation dürfte J. Hepperger (1855 – 1928) gewählt haben, er unterschrieb die Beurteilung der Arbeit als Referent. Hepperger hatte zwar als erster Astronom Österreichs Physik und nicht Mathematik studiert und seine Doktorarbeit in Physik verfasst, wurde aber vor allem in seiner Grazer Zeit (1891 – 1901) bedingt durch den Mangel an geeigneten Beobachtungsmöglichkeiten zum Theoretiker und hat nie auf dem Gebiet der Astrophysik gearbeitet. Der zweite Begutachter der Dissertation, S. Oppenheim (1857 – 1928) war ebenfalls Theoretiker, er hatte Th. Oppolzers Lehrstuhl inne und arbeitete vorwiegend auf dem Gebiet der Himmelsmechanik.
In der Beurteilung der Arbeit wird zunächst beschrieben, was über das Objekt (193) in Wien bekannt war. Der Kleinplanet wurde am 28. Februar 1879 von Jérôme- Eugène Coggia (1849 – 1919) in Marseille entdeckt. Obwohl bei der Nummerierung ja die Bahnelemente bekannt waren, wurde das Objekt 35 Jahre nicht beobachtet und am 10. September 1915 von Max Wolf in Heidelberg mit Hilfe einer photographischen Aufnahme wiedergefunden.
Die Bestätigung der Wiederentdeckung durch Wolf erfolgte übrigens in den Astronomischen Nachrichten durch F. Cohn (1866 – 1922), den Direktor des Astronomischen Recheninstituts in Berlin.
Nach der Wiederauffindung des Objekts bestimmte J. Palisa mit dem Großen Refraktor in Wien visuell zwischen 17. September 1915 und 10. April 1916 insgesamt 23 Positionen. Damit schuf er „die Grundlage für die Bestimmung sehr verlässlicher Bahnelemente“ (Palisa 1916). Die Bahnbestimmung erfolgte nach der Methode von Gauss, es wurden geozentrische Bahnelemente bestimmt, dafür wurden die äußersten Örter und ein ungefähr in der Mitte liegender verwendet. Die so erhaltenen Bahnelemente wurden mit den von Palisa beobachteten Örtern verglichen und zeigten gute Übereinstimmung. Störungen durch die großen Planeten wurden nicht berücksichtigt, auch eine Ausgleichsrechnung hätte bessere Ergebnisse geliefert. „Die vorliegende Abhandlung kann mit Rücksicht auf die bedeutende hierauf angewendete Arbeit und deren gute Durchführung noch als den gesetzlichen Anforderungen entsprechend bezeichnet werden“ (Promotionsakt PH RA 4341).
Die Beurteilung der Dissertation wurde am 21. April 1917 geschrieben, die Beurteilung ist nicht besonders freundlich. Die Promotion fand am 28. Juni 1917 statt.
Die Dissertation selbst ist in der Bibliothek der Sternwarte nicht vorhanden, auch nicht in der Universitäts-Bibliothek oder der Österreichischen Nationalbibliothek .Die Ergebnisse der Arbeit wurden nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Dies entspricht der damals an der Wiener Sternwarte geübten Praxis, nur wenige Doktorarbeiten zu publizieren. Nicht einmal die Arbeiten all derer, die nach dem Abschluss ihres Studiums an der Sternwarte angestellt wurden, wurden veröffentlicht.
In der Zeit der Direktion Heppergers mit Oppenheim als zweiten Professor für Astronomie gab es insgesamt 18 Promotionen, die von 16 Männern und 2 Frauen (1917 Gisela Weiß, 1927 Franziska Straas), von diesen 18 Doktorarbeiten beschäftigten sich 6 mit der Bahnbestimmung eines Kometen oder KIeinen Planeten, 12 hatten himmelsmechanische Themen. Diese Daten wurden aus einem Verzeichnis über die seit dem Jahre 1872 an der philosophischen Fakultät der Universität in Wien eingereichten und approbierten Dissertationen ermittelt, das 1936 vom Dekanat der philosophischen Fakultät herausgegeben wurde. Nicht bei allen Dissertationen waren die beiden Professoren für Astronomie Begutachter, es findet sich auch die Kombination Astronom mit Mathematiker.
