Suttner Bertha Sophia Felicita, Freiin von, geb. Kinsky von Chinic (Wchinitz) und Tettau (Ps. B. Oulot, Jemand); Schriftstellerin, Pazifistin und Friedensnobelpreisträgerin
Geb. Prag, Böhmen (Praha, Tschechien), 9.6.1843
Gest. Wien, 21.6.1914
Herkunft, Verwandtschaften: Vater: Franz Joseph Kinsky von Chinic (Wchinitz) (1769-1843), k. k. Feldmarschallleutnant und Wirklicher Kämmerer, verstarb kurz vor der Geburt seiner Tochter. Vormund: Friedrich Landgraf zu Fürstenberg. Mutter: Sophie Wilhelmine Gräfin Kinsky-Körner (1815-1884), geb. Körner, bürgerl. Herkunft, verwandt mit Theodor Körner (1791-1813), Rittmeister und Freiheitsdichter. Bruder: Arthur Kinsky von Chinic (Wchinitz) (1837-1906).
LebenspartnerInnen, Kinder: 1876 Heirat in Wien-Gumpendorf mit Artur (Arthur) Gundaccar Freiherr von Suttner (1850-1902), Ingenieur und Schriftsteller.
Laufbahn: B. v. K. verbrachte ihre frühe Kindheit in Brünn, ab 1856 in Wien und ab 1859 in Klosterneuburg bei Wien. Die Mutter, eine passionierte Glücksspielerin, reiste in die mondänen europäischen Bade- und Casino-Orte ihrer Zeit und verlor dabei einen Großteil des Familienerbes.
Sie erhielt eine standesgemäße Ausbildung, beschäftigte sich mit Musik, reiste viel und erlernte Französisch, Englisch, Italienisch sowie später auch Russisch. Bereits in ihrer Jugend hegte sie eine große Vorliebe für Bücher, wobei sie sich sowohl von wissenschaftlicher als auch von philosophischer Literatur angezogen fühlte. Interesse zeigte sie vor allem für die historischen und naturwissenschaftlichen Werke der britischen Evolutionisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, bspw. für jene von Charles Darwin, Ernst Haeckel, Herbert Spencer und Henry Thomas Buckle.
Mehrere Heiratspläne der jungen Gräfin scheiterten, nicht zuletzt wegen ihrer Abneigung gegenüber den in adeligen Kreisen üblichen „arrangierten“ (Vernunft-)Ehen.
Aufgrund der prekären finanziellen Situation ihrer Familie musste sich die ledige junge Frau um eine Verdienstmöglichkeit umsehen. Um 1860 begann B. Klavier- und Gesangsunterricht zu nehmen. Eine geplante Karriere als Lied- und Opernsängerin ließ sich aber nicht realisieren.
Im Sommer 1873 trat B. in Wien eine Stellung als Erzieherin („finishing governess“) der vier Töchter des Barons Karl von Suttner an. Dort bahnte sich eine Beziehung zu Artur Gundaccar Freiherr von Suttner, dem dritten und jüngsten Sohn der Familie, an. Die Hochzeitspläne wurden jedoch von der Familie unterbunden. B. wurde dazu angehalten, das Haus zu verlassen.
In der Folge bewarb sich B. auf eine anonyme Zeitungsannonce und reiste 1875 nach Paris, wo sie als Hausdame und Privatsekretärin des schwedischen Chemikers, Dynamit- und Waffenherstellers Alfred Nobel (1833-1896) Beschäftigung fand. Obwohl auch dieser einer Verbindung mit der jungen, energievollen Frau nicht abgeneigt gewesen wäre, kehrte B. nach Wien zurück und heiratete am 12. Juni 1876 in der Pfarrkirche St. Ägyd (Wien-Gumpendorf) heimlich ihre Liebe Artur Gundaccar von Suttner. Alfred Nobel blieb bis an sein Lebensende ein treuer Freund und Mäzen. Schließlich soll auch die Initiative zur Gründung der Nobelpreisstiftung auf B.s Einfluss zurückzuführen sein.
Ursprünglich auf Einladung der Fürstin Ekaterina Dadiani von Mingrelien (1816-1892), welche B. 1864 in Bad Homburg kennen gelernt hatte, lebte das junge Paar unter äußerst bescheidenen Verhältnissen insgesamt neun Jahre im Kaukasus: in den Städten Gordi, Kutais, Tiflis und Zugidi.
