Schulman, Gerda

geb. Lang

* 16.9.1915, Wien, † 26.2.2013, New York City, USA
Juristin, Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin

G. Sch. wurde als zweites Kind von Eugene (1883-?) und Helen Lang (1883-1970) am 16. September 1915 in Wien geboren. Eugene Lang war Kaufmann, beide Eltern waren aktiv in der jüdischen Gemeindearbeit in Wien.
Von 1926 bis 1933 besuchte G. Sch. die Schwarzwaldschule in Wien. Als sie etwa 13 Jahre alt war, erschütterte sie der Prozess um Sacco und Vancetti sowie andere Justizirrtümer. So wollte sie schon in der Schule Jus studieren, vor allem aber das Strafrecht. Im Juni 1933 bestand sie die Matura und schrieb sich zum Sommersemester 1933 an der Juridischen Fakultät der Universität Wien ein. Im Sommer 1934 besuchte die Studentin eine internationale Sommeruniversität und später für ein Semester die School of Psychology in Genf. Im Januar 1938, einen Monat vor Hitlers Einmarsch, schloss sie das Studium mit der Dissertation ab.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs entschlossen sich G. Sch. und ihr ebenfalls jüdischer Freund, der Numismatiker Hans Schulman, auszuwandern. In der zweiten Märzwoche 1938 verließen sie aus Angst vor Verfolgung das Land und gingen mit einem Einwanderervisum in die Niederlande, wo sie 1938 heirateten. Während der Rest der Familie nach Argentinien emigrierte, da Eugene Lang als Exporteur dort eine kleine Filiale hatte, zogen die Schulmans aus Angst vor einem möglichen Einmarsch der Nationalsozialisten im Mai 1939 mit Hilfe der New York Association for New Americans, der Ethical Culture Society sowie einer Studentenorganisation mit einem Besuchervisa weiter in die USA. Hans Schulman hatte berufliche Kontakte und begann sofort in seinem Beruf zu arbeiten. Seine sichere Arbeitsstelle ermöglichte G. Sch. einen allmählichen Einstieg in die amerikanische Arbeitswelt. Erst arbeitete sie ehrenamtlich für verschiedene Wohlfahrtsorganisationen, 1940 begann sie allerdings, ein zweites Mal zu studieren. Sie entschloss sich gegen ein zweites Jurastudium; einerseits aus finanziellen Gründen, andererseits aber, weil sie dachte, mit ihrem österreichischen Akzent im Gerichtsverfahren keine Chancen zu haben. Stattdessen wählte sie Social Work (Sozialarbeit), ein Fach, das all ihre Interessen wie Sozialarbeit, Psychologie und Jura kombinierte. Mit einem Stipendium begann sie sowohl an der „New York School for Social Work“ als auch an der Columbia University Kurse zu belegen. Im Juni 1942 erhielt sie einen Master in Sozialarbeit von der Columbia University und gleichzeitig auch die amerikanische Staatsangehörigkeit.
G. Sch. begann bei einem Jüdischen Familiendienst zu arbeiten. 1943 ging sie in Mutterschaftsurlaub, als die Tochter Monica geboren wurde. Von 1946 bis 1950 arbeitete sie in einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Sie wollte sich jedoch auch in diesem Beruf noch einmal weiterbilden. 1950 besuchte sie deshalb für ein Jahr die „Pennsylvania School of Social Work“ in Philadelphia und machte dort eine Ausbildung in Gruppen- und Familientherapie, die sie mit einem Post–Graduate-Diplom abschloss. Von 1952 bis 1972 war sie als Sozialarbeiterin bei dem Jüdischen Familiendienst tätig, bei dem sie zu Anfang ihrer Berufstätigkeit schon einmal gearbeitet hatte. Von 1963 an leitete sie eine spezielle Abteilung, die sich mit der Pflegeunterbringung von Kindern befasste, bis die biologischen Familien sie wieder aufnehmen konnten oder die Kinder die Volljährigkeit erreichten. Zusätzlich arbeitete G. Sch. jedoch nun als Fürsorgerin und bekleidete mehrere leitende Stellungen. Darüber hinaus leistete sie einen Außenberatungsdienst und besuchte Hilfsbedürftige zu Hause.
Ab 1973 unterrichtete G. Sch. als ordentliches Fakultätsmitglied an der „School of Social Work“ des Hunter Colleges sowie der Adelphi University. Bereits 1969 hatte sie sowohl auf Master als auch Doktorandenlevel Familientherapie als Kurse in der Ausbildung zum Social Work Programm eingeführt und unterrichtet. Selbst andere Fakultätsmitglieder nahmen an den von ihr angebotenen Kursen teil, um sich darauf vorzubereiten, selbst Familienarbeit unterrichten und praktizieren zu können.
Daneben machte sich G. Sch. als Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis selbständig. Ihre Tätigkeit beschränkte sie allerdings nicht nur auf die Arbeit innerhalb der Praxis. Sie leitete außeruniversitäre Kurse und Seminare und war als Beraterin für eine Reihe von Institutionen tätig und veröffentlichte daneben viele Aufsätze und andere Publikationen.
Ab 1951 war sie Mitglied der Nationalen Organisation der Sozialarbeiter, ab 1957 der Amerikanischen Gruppe der psychotherapeutischen Vereinigung und ab 1959 der „Friends of Hebrew University“. 1960 war sie Mitglied der Vereinigung „Americans for Democratic Action“ und ab 1973 der Organisation der Amerikanischen Familien- und Eheberater.