Eine dieser Dissertationen wurde veröffentlicht, nämlich die von A. Hnatek in den Denkschriften der Akademie der Wissenschaften, Ergebnisse einer Dissertation, der von W. Bernheimer, erschienen in den Astronomischen Nachrichten. Hnatek bestimmte eine definitive Kometenbahn, Bernheimer nahm eine Bahnverbesserung von (867) Kovacia vor. Beide bekamen eine Stelle an der Wiener Sternwarte, beide arbeiteten später hauptsächlich auf dem Gebiet der Astrophysik.
Beim Lesen der Beurteilung der Dissertation von G. W. durch die beiden Begutachter entsteht der Eindruck, dass den Begutachtern bewusst war, dass eine weitere Bahnbestimmung für die astronomische Forschung nicht erforderlich war.
In den Veröffentlichungen des Berliner Recheninstituts mit den Bahnelementen und Oppositions-Ephemeriden der Kleinen Planeten gibt es zu (193) Ambrosia folgende Bemerkungen:
Für das Jahr 1914 gibt es für (193) keine Angaben, da „die Orte infolge der Unsicherheit der Elemente nicht angenähert vorausberechnet werden können“, allerdings wurden für (193) neue erste Bahnelemente von Berberich gerechnet. (Berliner Astronomischen Jahrbuch für 1916)
Nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitete G. W. offenbar im väterlichen Betrieb, sie wird entweder als Privatbeamtin oder als Prokuristin bezeichnet. 1920 hat sie geheiratet, die Ehe wurde aber wieder geschieden und sie erhielt die Erlaubnis, wieder den Namen Weiss zu führen. Ihr Vater Leo Weiss starb 1930; die Klosterneuburger Unternehmen blieben offenbar im Familienbesitz und wurden 1938 arisiert. Nach 1945 bestand das Unternehmen als USIA-Betrieb, wurde restituiert und 1983 aufgelöst.
Im Staatsarchiv konnte ich noch finden, dass G. W. und ihre Stiefmutter 1938 enteignet wurden, sie gibt Grundbesitz an und ein Darlehen an ihre Stiefmutter, die nach dem Tod des Vaters kostenloses Wohnrecht hatte.
G. W. gelang die Emigration, ab 1950 gibt es wieder Unterlagen über sie. Sie war nach 1950 israelische Staatsbürgerin, in den Meldeunterlagen wird Tel Aviv als Hauptwohnsitz angegeben und als Beruf Pensionistin. Sie übersiedelte innerhalb Wiens mehrmals, lebte aber immer in guten Wohngegenden. Die letzte Zeit ihres Lebens verbrachte sie in einem Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Dort starb sie am 12.6.1975 und wurde im Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof von Klosterneuburg beerdigt.
Im Wiener Stadt- und Landesarchiv wird auch ihr Verlassenschaftsakt aufbewahrt. In ihrem Testament schrieb sie, dass niemand aus ihrer Familie am Leben ist und dass sie Rechtsanwalt Dr. Anton Pick aus Wien als Erben eingesetzt hat. Von den Trofaiacher Eisen- und Stahlwerken bezog sie eine Leibrente, die bei ihrem Tod eingestellt wurde.
Im ehemaligen Wohnhaus der Familie Weiss ist heute eine Privatschule untergebracht, in der nach der Montessori-Methode unterrichtet wird.

Werke

Literatur / Quellen

Kgl. Astronomisches Recheninstitut zu Berlin (Hg.): Bahnelemente und Oppositions- Ephemeriden der kleinen Planeten für 1914, Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung (Kommissionsverlag), Berlin, Sonderabdruck aus dem Berliner Astronomischen Jahrbuch für 1916.
www.heimatforschung-klbg.at/Bereiche/Thema/Kaufleut_1/Unternehmen/Fabrik/Index.html nach einem Zeitungsbericht im „Tullner Gau“ von 1928.
Österreichisches Staatsarchiv
Lebensdaten von Leo Weiß wurden aus den in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (Matriken) und den im Stadtarchiv Klosterneuburg (Auszug aus der Heimatrolle) vorhandenen Unterlagen zusammengesetzt, ebenso das Wissen über seine erste und zweite Ehe.
Archiv der Universität Wien, PH RA 4341
Email vom 12. Mai 2010 vom Archiv der Kultusgemeinde
Archiv der Universität Wien, Dokument 112.126.12 vom 10.7.1912
Archiv der Universität Wien, Promotionsakt PH RA 4341
Dissertationsverzeichnis der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, Band 3,Wien, 1936.

BiografieautorIn:

Anneliese Schnell