Neben Tätigkeiten u. a. als Musik- und Sprachlehrerin eröffnete sich B. v. S. in dieser Zeit eine schriftstellerische Laufbahn. Den Beginn setzte ein unter Pseudonym (B. Oulot) verfasstes Feuilleton („Fächer und Schürze“,1878)), welches völlig unerwartet von der „Neuen Freien Presse“ gedruckt wurde. Es folgten zahlreiche Artikel u. a. für die „Neue Illustrirte Zeitung“, „Die Gartenlaube“, für das „Neue Wiener Tagblatt“, das „Berliner Tagblatt“, die „Deutsche Romanbibliothek“ sowie für „Ueber Land und Meer“. Dem folgten zwischen 1882 und 1911 rund dreißig weitere Romane sowie eine Vielzahl von Novellen, Vorträgen, Tagebuchblättern, Erzählungen, Aphorismen, Sachbücher – ihre ab 1907 erschienenen „Gesammelten Werke“ umfassten schließlich 12 Bände.
Nach Aussöhnung der Familien Kinsky und Suttner kehrte das Ehepaar 1885 nach Wien zurück und bezog das Gut und Familienschloss der Suttners in Harmannsdorf/NÖ (nahe Eggenburg) – wenngleich B., wie ihre 1909 veröffentlichten „Memoiren“ offenbaren, dort stets eine Fremde blieb. Erst nach dem Tod ihres Mannes 1902 und nach der notwendigen Versteigerung des Gutshofes zog B. v. S. nach Wien.
1887 nahm B. v. S. Kontakt mit der einzigen damaligen Friedensorganisation, der „International Arbitration and Peace Association“ (London) auf und machte sich mit dem Pazifismus vertraut. 1889, nachdem zahlreiche Verlage eine Drucklegung aus politischen Gründen abgelehnt hatten, erschien ihr Hauptwerk, der Roman „Die Waffen nieder!“, welcher in fast alle europäische Sprachen übersetzt wurde, der Autorin Weltruhm brachte und wesentlich zur Popularisierung der Friedensidee in Europa und Amerika beitrug. Bis 1917 erschienen vierzig Auflagen, zahlreiche Nachdrucke und Teilabdrucke. 1913 kam es sogar zu einer Verfilmung dieser fiktiven Autobiografie der verwitweten Baronin Martha Tilling, deren Leben durch die vier Kriege von 1859, 1864, 1866 und 1870/71 bestimmt und zerstört wurde. B. v. S. konnte sich mit diesem mutigen Aufruf zur Humanität, welcher eindeutig gegen den Zeitgeist gerichtet war, nachhaltig in der pazifistischen Szene etablieren und wurde mehr und mehr zu deren Leitfigur. Der Aufbau einer internationalen Friedensfront und die Analyse der Kriegsursachen wurden zu B. v. S.s lebensbestimmenden Aufgaben. Friedensforschung und Friedensarbeit waren für sie untrennbar miteinander verbunden.
Nach einem mit überwältigendem Erfolg durchgeführten Gründungsaufruf in der „Neuen Freien Presse“ vom 3. September 1891 wurde die „Österreichische Gesellschaft der Friedensfreunde“ ins Leben gerufen, zu deren erster Präsidentin B. v. S. gewählt wurde. Die „Österreichische Gesellschaft der Friedensfreunde“ war im Übrigen die einzige derartige europäische Organisation, die von einer Frau geleitet wurde.
Gemeinsam mit dem späteren Friedensnobelpreisträger (1911) Alfred Hermann Fried (1864-1921), den sie 1891/92 in Berlin kennengelernt hatte, gab sie 1892-99 die Zeitschrift „Die Waffen nieder!“ Monatsschrift zur Förderung der Friedens-Idee“, welche später als „Die Friedens-Warte“ weitergeführt wurde, heraus und begründete mit ihm die „Deutsche Friedensgesellschaft“. B. v. S. nahm in der Folge an fast allen Weltfriedenskongressen und Interparlamentarischen Konferenzen teil.
Auf ihre Anregung hin fand 1899 auch die „Erste Haager Friedenskonferenz“ (Den Haag, Niederlande) statt, wo seitens der Regierungsvertreter Fragen der nationalen wie internationalen Sicherheit, des Abrüstens und der Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichts behandelt wurden. B. v. S. nahm an der Konferenz als Korrespondentin der „Neuen Freien Presse“ teil. Bei der gleichzeitig in 18 Ländern stattfindenden ersten großen internationalen Frauen-Friedensdemonstration wurden Resolutionen verabschiedet, welche B. v. S. gemeinsam mit Margarethe Lenore Selenka-Heinemann (1860-1922) dem Präsidenten der Haager Friedenskonferenz überreichte.