Der Schwerpunkt von G. Sch.s Tätigkeit als Therapeutin bildete die Familientherapie, lange bevor diese in Europa auch florierte. G. Sch. führte ein eigenes neues Modul „Multifamilientherapie“ ein, das bis heute in der Familientherapie genutzt wird. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus der Familien- und Gruppenpsychotherapie, in der chronische Krisen und Konflikte in Familien bei gleichzeitiger Behandlung von mehreren Familien mit ähnlichen Problemen in einer Gruppe gelöst werden sollen. Der Weg über Gruppenangebote ermöglicht es den Eltern, anderen Familien mit ähnlichen Problemen zu begegnen und sich derart gegenseitig zu spiegeln, voneinander zu lernen und zu unterstützen und damit ihre Kinder zu entlasten. Der Blick Fremder neben dem des Therapeuten auf das Problem soll dabei den Verständnisprozess vertiefen und beschleunigen. Die Therapeuten spielen dabei eine wichtige Rolle als Moderatoren, Katalysatoren und Organisatoren der Gruppen.
Meilensteine der akademischen Arbeit von G. Sch. sind neben den Artikeln, die sich mit Multifamilientherapie befassen, verschiedene Aspekte der Familientherapie und der Krisen, die in Familien auftreten können. Ihre Arbeiten werden teils bis heute wahrgenommen und zitiert. So widmete sie sich in dem Artikel „Divorce, single parenthood and stepfamilies“ v. a. der Familienstruktur nach Scheidungen sowie den folgenden Stufen des alleinerziehenden Elternteils sowie der möglichen neuen Patchwork-Familie. Besonders den für diese Familien entstandenen negativen Bildern der „Stiefmutter“ oder des „Stiefvaters“, die zusätzliche Probleme in Patchwork-Familien verursachen können, hat sie sich vielfach gewidmet, so z. B. in dem Aufsatz „Myths that Intrude on the Adaptation of the Stepfamily”. In dem Artikel „Siblings Revisited“ diskutiert G. Sch. Beispiele der Krisen, die unter Geschwistern in ihrem späteren Leben entstehen. Diese können entweder durch normative Wechsel hervorgerufen sein oder mit Konflikten zusammenhängen, die einen Einfluss auf das Wohlergehen der Familien haben. Die Behandlung dieser Krisen soll eine Chance zur Lösung und Beilegung der Konflikte bieten sowie zu einer realistischeren Sicht der Vergangenheit führen und damit Verhaltensmuster aufbrechen, die künftige Generationen auch beeinflussen. Auch den Problemen, die in Familien mit verhaltensauffälligen pubertierenden Jugendlichen auftreten können, hat sich G. Sch. gewidmet. Sie beschäftigte sich auch mit den schnellen Veränderungen der Welt in sozialer und politischer Hinsicht wie der Frauenbewegung, der sexuellen Revolution, größerer Gleichberechtigung der Geschlechter etc., die Auswirkungen auf die Struktur von Familien im Allgemeinen haben und hatten.
Nach dem Rückzug ins Privatleben ging G. Sch. viel spazieren und kochte ausgiebig für ihren großen Familien- und Freundeskreis. G. Sch. starb am 26. Februar 2013 in Riverdale, New York. Ein Nachruf erinnert folgendermaßen an G. Sch.: „Außerordentlich klug und zielstrebig war Gerda eine prominente Familientherapeutin, Professorin für Soziale Arbeit am Hunter und Adelphi College, und Autorin, die ihr Leben der Hilfe anderer gewidmet hatte. Sie lebte ihr Leben mit Integrität, akademischer Neugierde, Selbstlosigkeit, einer Generosität des Geistes und einem tiefen Bekenntnis zu ihrer Familie und Freunden.” Ein anderer Nachruf fasst ihr Leben folgendermaßen zusammen: „Die Markenzeichen Gerdas bemerkenswerten Lebens sind die Vielzahl der Menschen, deren Leben sie berührte und die Sachen, für die sie eintrat. Sie hat die Welt ein bißchen besser verlassen, als sie sie vorgefunden hat.”

