Kadmon Stella; Kabarett- und Theaterdirektorin, Schauspielerin und Kabarettistin
Geb. Wien, 16.7.1902
Gest. Wien, 12.10.1989
Vater: Moritz Kadmon, aus einer Belgrader sephardischen Familie stammend, Absolvent der TU Wien, dann Beamter (geb. 1872; kam ins KZ Theresienstadt, von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet). Mutter: Malvine, geb. Nelken (1878-1953), diplomierte Konzertpianistin und Musikpädagogin, von ihrem Mann geschieden, emigrierte nach Palästina. Geschwister: 1) Richard („Riki“) Kadmon (1900-1971), Ringer des jüdischen Sportvereins „Hakoah“, emigrierte nach Palästina, wo er eine Ringerschule unterhielt, nach der Remigration Unternehmer in Wien. 2) Otto Kadmon (1907-1995), Anwalt, engagierte sich in den 30er-Jahren für die kommunistische „Rote Hilfe“, emigrierte über die Schweiz und Frankreich in die USA.
St. K. erbte die Theaterleidenschaft von ihrer Mutter, die jedoch aus Familienrücksichten auf den Beruf einer Schauspielerin verzichten musste. St. absolvierte die Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien, fand in der Saison 1922/23 ein erstes Engagement am Linzer Landestheater und trat dann in Mährisch-Ostrau sowie an verschiedenen Kabarettbühnen in Wien und Deutschland auf. Des Tourneelebens überdrüssig und unter dem Eindruck von Werner Fincks Berliner „Katakombe“ gründete sie in Wien die Kleinkunstbühne „Der liebe Augustin“, die am 7. November 1931 im Café Prückel in Wien 1, Biberstraße, ihre Pforten öffnete. Trotz enormer Anfangschwierigkeiten, die auf die mangelnde finanzielle Basis zurückzuführen waren, konnte sich „Der liebe Augustin“, getragen von einem engagierten und idealistischen Ensemblekollektiv rund um den Haus- und Blitzdichter Peter Hammerschlag, den Blitzzeichner und Maler Alex Sekely und den Komponisten Fritz (Fred) Spielmann, bald durchsetzen und in der Wiener Theaterszene Fuß fassen. Der Zuzug der Exilanten aus Nazi-Deutschland, allen voran des Schriftstellers Gerhart Herrman Mostar, mit dem St. K. auch privat eine enge Beziehung verband, trug zur künstlerischen Bereicherung wesentlich bei. Ab 1935 wurde im Sommer auf der Hohen Warte in Wien-Döbling auch ein Freilufttheater, „Der liebe Augustin im Grünen“, bespielt. Die letzte Vorstellung des „Lieben Augustin“, der die Ära der politisch-literarischen Kleinkunst in Wien begründet hatte und – trotz zensurbedingter Einschränkungen durch den Ständestaat – gegen den Faschismus aufgetreten war, fand am 9. März 1938 statt.
Nach dem „Anschluss“ war St. K. mit ihrer Familie gezwungen, Österreich zu verlassen. Unter teilweise lebensbedrohenden Bedingungen flüchtete sie über Jugoslawien und Griechenland nach Palästina. In Tel Aviv eröffnete sie am 8. April 1940 wieder ein eigenes Kabarett, „Papillion“, dem allerdings trotz Anfangserfolgs kein langer Bestand beschieden war. St. unternahm daraufhin Tourneen durch verschiedene Orte des Landes und trat auch vor Soldaten der britischen Armee auf. Zuletzt veranstaltete sie ab 1943 erfolgreiche Chanson- und Leseabende auf dem Dachgarten ihres Wohnhauses in Tel Aviv (etwa F. Werfel, „Jakobowsky und der Oberst“ oder B. Brecht, „Furcht und Elend des Dritten Reiches“), die jedoch aufgrund von terroristischen Bombendrohungen eingestellt werden mussten.
