Weiss, Gertrud
* 28.12.1909, Wien, † 27.4.1981, San Diego, Kalifornien, USA
Amtsärztin und Präventivmedizinerin
1928 Reifeprüfung am Mädchenrealgymnasium in Wien 8; 1929/30 Auslandsaufenthalte in der Schweiz und in Berlin; 1930–1936 Studium der Medizin an der Universität Wien; 1936 Promotion zur Dr.med., Emigration nach London; 1936–1937 Post-Graduate Medical College in Hammersmith, London; 1937 Emigration nach New York, Praktika am Bellevue Hospital in Manhattan, New York; 1938 Lizenz als praktische Ärztin in New York; ab 1942 Internship und Residency am Willard Parker Hospital, New York; 1943 US-Staatsbürgerschaft; 1944 Master in Public Health, Columbia University, Amtsärztin für New York City Department of Health; 1949 Zertifikat für Präventivmedizin, Adjunct Assistant Professor für Präventivmedizin am New York University College of Medicine; 1950–1961 Assistenzprofessorin für Präventivmedizin an der University of Colorado Medical School in Denver und Abteilungsleiterin im Denver Department of Health and Hospitals; 1961–1964 Clinical Associate Professor in Präventivmedizin an der Georgetown University School of Medicine und Beraterin für die Pan American Health Organization; 1964–1977 Lehrende an der UC Los Angeles School of Public Health und an der UC San Diego School of Medicine und Mitglied des Council for a Livable World Education Fund; 1975–1981 Associate Research Bibliographer für das UC San Diego Program on Science, Technology and Public Affairs.
G. W. wurde am 28. Dezember 1909 in Wien geboren. Sie war die älteste Tochter des erfolgreichen Arztes Dr. Arthur Weiss (1875–1936, Medizinalrat) und dessen Frau Martha, geb. Schrecker (1885–1968) und wohnte bis 1928 mit ihren Eltern, ihrer jüngeren Schwester Franziska Weiss (1913–1999) und ihrem jüngeren Bruder Egon Arthur Weiss (1919–2003) in Wien 9, Alserstraße 18/15. G. W. begann nach ihrer Reifeprüfung am Mädchenrealgymnasium in Wien 8, Albertgasse 38, im Wintersemester 1928/29 ein Studium der Mathematik und Physik an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, (AUW, Nationale PHIL) brach dieses aber nach kurzer Zeit ab, um als Gouvernante der Tochter der Schriftstellerin Hilda Doolittle (H. D., 1886–1961) in die Schweiz zu gehen. Daneben besuchte G. W. Sprachkurse an der Universität von Lausanne. 1929 begleitete sie ihre Arbeitgeberin Annie Winifred Macpherson (1894–1983) nach Berlin, wo sie auch als Halbtagssekretärin und Übersetzerin arbeitete und Macpherson bei der Publikation der Zeitschrift „Close up“, einem Magazin über modernen Film, unterstützte. In Berlin arbeitete G. W. auch an einem Buch über Deutschunterricht für Englischsprachige mit dem Titel „The Lighthearted Student“. An der Universität Berlin, wo sie 1929 zwischenzeitlich Physik und Biologie studierte, lernte sie ihren späteren Ehemann, den aus Ungarn stammenden Physiker Leo Szilard (1898–1964), (vgl. Daintith/Mitchell/Tootill/Gjertsen 1994; Röder/Strauss 1983) kennen, für den sie ein Manuskript übersetzte. Auf Anraten Szilards wechselte sie ihr Studienfach zur Medizin und kehrte dafür nach Wien zurück (University of California, Biography; Lanouette 1992, S. 73–74)
G. W. war von Sommersemester 1930 bis Sommersemester 1935 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien inskribiert und promovierte am 18. März 1936 zur Dr.med. (AUW, Nationale MED, PP) Während des Studiums wohnte sie wieder bei ihren Eltern in der Alserstraße. (Lanouette 1992, S. 117)
Kurz nach der Promotion emigrierte sie noch 1936 wieder auf Anraten Szilards nach London, wohnte dort in einem Zimmer in Kensington und studierte Medizin am Post-Graduate Medical College am West London Hospital in Hammersmith.