Werke

A Study of Parental Attitudes in Cases of Fifteen Children Showing Obsessional Traits, Master Thesis, Columbia University, 1942.
Gem. mit Judd, J. / Kohn, R. E.,: Group Supervision: A Vehicle for Professional Development. In: Social work 7/1 (1962), S. 96-102.
Gem. mit Leichter, E.: The Family Interview as an Integrative Device in Group Therapy with Families. In: International Journal of Group Psychotherapy 13/3 (1963), S. 335-345.
Gem. mit Leichter, E.: Emerging phenomena in multi-family group treatment. In: International Journal of Group Psychotherapy 18/1 (1968), S. 59-69.
Gem. mit Leichter, E.: The Prevention of Family Break-up. In: Social Casework 49/3 (1968), S. 143-150.
Minuchin Book Defended. In: Social Work 14/3 (1969), S. 127-28.
Myths that Intrude on the Adaptation of the Stepfamily. In: Social Casework 53/3 (1972), S. 131-139
Gem. mit Leichter, E.: Interplay of group and family treatment techniques in multifamily group therapy. In: International Journal Group Psychotherapy 22/1 (1972), S. 167-176.
Treatment of Intergenerational Pathology. In: Journal of Social Casework 54/8 (1973), S. 462-72.
Gem. mit Leichter, E.: Multi-Family Group Therapy: A Multidimensional Approach. In: Family Process 13/2 (1974), S. 95-110.
The Single-Parent Family. In: Journal of Jewish Communal Service 51/4 (1975), S. 381-388.
Teaching Family Therapy to Social Work Students. In: Social Casework 57/7 (July 1976), S. 448-457.
Gem. mit Leichter, E.: Recent developments in family therapy: Emerging phenomena in multifamily group treatment. In: Erickson, G. D. / Hogan, T. P.: Family therapy: an introduction to theory and technique, New York: J. Aronson 1976), S. 327-335.
The changing American family: For better or worse. In: International Journal of Family Therapy 1/1 (spring 1979), S. 9-21.
Marriage and Marital Therapy: Psychoanalytic Behavorial and Systems Theory Perspectives. In: International Journal of Group Psychotherapy 30/3 (1980), S. 365-366.
Discussion: Therapy with siblings in reorganizing families. In: International Journal of Family Therapy 2/3 (fall 1980), S. 151-154.
Rezension von Paolino, Th. J. / McCrady, B. S.: Marriage and Marital Therapy: Psychoanalytical, Behavorial, and Systems Theory Perspectives. In: International Journal of Group Therapy 30/1 (1980), S. 365.
Divorce, Single Parenthood and Stepfamilies: Structural Implications of these Transactions. In: International Journal of Family Therapy 3/2 (1981), S. 87-112.
Family Therapy: Teaching, Learning, Doing, Washington, DC: University Press of America, 1982.
Rezension von Foundations of Family Therapy. In: Social Work 27/6 (1982), 539-40.
Sammelrezension u.a. über Reardon Rolson, E. / Reid, W. J. (Hg.): Models of Family Treatment. In: Social Work 27/6 (1982), 539-40.
Treatment of the disturbed adolescent: A family system approach. In: International Journal of Family Therapy 7/1 (spring 1985), S. 11-24.
Rezension von Lange, A. / van der Hart, O.: Directive Family Therapy. In: Social Casework 66/10 (1985), S. 623.
Essay on feminist family therapy: A review of Women in families: A framework for family therapy and The invisible web: Gender patterns in family relationships. In: Contemporary Family Therapy 12/1 (Spring 1990), S. 75-85.
The therapeutic relationship in family therapy: A comment on coady. In: Contemporary Family Therapy 15/4 (1993), S. 341-342.
Siblings Revisited: Old Conflicts and New Opportunities in Later Life. In: Journal of Marital and Family Therapy 25/4 (1999), S. 517-524.
Thoughts of an Old Therapist about the Impact of Age on Her Clinical Work. In: Contemporary Family Therapy 25/3 (2002), S. 283-294.

Literatur / Quellen

Quellen

RFJI
Deutsches Exilarchiv, Frankfurt, EB 98/300
Briefwechsel mit Gerda Schulman (2003)
Leo Baeck Institute, Gerda L Schulman Collection 1938-1993, AR 11669, und AHC Interview mit Gerda Schulman von Hermann Zwanzger (1999), Digital Collections AHC 1218
Taped interview with Gerda Schulman von John A. Spalek, 13.2.1991, State University of New York at Albany
Dr. Schulman’s Personel File, School of Social Work, Adelphi College

Literatur
Louis, B.: A Second Chance in Exile? German-Speaking Women Refugees in American Social Work After 1933, PhD University of Minnesota, 2015.
Röder, W. / Strauss, H. A. (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 (= International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945). 3 Bde. München 1980 -1983.
Mecklenburg, F.: Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933-1950), S. 75.
Röwekamp, M.: Juristinnen. Lexikon zu Leben und Werk, Baden – Baden, 2005, S. 381-383.
Röwekamp, M., Gerda Schulman, in: Ilse Korotin (Hg.), biografiA. Lexikon Österreichischer Frauen, Wien: Böhlau 2016, S. 2991-2992.
http://www.hietzing.at/Bezirk/geschichte1.php?id=113

BiografieautorIn:

Marion Röwekamp