Rühle-Gerstel Alice, geb. Gerstel, Alice Rühle; Lizzi Kritzel; Psychologin und Publizistin
Geb. Prag, Böhmen (Praha, Tschechien), 24.3.1894
Gest. Mexico City, Mexiko, 24.6.1943

Herkunft, Verwandtschaften: Wuchs zweisprachig mit drei jüngeren Geschwistern in großbürgerlichen jüdischen Verhältnissen auf. Der Vater, Emil Gerstel, war ein vermögender Möbelfabrikant. Mutter: Kornelia Gerstel-Strakos, geb. Strakosová. Ihr Bruder Fritz blieb dem elterlichen Milieu verhaftet und wurde ein einflussreicher und wohlhabender Geschäftsmann. Mit ihm blieb sie trotz politischer Differenzen freundschaftlich verbunden. Schwester: Susi Sonnenschein.

LebenspartnerInnen, Kinder: Ab 6.6.1921 mit dem Politiker und Pädagogen Otto Rühle verheiratet. Mit der Heirat verlor sie ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft.

Freundschaften: In den Prager literarischen Zirkeln lernte sie Schriftsteller wie Willy Haas, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und andere kennen. Befreundet mit Gina Kaus, mit der sie einen Briefwechsel führte, Frieda Kahlo, Milena Jesenská und Diego Rivera. Im Exil Kontakt mit Leo Trotzki. Befreundet mit 

Ausbildungen: Besuchte1900 bis 1910 ein deutschsprachiges Lyzeum und danach ein Töchterpensionat in Dresden. Absolvierte 1912 in Prag die Staatsprüfung für Musik am Deutschen Lehrerinnenseminar. Holte 1917 in einem zweijährigen Privatstudium die Matura nach (am Realgymnasium zu Tetschen), studierte ab 1917/18 in Prag und München Germanistik und Philosophie. Unterzog sich in München einer Psychoanalyse, 1921 Dr.phil.

Laufbahn: Sie zeigte schon in ihrer Jugend starkes Interesse für die Literatur, trat einem literarischen Mädchenbund bei und fand Anschluss an die Prager literarischen Zirkel. Die Sommerferien 1918 verbrachte sie als Erzieherin bei der Fürstin Windischgrätz auf Schloss Schönau in Niederösterreich.
1918 setzte sie ihr Studium in München fort. Um 1920 lernte sie die Individualpsychologie Alfred Adlers kennen und unterzog sich bei Leonhard Seif selbst einer Analyse. Während ihres Studiums begegnete sie Otto Rühle.
Entwickelte mit ihrem Mann eine Synthese aus Marxismus und Individualpsychologie Gründete 1922 mit ihrem Mann eine marxistische Arbeitsgemeinschaft und den Verlag „Am anderen Ufer“. Sie hielt in den zwanziger Jahren zahlreiche Vorträge und leitete Kurse in Erwachsenenbildungseinrichtungen. Veröffentlichte Rezensionen über sozialkritische Bücher und arbeitete für den Hörfunk. Im Februar rief sie mit Grete Fantl eine individualpsychologische Erziehungsgemeinschaft ins Leben. 1925 gründete sie mit Otto Rühle die „Studien-, Lese- und Erziehungsgemeinschaft „Das proletarische Kind“ ins Leben. In der Zeitschrift „Das proletarische Kind“ wird unter anderem ein ‚Elternspiegel‘ vorgestellt, der das Fehlverhalten vieler Eltern aufzeigen soll, auch werden Kinder- und Jugendbücher besprochen und empfohlen. 1932 unternahm das Ehepaar eine Reise nach Prag, von wo es aufgrund der politischen Lage nicht mehr zurückkehrte.
1933 wurde ihr Haus in Dresden von der SA geplündert, die zurückgelassene Bibliothek vernichtet. Ihre Veröffentlichungen wurden verboten und vernichtet. 1935 ging Otto Rühle nach Mexiko. Bis zu ihrer Nachreise, ein halbes Jahr später entstanden zahlreiche Briefe, in den sie den Alltag schildert. Diese Briefe befinden sich im Institut für Zeitgeschichte in München. Ihre Interessen und Aktivitäten sind im Prager Exil sehr mannigfaltig, das belegen die zahlreichen Briefe. Sie interessierte sich weiterhin sehr für Kinder- und Jugendliteratur sowie für das Kindertheater. Sie trifft hier unter anderem Anna Maria Jokl, Auguste Lazar und Alex Wedding.Sie veranstaltete unter anderem Kindernachmittage in den Räumen des Prager Tagblatts und der Urania. Ab 1933 gestaltet die die „Kinderwiese“ eine Kinderbeilage des Prager Tagblatt. Januar 1936 bis April 1936 arbeitete sie bei „Svet Prace“ und redigiert dort die Kinderbeilage. 1936 folgte sie ihrem Mann nach Mexiko, der dort einen Posten im Erziehungsministerium der linken Regierung von Lázaro Cárdenas innehatte. Sie war als Übersetzerin in einem Regierungsbüro tätig. 1939 verloren beide ihre Anstellungen. 1939 wurde sie mexikanische Staatsbürgerin. Sie arbeitete für einen Musikverein, schrieb Artikel, übersetzte und hielt Vorträge an der Universität Morelia, verkaufte Aquarelle oder verfasste Kreuzworträtsel um sich und ihren Mann finanziell abzusichern. Der Alltag war sehr zermürbend, was auch in einem Brief an Gina Kaus deutlich wird.