1937 gelang es Leo Szilard für G. W. und ihn selbst Einwanderungspapiere für die USA zu bekommen und sie emigrierten nach New York. Nachdem G. W. ein Apartment gefunden hatte, begann sie ab September 1937 als „Intern“ in der Ambulanz und Notaufnahme des Bellevue Hospital in Manhattan zu arbeiten. (Lanouette 1992, S. 159–168) 1938 erhielt sie die Lizenz, um im Bundesstaat New York als Ärztin zu praktizieren. (University of California, Biography) Später wurde sie „Extern“ in der Pädiatrie-Abteilung desselben Krankenhauses. (Lanouette 1992, S. 174) Leo Szilard war ab 1942 in Los Alamos/New Mexico am Manhattan-Projekt, dem Programm zur Entwicklung der Atombombe, beteiligt. G. W. begann Anfang 1942 ein „Internship“ und „Residency“ am Willard Parker Hospital (Lanouette 1992, S. 230–231). Ein Jahr nachdem G. W. 1943 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, erlangte sie an der Columbia University den Mastertitel in Public Health und begann als Amtsärztin für das New York City Department of Health zu arbeiten. Zusätzlich war sie ab 1948 als „Instructor“ und – nach ihrer Zertifizierung für Präventivmedizin 1949 – als „Adjunct Assistant Professor“ für Präventivmedizin am New York University College of Medicine tätig. 1950 zog sie von New York nach Denver, um als Assistenzprofessorin für Präventivmedizin an der University of Colorado Medical School zu lehren. Zugleich wurde sie Leiterin der Kontrollstelle für übertragbare Krankheiten im Denver Department of Health and Hospitals. G. W. erhielt 1951 die Lizenz im Bundesstaat Colorado als Ärztin zu praktizieren und wurde 1954 zum „Associate Professor“ befördert. (University of California, Biography; Lanouette 1992, S. 321)
Ihre Geschwister schlugen in der Emigration ebenfalls akademische Karrieren ein: Ihr Bruder Egon Weiss studierte nach seinem Dienst in der US Army und US Air Force ab 1946 an der Harvard University und an der Boston University Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft und wurde später Bibliothekar, zunächst in Massachussetts, ab 1958 in der US Military Academic Library in West Point, New York. (Röder/Strauss 1983; Ash 1970) Ihre Schwester Franziska Weiss (verh. Racker), die ihr Studium der Medizin an der Universität Wien 1938 noch abschließen konnte, studierte 1943 an der Harvard School of Public Health in Boston, Massachusetts und spezialisierte sich später auf Physikalische und Rehabilitative Medizin. Sie leitete die Rehabilitationsabteilung im Tompkins County Hospital in Ithaca und 1971–1999 das Special Children‘s Center im Bundesstaat New York (heute: „Franziska Racker Centers“). (Racker/Racker 1981: 267; Cornell University Library)
Als Leo Szilard 1946 als Professor für Biophysik an die University of Chicago berufen wurde, besuchte G. W. ihn öfters in Denver. Am 13. Oktober 1951 heiratete das Paar, aus beruflichen Gründen wohnte sie jedoch weiterhin in Denver und er in New York.
Als 1959 seine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, pausierte G. W. S. ihre Lehre und blieb bei ihm in New York. (University of California; Lanouette 1992, S. 335–347, 404f.) 1961 gab sie ihre Stelle in Denver gänzlich auf und zog mit ihrem Ehemann nach Washington (Lanouette 1992, S. 430f.), wo sie eine Stelle als „Clinical Associate Professor“ in Präventivmedizin an der Georgetown University School of Medicine erhielt. Zusätzlich arbeitete sie auch als Beraterin in den Bereichen Gesundheitsstatistik und Mortalitätsforschung für die Pan American Health Organization sowie für die World Health Organization. (AJPH 72/7; Lanouette 1992, S. 444; University of California, Biography)
1964 zog das Ehepaar nach La Jolla, einem Stadtteil von San Diego, Kalifornien, wo Leo Szilard am 30. Mai 1964 starb. G. W. S. lebte nach seinem Tod weiterhin in La Jolla, war im öffentlichen Gesundheitswesen tätig und lehrte bis 1977 an der UC Los Angeles School of Public Health und an der UC San Diego School of Medicine. Auch war sie als Beraterin des US Public Health Service aktiv und leitete 1968/69 Projekte im Rahmen der Southeast San Diego Health Study. Daneben engagierte sie sich für den Council for a Livable World Education Fund, der sich in Kooperation mit der Vereinigung Physicians for Social Responsibility um eine Sensibilisierung und Beteiligung der Ärzte in der nuklearen Rüstungskontrolle bemühte. In den letzten Jahren widmete sich G. W. S. auch intensiv der Sammlung, Edition und Veröffentlichung von Leo Szilards privaten Unterlagen und war ab 1975 als „Associate Research Bibliographer“ für das UC San Diego Program on Science, Technology and Public Affairs tätig. (AJPH 72/7; Feld 1981, University of California, Biography)
G. W. S. starb am 27. April 1981 in La Jolla an Krebs und wurde bei ihrer Mutter in Ithaca, New York beerdigt. (Lanouette 1992, S. 465–467, 477–481; University of California, Biography) Der umfangreiche Nachlass des Ehepaares Szilard, bestehend aus biografischen Informationen, Korrespondenzen, Fotografien und Audioaufnahmen, befindet sich in der University of California, San Diego, in La Jolla.