Im Juni 1904 zählte B. v. S. zur Prominenz der Internationalen Frauenkonferenz in Berlin, deren Höhepunkt eine große Friedendemonstration in der Philharmonie mit abschließendem Suttner-Vortrag war. Ebenfalls 1904 bereiste sie aus Anlass des Weltfriedenskongresses in Boston die USA. In Washington hatte sie im Weißen Haus eine Unterredung mit dem Präsidenten Theodore Roosevelt (1858-1919). Acht Jahre später folgte eine zweite Amerikareise, die sie als Vortragende von der Ostküste bis zur Westküste über 25.000 Meilen in mehr als fünfzig Städte brachte, um über die gefährliche Lage in Europa aufzuklären und um Unterstützung zu bitten.
Nachdem sich das Nobel-Komitee vier Jahre lang geweigert hatte, eine Frau auszuzeichnen, wurde B. v. S. am 10. Dezember 1905 der Friedensnobelpreis verliehen, den sie am 18. April 1906 in Christiana entgegennahm.
Am 21. Juni 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges und während der Vorbereitungen zu einem Weltfriedenskongress, den sie im August 1914 nach Wien einberufen wollte, starb die bis zuletzt schriftstellerisch, journalistisch und agitatorisch tätige Friedensaktivistin.
B. v. S. beeindruckte nicht lediglich durch ihren außergewöhnlich emanzipierten Lebensstil, sondern stellte auch in ihren Romanen (etwa in „Daniela Dormes“ (1885) oder „Die Waffen nieder!“ (1889)) dem traditionellen Frauenbild durch selbstbewusste, selbständige und intelligente Protagonistinnen ein egalitäres Geschlechterverständnis gegenüber.
Ihre Geisteshaltung war wesentlich geprägt von aufklärerischem Gedankengut, welches die Menschen als vernünftige, eigenverantwortliche, freie und gleichberechtigte Individuen wahrnimmt.
Überzeugt von den wissenschaftlich-theoretischen Auffassungen der neuen Evolutionstheorien und deren Gesetzmäßigkeiten, die ihren Fortschrittsoptimismus nährten, sah sie die gegenseitige Angleichung der Geschlechter als Grundbedingung für eine „Erhöhung der Menschenwürde“, welche letztlich zu „Menschen einer höheren Gattung“ sowie zu einer allgemeinen Besserung der Gesellschaft führen würde. Durch eine „Erziehung zum Frieden“ sollte „das Vorrecht des Stärkeren radikal ausgerottet“ werden.
Gleichzeitig erkannte sie aber auch die Rolle der Sozialisation bei der Konstruktion geschlechtsspezifischer Tugenden und trat offensiv für die Rechte und Chancen der Frauen, für ein Frauenwahlrecht, Eröffnung der Bildungswege, eigene berufliche Tätigkeit und eigenes Vermögen ein. Sie selbst hatte zu Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere auf Pseudonyme zurückgegriffen oder überhaupt anonym geschrieben, da sie die weit verbreiteten patriarchalischen Vorurteile gegenüber Autorinnen nur zu gut kannte.
B. v. S. gilt heute als berühmteste Pazifistin ihrer Zeit. Ihr Gesellschaftsbild schuf einen Politiktypus, welcher die internationale Friedensbewegung und vergleichbare soziale Bewegungen in ihrem Eintreten für Menschenrechte und globale Solidarität nachhaltig beeinflusste. Möglicherweise ist ihr auch das Privileg der ersten deutschsprachigen politischen Journalistin zuzuerkennen. Mit der Darlegung ihrer Visionen − eines friedlichen und sozialen Europa fern von Nationalismen und Formen struktureller Gewalt wie dem ebenfalls von ihr angeprangerten weit verbreiteten und zunehmend ausufernden Antisemitismus − brach sie mit vielen damaligen Tabus. Denn trotz B. v. S.s Hingabe an die Idee der Abrüstung war diese für die Mehrheit der Bevölkerung in Europa und den USA unverständlich und unannehmbar.
Ausz., Mitglsch.: Präsidentin der österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde.
