Hainisch-Marchet Ludovica, geb. Marchet; Pädagogin
Geb. Wien, 29.6.1901
Gest. Überlingen am Bodensee, Deutschland, 22.8.1993
Herkunft, Verwandtschaften: Vater: Dr. Gustav Marchet, 1846-1916. Agrarjurist, mehrmals Rektor der Hochschule für Bodenkultur, Reichsratsmitglied, ab 1907 im Herrenhaus, 1906-1908 Unterrichtsminister im Konzentrationskabinett Beck. Liberal, wichtige Reformen im Agrarrecht und im Schulsystem. Mutter: Emilie, geb. Schwäger von Hohenbruck.
LebenspartnerInnen, Kinder: Von 1933-1937 verheiratet mit Dr. Erwin Hainisch, Kunsthistoriker am Bundesdenkmalamt in Linz, Sohn des parteilosen Altbundespräsidenten Dr. Michael Hainisch. Ehe 1937 geschieden und kirchlich annulliert. Späterer Lebenspartner war ihr langjähriger Mitarbeiter Rudolf Kießlinger, Techniker.
Ausbildungen: Matura, Lehramtsstudium für Deutsch und Französisch in Wien (1929-1933). Autodidaktin – beherrschte inkl. Esperanto neun Sprachen.
Laufbahn: L. H.-M. war sehr früh vom Gedanken der Völkerverständigung begeistert, arbeitete von 1923-1929 im Sekretariat der juristischen Sektion des Völkerbundes in Genf. 1929-1933 Studium in Wien. In den 1930er-Jahren Beginn einer lebenslangen Freundschaft mit Paulus und Edith Geheeb, Leiter einer gewaltfreien Schule zuerst in Deutschland (Odenwaldschule), dann in Goldern in der Schweiz, sowie mit Mathilde Vaerting. 1933 Übersiedlung nach Linz, Unterricht an dortiger AHS. Nov. 1934-Feb. 1936 Herausgabe der Monatsschrift „Europa Echo, das Blatt für zwischenstaatliche Verständigung“, Redaktion in Wien. Inhalt: Artikel zur Völkerverständigung und Friedensförderung sowie Erziehung dazu, Berichte über Hilfsorganisationen, Frauenbewegung, Kunst und Literatur. Käthe Braun-Prager, langjährige Freundin Rosa Mayreders, leitete die Abteilung Kunst u. Literatur. Einladungen zu Vorträgen, z. B. von Sofie Lazarsfeld, im Anfang 1935 gegründeten Wiener Frauenclub Call, dessen Vorsitzende L. H.-M. im Oktober 1935 wird. In jeder Ausgabe gibt es die Kolumne „Hallo Europa“ mit Kurzberichten über politische Tätigkeiten in aller Welt, besonders über die weltweite Aufrüstung und das Geschehen im nationalsozialistischen Deutschland. Sommer 1937 Rückkehr nach Wien, im Schuljahr 1937/38 Unterricht am privaten Mädchengymnasium Luithlen in Wien I., Tuchlauben 14, mit einem hohen Anteil an jüdischen Schülerinnen. Im Herbst 1938 geht L. H.-M. nach Italien, unterrichtet Kinder einer Adelsfamilie. 1939 vor Kriegsausbruch Emigration nach Schweden. Sie verdient Geld mit Übersetzungen, Privatunterricht, der Arbeit mit schwer erziehbaren Kindern. Als sie eine große Wohnung mieten kann, richtet sie darin ein Flüchtlingsheim ein. Nach Kriegsende unterstützt sie von Schweden aus Hilfsaktionen in Österreich und Deutschland. 1946 nach der Lektüre von Emery Reves‘ „Die Anatomie des Friedens“ beginnt sie am Aufbau des Weltföderalismus mitzuarbeiten, dessen Ziel die Idee eines Staatenbundes mit verbindlichem Gesetzeskodex zur Friedenssicherung ist. 1949 Rückkehr nach Wien, L. H.-M. arbeitet für den Weltföderalismus, propagiert neue Methoden der Bodenpflege in der Landwirtschaft, gewaltfreie Erziehung, Einbindung der Frauen in das politische Geschehen, neue Formen der Geldwirtschaft.
1951 parteilose Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, weltweit erste Frau, die sich um das höchste Amt im Staat bewirbt, über das in einer Volkswahl entschieden wird. Fünf Mitbewerber, ein weiterer parteilos. Wahlprogramm: die schon erwähnten Anliegen plus mehr direkte Demokratie. Sie wird verlacht, diffamiert, wahrscheinlich um Stimmen betrogen und erzielt nur 2.132 Stimmen. Auch die Frauen, auf deren Solidarität sie gebaut hatte, wählen lieber einen Mann. Anschließend Weiterarbeit für ihre Anliegen. Vortragsreisen zum Thema Bodenpflege nach Raoul France, Vorträge über Erziehung nach dem Muster von Paulus Geheebs „Ecole d´Humanite“ in der Schweiz, über die Machtpsychologie von Mathilde Vaerting. Juni 1952 – Ende 1955 Herausgabe der Monatsschrift „Wissen und Gewissen“ mit Artikeln zu diesen Inhalten, Informationen über die Weltföderalisten, Buchbesprechungen, Einladungen zu Vorträgen. Chefredakteur ist Rudolf Kießlinger.
1956 Übersiedlung nach Deutschland. L. H.-M. arbeitet an Übersetzungen, gibt Sprachunterricht, illustriert Kinderbücher, hält Vorträge, schreibt Zeitungsartikel. Rudolf Kießlinger arbeitet seit 1955 als Techniker bei Siemens in München. Beider Ziel: Errichtung einer Ecole d´Humanite nach Geheeb in Österreich. In allen Ferien arbeitet L. H.-M. ohne Bezahlung an Geheebs Schule in Goldern/Schweiz. 1961 Übersiedlung nach Konstanz, Arbeit wie bisher. 1965 Übersiedlung nach Überlingen am Bodensee, wo auch Kießlinger nun arbeitet. 1965 – 1970 leitet L. H.-M. in Überlingen ein von der International Association for Religious Freedom aus den USA betriebenes, von der Albert Schweitzer Stiftung gefördertes Albert Schweitzer College. Ziel: ca. 20 – 25 meist amerikanische Studenten sollen ein Jahr lang ihre Sprachkenntnisse vertiefen, in Form von Projekten an der Zusammenarbeit der Religionen zur Erhaltung von Friede, Freiheit, Gleichheit arbeiten.
Anschließend Reduzierung des Arbeitseinsatzes auf Grund gesundheitlicher Probleme. Sie unterstützt Kießlinger bei der Verwirklichung seiner Ideen zum Bau vorfabrizierter Energiesparhäuser.
Mai 1986: Freda Meissner-Blau besucht ihre Vorläuferin als Präsidentschaftskandidatin mit Grün-Ideen.
Am 22. August 1993 stirbt L. H.-M. in Überlingen. 1982 wird das von ihr so heftig propagierte Buch „Das Leben im Boden“ von Raoul France neu aufgelegt weil brandaktuell.
Seit den 1970er Jahren gewinnen Mathilde Vaertings Aussagen zum Geschlechterverhältnis und zur Machtsoziologie wieder an Beachtung.
W.: „Ehrfurcht vor dem Leben als Staatsgrundgesetz“ (1952). Zeitschrift „Europa Echo“ Nov.1934 bis Feb.1936, Zeitschrift „Wissen und Gewissen“ Juni 1952 bis Dez.1955
Elsa Koss