Der Wissenschaftler Leo Szilard und sein Engagement beim Bau der Atombombe wurde in den letzten Jahren auch von den Musicalautoren Danny Ginges und Philip Foxman verarbeitet. Das Musical „Atomic“, das 2013 in Sydney uraufgeführt und bis 2016 in New York, Michigan, sowie St. Louis, Missouri, gastierte, räumt neben dem Protagonisten Szilard auch der Rolle Gertrud Weiss‘ breiten Raum ein. (Atomic – The Musical)
Werke
Gem. mit Feld, B. T. (Hg.): The collected works of Leo Szilard. Scientific Papers, Cambridge, Mass., 1972.
Gem. mit Weart, Sp. R. (Hg.): Leo Szilard: His Version of the Facts – Selected Recollections and Correspondence, Cambridge, Mass., 1978.
Gem. mit Hawkins, H. S. / Greb, G. A. (Hg.): Toward a Livable World: Leo Szilard and the Crusade for Nuclear Arms Control, Cambridge, Mass., 1987.
Literatur / Quellen
Literatur
Ash, L. (Hg.): Biographical dictionary of librarians in the United States. 5th edition, Chicago 1970. (Egon Weiss).
Association News – Deaths. In: American Journal of Public Health (AJPH) 72/7, Jul 1982, S. 754.
Cornell University Library: Efraim Racker – Biographical timeline [http://efraimracker.library.cornell.edu/about/timeline]
Daintith, J. / Mitchell, S. / Tootill, E. / Gjertsen, D.: Biographical encyclopedia of scientists, 2nd ed., Bristol (USA), 1994. (Leo Szilard).
Feld, B. T.: Gertrud Weiss Szilard, 1909–1981. In: The Bulletin of the Atomic Scientists 37/10, Dec 1981, S. 56.
Kniefacz, K.: Franziska Weiss (verh. Racker). In: Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, 2014 [http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=22884]
Lanouette, W.: Genius in the Shadows: A Biography of Leo Szilard, the Man Behind the Bomb. New York u.a. 1992.
Racker, E. / Racker, F. W.: Resolution and Reconstitution. A Dual Autobiographical Sketch. In: Semenza, G. (Hg.): Of Oxygen, Fuels and Living Matter, Part 1. Chichester u.a. 1981, S. 265-287.
Röder, W. / Strauss, H. A. (Hg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933–1945, Bd. 2: The Arts, Sciences and literature. München/New York/London 1983. (Leo Szilard, Egon Weiss)
Quellen
Archiv der Universität Wien (AUW): Philosophische Fakultät (PHIL), Nationale Wintersemester 1928/29; Medizinische Fakultät (MED), Nationale Sommersemester 1930 bis Sommersemester 1935, Promotionsprotokoll (PP) Nr. 1880.
Atomic – The Musical [http://www.atomicthemusical.com]
Auskunft ihrer Nichten Ann Costello und Helen Weiss, USA, 2016.
University of California, San Diego, La Jolla, Special Collections & Archives: Gertrud Weiss Szilard Papers, MSS 0432, [Bestandsübersicht inkl. Biography: http://www.oac.cdlib.org/findaid/ark:/13030/c80r9skn/entire_text/]; Leo Szilard Papers, Letters to Gertrud Weiss, 1937-1959, MSS 650 [Bestandsübersicht: http://libraries.ucsd.edu/speccoll/findingaids/mss0650.html], Audio-Interview mit Trude Weiss Szilard (Interviewer Harold Keen), 1980, MSS 32 [http://library.ucsd.edu/dc/object/bb0684494r].