Entschlossen, zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Österreich zurückzukehren und den Theaterbetrieb wieder aufzunehmen, kam St. am 29. April 1947 nach Wien zurück und hatte wie viele Remigranten mit anfänglichen Schwierigkeiten – in ihrem Fall ging es um die Wiedererlangung der Theaterkonzession – zu kämpfen. Trotzdem konnte sie den „Lieben Augustin“, der zwischenzeitlich von Fritz Eckhardt übernommen worden war, zu Saisonbeginn 1947/48 wieder eröffnen. Als sich allerdings das Konzept des literarischen Kabaretts als nicht (mehr) zeitgemäß erwies, wagte sich St. K. im April 1948 auf Anraten des späteren Justizministers Christian Broda an die Aufführung von Szenen aus Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, womit sich erstmals ein Wiener Theater mit dem Thema der Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzte. Aufgrund des durchschlagenden Erfolgs entschloss sich St. K., dieser neuen Linie treu zu bleiben und ihrem Theater den programmatischen Namen „Theater der Courage“ zu geben. Der eklatante Nachholbedarf an Gegenwartsliteratur und die Entdeckung neuer Autoren bestimmten den vorerst eher avantgardistischen Spielplan, es kam zu vielen, oft finanziell risikoreichen Ur- und Erstaufführungen, etwa W. Borchert, „Draußen vor der Tür“, J. P. Sartre, „Die ehrbare Dirne“ oder F. Bruckner, „Die Rassen“. Das „Theater der Courage“ wurde damit – so wie vormals „Der Liebe Augustin“ – richtungweisend für eine neue Gattung von Kleinbühnen in Wien. Und trotz mancher notwendiger Konzessionen an den Publikumsgeschmack und eines für die ersten zehn Jahre garantierten Einspruchsrechts des Stiftes Seitenstetten als Vermieter der seit 7. November 1960 bezogenen neuen Räumlichkeiten auf dem Franz-Josefs-Kai in Wien, konnte St. K. bei der Führung ihres Theaters und der Gestaltung ihres Spielplans ihren persönlichen Idealen – Antirassismus, Antifaschismus, Pazifismus und Humanismus – treu bleiben.
Anfang der 70er-Jahre unternahm die neuen Wegen stets aufgeschlossene „Prinzipalin“ (Hans Weigel) mit ihrem „Theater der Courage“ das Experiment einer Kollektivführung gemeinsam mit den Regisseuren und Schauspielern Werner Prinz, Dieter Berner und Wolfgang Quetes, das allerdings trotz künstlerischer Erfolge aufgrund tiefgreifender Auffassungsunterschiede letztendlich fehlschlug. 1980/81 wandelte „die Kadmon“ ihr Theater in eine Ges. m. b. H. mit der Schauspielerin, Regisseurin und nachmaligen Theaterdirektorin Emmy Werner als Gesellschafterin um. Am 7. November 1981 konnte St. K. ihr 50jähriges Jubiläum feiern, die letzte Vorstellung in ihrem Theater fand am 31. Dezember 1981 statt.
St. K. war eine der bestimmendsten Theaterpersönlichkeiten Wiens sowohl der Zwischenkriegszeit als auch nach 1945; ihre Theatergründungen waren Vorbild für die Entwicklung der Kleinkunst- und Kellerbühnen ihrer Zeit. Zudem entdeckte und förderte sie viele später bekannt gewordene junge KünstlerInnen (SchauspielerInnen und RegisseurInnen), sei es Cilli Wang, Leon Askin oder Gusti Wolf im „Augustin“, Emmy Werner, Karlheinz Hackl oder Heinz Marecek in der „Courage“.
Ausz.: 1968 Silberne Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien, 1976 Titel Professor, 1982 Goldenes Verdienstzeichen des Landes Wien, 1990 Gedenktafel an ihrem ehemaligen Wohnhaus, Franz-Josefs-Kai 23. Ausstellung: 1996 Jüdisches Museum in Wien. Verkehrsflächenbenennung in Wien 10: „Stella-Kadmon-Weg“.
Qu.: Nachlass: Jüdisches Museum, Wien; Theatermuseum, Wien.
W. u. a.: Bolbecher 1991, Czeike 1994, Joukhadar 1980, Lebensaft 1994, Mandl 1993, Perthold 1998, Peter 1996, Peter 1997, Peter 1998, Reisner 1961, Röder/Strauss 1980-1983, Steines 1993, Wagner 1996, Darstellungen in diversen Kabarettgeschichten etc., ÖBL-Online (Biographie des Monats Juli 2012)
Elisabeth Lebensaft