Ihr wichtigstes theoretisches Werk „Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz“ ist heute als ein Schlüsseltext der feministischen Theorie anerkannt. Rühle-Gerstel geht davon aus, dass Weiblichkeit ein Konstrukt sich verändernder Geschlechtsideologien ist. Als zweites Geschlecht sind Frauen zu „Umwegen“ gezwungen, um sich zu behaupten. Sie hat den Begriff der Neurose als intendiertem Lebensplan zwar von Alfred Adler übernommen, im Unterschied zum späteren Adler insistiert Rühle-Gerstel jedoch auf die Notwendigkeit der Neurose, sie beschreibt Neurose als Widerstand und Unangepasstheit.
In ihrem Roman „Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“ geht es um den schwierigen Alltag einer Kommunistin in Prag. Sie reichte den Roman unter dem Pseudonym Barbara Felix bei einem Literaturwettbewerb der American Guild for German Cultural Freedom ein, wurde aber als nicht interessant genug beurteilt und der Autorin zurückgeschickt. Auch der Plan, das Buch in Paris zu veröffentlichen scheiterte, als die Deutschen in Frankreich einmarschierten.
Von Margarete Buber-Neumann wurde sie als „eine kultivierte Europäerin“ beschrieben, die zum Leben Musik, Literatur und Kunst brauche. (Milena-Kafkas Freundin, 1992, S. 121)
Rühle-Gerstel und ihr Mann haben für ihr Erziehungskonzept Begriffe aus der Individualpsychologie – etwa Gemeinschaftsgefühl, Lebensziel, Machtstreben, Ermutigung und Entmutigung adaptiert. Das Kind soll zur Solidarität erzogen werden.Die Familie ist für sie nicht der ideale Ort der Erziehung. Besser wäre eine Erziehungsgemeinschaft.

Als ihr Mann unerwartet an einem Herzschlag starb, stürzte sie sich noch am selben Tag aus dem Fenster.

Werke:
Friedrich Schlegel und Chamfort. Dissertation. München 1921
Freud und Adler. Elementare Einführung in die Psychoanalyse und Individualpsychologie. Dresden: Verlag am anderen Ufer 1924, Zürich: Kopernikus 1989, Spanische Übersetzung 1941
Selbstbewußstein und Klassenbewußtsein. Dresden 1926
Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie. Dresden: Verlag am anderen Ufer 1927, München: Fachverlag E. Reinhardt 1980
Das Stiefkind. 1927
Sexual-Analyse. Psychologie des Liebes- und Ehelebens. Dresden: Verlag am anderen Ufer 1929 (zusammen mit Otto Rühle)
Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz. Leipzig: Hirzel-Verlag 1932, 1982 unter dem Titel „Die Frau und der Kapitalismus. Eine psychologische Bilanz“ im Frankfurter Verlag Neue Kritik erschienen.
Unter Kritzel, Lizzi: Unser Kritzelbuch. Geschrieben, gedichtet und gemalt von vielen Kindern. Prag 1935
Kein Gedicht für Trotzki. Tagebuchaufzeichnungen aus Mexiko. Frankfurt am Main: Fischer 1979
Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer 1984 (1937, 1938 in Mexiko verfasst)
Verlassenes Ende. Gedichte. Hg. Mit einer biographischen Skizze von Marta Marková. Innsbruck. Skarabäus 1998
Prazsky exil Hanny Aschbachové. Brünn 2000

