Knorr-Cetina, Karin

geb. Zetina

* 19.7.1944, Graz, Stmk.
Sozialwissenschafterin, Wissenschaftstheoretikerin und Ethnologin

K. K.-C. ist die Tochter von Margarete Zetina und Friedrich Zetina,Verleger.
1964 legte K. K.-C. die ExternistInnenreifeprüfung ab und begann im SS 1965 an der Universität Wien Anglistik, Germanistik und Romanistik zu studieren, wechselte jedoch nach dem dritten Semester zur Ethnologie als Hauptfach mit den Nebenfächern Anglistik und Soziologie. Während des Studiums betrieb sie Sprachstudien in London, Vevey und Lausanne. 1969 heiratete sie Dietrich Walter Knorr, das Paar hatte drei Kinder. 1971 promovierte sie bei Haekel und Hirschberg. Im Mittelpunkt der strukturanalytischen Untersuchung ihrer Dissertation „Struktur, Morphologie und Motive einer Oralliteratur. Das Erzählungsgut eines bolivianischen Guarani Stammes“ steht nicht für ein spezifisches Genre mündlicher Überlieferung, sondern die Kultur eines Tupi-Guarani Stammes, als deren wesentlichen, weitgehend unberührten Bestandteil sie das vorliegende Erzählmaterial wertet. Das Material, 70 Erzählungen, wurde 1964 in einer 8-monatigen Feldforschung von Dr. Jürgen Riester bei einem Tupi-Guranai Stamm in Bolivien gesammelt. Das Thema zeigt schon die Verlagerung ihres Interesses von der Völkerkunde, die für sie in Wien zu sehr historisch orientiert war, hin zur Soziologie.
Nach dem Diplom für Soziologie am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien, wurde sie dort von 1972- 1978 als Assistenzprofessorin angestellt, daneben hielt sie Vorlesungen an den Universitätsinstituten für Soziologie und Völkerkunde. Im Zuge der Auseinandersetzung um den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie begann sie sich mit Wissenschaftsforschung zu beschäftigen. Die andauernden Diskussionen über Status und Methodologie der Sozialwissenschaften waren für sie ”…a constant stimulus for reflection on and for the continued interest in science“. Als sie 1976 mit einem Stipendium an die University of California in Berkely ging, war sie entschlossen ”…to do something completely different, non-quantitative, to use a different approach,…“ (Callebaout 1993,181). Das Buch ”The Manufacture of Knowledge“ ist das erste Ergebnis dieses neuen Ansatzes. Sie hatte NaturwissenschafterInnen bei der Arbeit im Labor beobachtet und damit ”…found some native tribes in my own society, and the esoteric, the strange, the challenge of NOT understanding which I had looked for.“ (Knorr 1991, 3). Von Oktober 1976 bis Oktober 1977 analysiert sie für diese empirische Studie Laborarbeiten und Forschungspapiere eines großen naturwissenschaftlichen Forschungszentrums in den USA mit anthropologischen und ethnographischen Methoden. Sie gehört mit Bruno Latour und Steve Woolgar zu den einflussreichsten Autoren der Laboratory Studies. Sie stellt dabei die These auf, dass wissenschaftliche Erkenntnis keineswegs zureichend als kognitiver Prozess mit bestimmten methodischen Voraussetzungen beschrieben werden könne, wie das der Kritische Rationalismus versucht. Vielmehr müsse die wissenschaftliche Erkenntnis als Resultat eines sozialen und technischen Konstruktions- und Herstellungsprozesses beschrieben und verstanden werden, der weitgehend von zur Verfügung stehenden Ressourcen und den Arbeitsbedingungen der Forscher − auch der Naturforscher − abhänge. Zudem beschreibt sie den Prozess der Normierung, durch den aus der vielfältigen Interaktion im Labor das wissenschaftliche Produkt (”research paper“) hergestellt wird.
Besonderen Wert legt sie dabei auf die Interaktion innerhalb der Arbeitsgruppe und über diese hinaus. Für das Forschen und wissenschaftliche Arbeiten, das sie in Labors beobachtete und beschrieb, prägt sie den Begriff des „Labor-Opportunismus“: Demnach sind wissenschaftliche Entscheidungen und Wahlhandlungen („Selektionen“) in erster Linie an Gelegenheiten orientiert (Vorhandensein von Geräten, Karrierechancen, Projektgelder etc.), sie entsprechen K. K.-C. zufolge nicht dem Bild des Testens von Hypothesen, wie es in klassischen Wissenschaftstheorien (etwa bei Karl Raimund Popper) vertreten wird. Ihre Ergebnisse führen sie zu einer radikalen Kritik des Begriffs der ”scientific community“.
Nach Berkeley war K. K.-C. noch als Research Fellow am Department of Sociology of Science and Society an der Virginia Polytech Institute and State University (1981-82), als Professorin an der Wesleyan University (1982-83) und als Member an der School of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton (1992- 93) tätig. In Deutschland habilitierte sie sich 1981 für Soziologie an der Universität Bielefeld, war dort bis 1983 Privatdozentin und seit 1988 Professorin für Soziologie. Danach war sie an der Universität Konstanz tätig, bevor sie 2010 emeritiert wurde.
Ihre gegenwärtigen Interessensgebiete sind Neuere Soziale Theorie, Kultursoziologie, Wissenschafts- und Technologiesoziologie, Wissenssoziologie, Methoden und Methodologie, Soziologie von Organisationen, sowie Rechtsordnung und sozialer Wandel. An ihr Studium der Ethnologie erinnern die Titel einiger ihrer Artikel, in denen sie ethnographische oder anthropologische Studien des Wissenschaftsbetriebs vorstellt.
K. K.-C. ist eines der Gründungsmitglieder von 4S, der Society for Social Studies of Science und Mitglied der editorial boards mehrerer wichtiger Zeitschriften, z. B. von: ”Social Studies of Science“, ”Sociological Forum“, ”Knowledge, Society and Human Values“, ”Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Science“ und der „Zeitschrift für Wissenschaftsforschung“.
Sie war Beraterin der UNESCO und Prorektorin der Universität Bielefeld. Sie wirkte bei unzähligen Konferenzen, Symposien und Projekten.