Portrait: 1965 österreichische Briefmarke (ö.S. 1,50); 1966 österreichische Tausend-Schilling-Banknote; 2002 österreichische Zwei-Euro-Münze. Zahlreiche Verkehrsflächen- und Gebäudebenennungen (darunter mehrere Schulen) in Österreich und Deutschland; 1963 Gedenktafel am Wohnhaus Wien 1, Zedlitzgasse 7; Benennung von Asteroid (12799) im Asteroidengürtel.
1993 Einrichtung der „Bertha-von-Suttner-Stiftung“ der DFG-VK zur „Förderung der Völkerverständigung, des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit“.
Qu.: Nachlass: Fried-Suttner Sammlung, Archive der UNO-Bibliothek, Genf, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung.
W.: (Auswahl, das umfangreichste Werk- und Literaturverzeichnis findet sich auf: www.bautz.de/bbld: Bernet, Claus, s. Quellen- u. Literaturverzeichnis). „Inventarium einer Seele“ (1883), „Ein Manuscript!“ (1885), „Ein schlechter Mensch. Roman“ (1885), „Es Löwos. Eine Monographie“ (1885), „Daniela Dormes“ (1886), „High-life“ (1886), „Verkettungen. Novellen“ (1887), „Schriftsteller-Roman“ (1888), „Das Maschinenalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit“ (1889), „Erzählte Lustspiele. Neues aus dem High Life“ (1889), „Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Bde. II“ (1889), „mit Suttner, Artur Gundaccar von (Hg.): Erzählungen und Betrachtungen“ (1890, =Österreichisch-ungarische Volksbücherei, XIII), „Es müssen doch schöne Erinnerungen sein!“ (1892), „Eva Siebeck. Roman“ (1892), „Trente − et − Quarante! Eine Spielbadgeschichte“ (1893), „Im Berghaus. Novelle“ (1893), „Die Tiefinnersten“ (1893), „Hanna. Roman“ (1894), „Vor dem Gewitter. Roman“ (1894), „Wohin? Die Etappen des Jahres 1895“ (1896, Publikationen des Deutschen Vereins für internationale Friedenspropaganda von 1874 zu Berlin, III), „(Hg.): Frühlingszeit. Eine Lenzens- und Lebensaufgabe, unseren erwachsenen Töchtern zur Unterhaltung und Belehrung gewidmet von den deutschen Dichterinnen der Gegenwart“ (1896), „Einsam und arm. Roman. Bde. II“ (1896), „Marthas‘ Tagebuch. Nach dem Roman ‚Die Waffen nieder!’ von Bertha von Suttner für die reifere Jugend bearbeitet von Hedwig Gräfin Pötting“ (1897), „Die Haager Friedenskonferenz“ (1900), „Martha’s Kinder. Eine Fortsetzung zu ‚Die Waffen nieder!’“ (1902), „Der Krieg und seine Bekämpfung“ (1904), „Franzl und Mirzl“ (1905), „Randglossen zur Zeitgeschichte. Das Jahr 1906“ (1907), „Die Entwicklung der Friedensbewegung“ (1907), „Gesammelte Schriften, I-XII“ (1907), „Krieg dem Krieg! Aus dem Tagebuch eines Idealisten“ (1907), „Brief an die Unglücklichen. Die Braut. Stimmungsbild. Geologen. Novellette. Die Dummheit. Todes- und Lebensarten“ (1907, Österreichisch-ungarische Volksbücherei, III), „Stimmen und Gestalten“ (1907), „Memoiren. Mit drei Bildnissen der Verfasserin“ (1909, darin enthalten: Fächer und Schürze. Feuilleton), „Rückzug und Überrüstung“ (1909), „Die Frauen und der Völkerfriede“ (1910), „Der Menschheit Hochgedanken. Roman aus der nächsten Zukunft“ (1910), „Die Barbarisierung der Luft“ (1912), „Aus der Werkstatt des Pazifismus. Aus der eigenen Werkstatt. Vortragszyklus im Wiener Volksbildungsverein“ (1912)
L.: Biedermann 2001, Brinker-Gabler 1980, Brinker-Gabler 1986a, Cohen 2005, Dengg 1983, Enichlmair 2005, Fried 1908, Götz 1996, Hamann 1986, Hedinger 2000, Kempf 1965, Kempf 1987,
Kleberger 1985, Müller-Kampel 2005, Pauli 1937, Pauli 1955, Schnedl-Bubenicek 1984
Ilse Korotin