Herausgeberin:

Schriftenreihe des Freidenkerverlages. Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung. Leipzig-Lindenau 1925
Am andern Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung. Zeitschrift ab 1925, abgelöst 1925/26 von Rühle-Gerstel, Alice; Otto Rühle (Hg.): Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung
Schwererziehbare Kinder. Eine Schriftenfolge Dresden 1926-1927, Neu herausgegeben von Gerd Lehmkuhl und Horst Gröner Gotha 2001

Beiträge (Auswahl):

Das falsche Argument. In: Rühle, Otto: Umgang mit Kinder. Grundsätze – Winke – Beispiele. Dresden, 1924 S. 98
Italien. In: Die Einheitsfront, Nr. 14, 1924, S. 3
Kinderreichtum im Proletariat. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung,, Heft 1, 1. Jg., S. 6-7Der Hexenwahn. In: Frauenstimme. Beilage für die Frauen proletarischer Freidenker, Nr. 2, Februar 1925, S. 7-8
Das Ende der Erziehung. In: Am andern Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung. 1925, Heft 5, S. 14-18
Erziehung zum Sozialismus. In: Am andern Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung, Heft 1, 1925, S. 11-15
Individualpsychologie und Erziehung. In: Am andern Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung Heft 1,1925, S. 16-19
Von der Lernschule zur Arbeitsschule. In: Am andern Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung. 1925, Heft 5, S. 20-25
Der Elternspiegel. Eitelkeit. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung. Heft 6, 1. Jg., 1926, S. 138-140
Umgang mit Kindern. Die bürgerliche Welt in der Schule. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung, Heft 9, 1. Jg., 1926, S. 211
Soll Erziehung politisch sein?. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung, Heft 6, 2 Jg. 1926, S. 220-221
Vom Bücherlesen. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung, Heft 5, 2. Jg., S. 105-109
Kindheitserlebnisse und Klassengefühl. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung, Heft 10, 1. Jg., 1926, S. 237-238
Die Bücherei des proletarischen Kindes. Eine Auswahl von Kinderbüchern und Jugendschriften. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung 1926, Heft 5, 2. Jg. 1926, S. 101-105
Erziehung zum Klassenbewusstsein. In: Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung. Heft, 1. Jg., S. 221-223
Autoritätsprobleme. In: Lazarsfled Sofie (Hg.): Technik der Erziehung. Ein Leitfaden für Eltern und Lehrer.1929 Leipzig S. 291-300
Die neue Frauenfrage. In: Die literarische Welt, Nr. 11,1929, S. 1-2
Gibt es heute eine proletarische Kunst? In: Die literarische Welt Nr. 28 1929, S. 1-2
Was man mit Enttäuschungen und Unglück anfangen soll. In: Die literarische Welt, 1931, Nr. 12, S. 3-4
Zeitwende in Frauenbüchern. In: Die literarische Welt, 1932, Nr.11, S. 5
Schule und Erziehung. In: Prager Tagblatt, 29.9.1932, S. 4
Ein Mensch ohne Bücher. In: Prager Tagblatt, 6.8.1933, S. 3
Mitkritzler, kommt mir helfen. In: Die Kinderwiese, wöchentliche Beilage des Prager Tagblatts, 9.12.1933, S. 8
Das tschechoslowakische Jugendhilfswerk. In: Die Kinderwiese, wöchentliche Beilage des Prager Tagblatts, 17.2.1934, S. 1-4
Der Film und die Kinder. In: Die Kinderwiese, wöchentliche Beilage des Prager Tagblatts, 10.3.1934, S. 1-4