Werke

Morphology of Folktales. In: Review of Ethology 3 (2), 1968, S. 9-12.
Just a Passing Fashion. In: Review of Ethnologgy 11 (1), 1969, S. 1-2.
The Structural Study of Oral Literature: Preliminary Survey II. In: Review of Ethnology 3 (14), 1971, S. 105-108.
Methodik der Völkerkunde. In: Enzyklopädie der Geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden. Band 9: Methoden der Anthropologie, Anthropogeographie, Völkerkunde und Religionswissenschaft. R. Oldenburg, München,Wien, 1973, S. 295-345.
Gem. mit Haller, M. / Zilian, H.- G.: Sozialwissenschaftliche Forschung in Österreich. Jugend u. Volk-Verlag-Ges., 1981
The manufacture of knowledge: an essay on the constructivist and contextual nature of science. Pergamon Press, 1981. (Deutsche Ausgabe u. a.: Die Fabrikation von Erkenntnis: zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Suhrkamp, 1991.)
Gem. mit Cicourel, A. V.: Advances in social theory and methodology: toward an integration of micro- and macro-sociologies. Routledge & Kegan Paul, 1981.
Gem. mit Mulkay, M. Joseph: Science Observed: Perspectives on the Social Study of Science. Sage Publications, 1983.
Epistemic Cultures: How the Sciences Make Knowledge, Harvard University Press, 1999.
Fifteen years of social studies of science: Where do we come from and where might we go? Unpublished paper presented at the Plenary Panel ”15 Years of Social Studies of Science“, Annual Meeting of the Society for Social Studies of Science, Cambridge, November 13-17, 1991.
Wissenskulturen: ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Suhrkamp, 2002.

Literatur / Quellen

Gülisch, Ch.: Karin Knorr-Cetina: Soziologie der Finanzmärkte. Studienarbeit, Grin, 2006.
Smetschka, B.: Frauen – Fremde – Forscherinnen. Leben und Werk der Absolventinnen des Wiener Instituts für Völkerkunde 1945- 1975. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Frauengeschichte. Peter Lang (Europäische Hochschulschriften), Berlin, Frankfurt/M., 1997, S. 113-116.

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