Fischer, Maria (Marie); Seidenwinderin und Widerstandskämpferin
Geb. St. Pölten, NÖ, 30.6.1897
Gest. Wien, 6.2.1962
Herkunft, Verwandtschaften: M. F. kam am 30. Juli 1987 in St. Pölten als eine von drei Töchtern des Sattlergehilfen Johann Fischer und der Antonie Fischer, geb. Kronigl, zur Welt. Ihre Schwestern waren Amalie (geb. am 17. Februar 1895 in Melk, gest. am 19. Juli 1943 in Brünn durch Suizid) und Antonie (gest. 1934) Fischer.
Laufbahn: Nach Absolvierung der Volksschule erlernte sie den Beruf der Seidenwinderin und arbeitete als Textilarbeiterin in verschiedenen Betrieben Sie übersiedelte gemeinsam mit ihrer Mutter Antonie von St. Pölten nach Wien.
1916 wurde sie Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und der freien Gewerkschaften. Am 23. September 1918 gebar sie ihren einzigen Sohn Karl Fischer, den sie selbstbewusst „Kegel“ – ein Ausdruck für ein uneheliches Kind – nannte. Dieser Name wurde später von Karl Fischer als Deckname im Untergrund verwendet.
M. F. kam 1935/36 durch ihren Sohn mit den „Revolutionären Kommunisten Österreichs“ (RKÖ) in Kontakt, sie wurde deren Mitglied und stellte ihre Wohnung in der Wiener Gusenleithnergasse 11 als Sekretariat für die Untergrundarbeit zur Verfügung.
Durch die enge politische Verbindung mit ihrem Sohn war ihr Leben in Folge auch untrennbar mit dem Schicksal ihres Sohnes verbunden.
M.s Sohn Karl wurde 1936 verhaftet und am 23. September 1937 gemeinsam mit Georg Scheuer und weiteren Gesinnungsgenossen im Wiener „Trotzkistenprozess“ wegen Hochverrat zu fünf Jahren schwerem Kerker verurteilt − verschärft durch einen Fasttag vierteljährlich −, mit der Februaramnestie 1938 aber vorzeitig aus der Haft in Krems-Stein entlassen Er emigrierte anschließend über die Schweiz nach Belgien und Frankreich, wo er im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv war. 1943 in Frankreich festgenommen, wurde er 1944 an die Gestapo ausgeliefert und anschließend ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland schloss sich M. F. der trotzkistischen Widerstandsgruppe „Gegen den Strom“ an, wobei sie wiederum ihre Wohnung in der Wiener Gusenleithnergasse als Zentrale zur Verfügung stellte. Ihre Freunde und Gesinnungsgenossen nannten sie liebevoll „Mitzi-Tante“. Als Decknamen für ihre Untergrundarbeit verwendete sie das Wort „Netz“. Sie arbeitete in dieser Zeit bei der Wiener Firma Hans Amfaldern als Hilfsarbeiterin. Am 27. Januar 1941 verurteilte sie der Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Wien-Niederdonau durch einen Ordnungsstrafbescheid wegen Arbeitsverweigerung an einem Sonntag zu einer Geldstrafe von 8 Reichsmark.
1943 wurde die Widerstandsgruppe „Gegen den Strom“ von der Gestapo aufgerollt. Bei einer Hausdurchsuchung wurden bei M. F. eine Schreibmaschine, Papier und weitere Utensilien für die Herstellung von Flugblättern sichergestellt, die sie in eigens angefertigten Geheimfächern von Wäschekästen versteckt hatte. Sie wurde am 14. Mai 1943 wegen „hochverräterischer Betätigung“ in Schutzhaft genommen und am 10. Dezember 1943 mit anderen Gesinnungsgenossen wegen Vorbereitung zum Hochverrat vom 5. Senat des Volksgerichtshofes in Wien zu fünf Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt.
Sie verbrachte ihre Haftzeit zunächst im Frauenzuchthaus Jauer (Jawor) in Niederschlesien (Polen) und anschließend im Frauenstrafgefängnis in Leipzig-Kleinmeusdorf. Am 20. April 1945 wurde sie durch amerikanische Truppen befreit. Zu Fuß schlug sie sich bis nach Linz durch, wo sie durch Zufall – noch in Zuchthauskleidung – von ihrem Sohn Karl, der zuvor aus dem Konzentrationslager Buchenwald entlassen worden war, in der Nietzschestraße wiederentdeckt wurde. Karl nahm sie bei sich in seiner Linzer Wohnung auf.
Am 21. Januar 1947 wurde Karl Fischer auf der Linzer Nibelungenbrücke an der sowjetisch-amerikanischen Demarkationslinie vom sowjetischen Geheimdienst NKWD entführt und wegen angeblicher Spionage zu fünfzehn Jahren „Besserungsarbeitslager“ verurteilt.
Nach dem für sie unerklärlichen Verschwinden ihres Sohnes erstattete M. F. am 22. Januar 1947 eine Abgängigkeitsanzeige, jedoch ohne Erfolg. Vergeblich setzten seine Gesinnungsgenossen alle Hebel in Bewegung, um eine Intervention offizieller österreichischer Stellen bei den sowjetischen Behörden zu erwirken. Karl Fischer wurde in die Sowjetunion verschleppt und trotz eines Selbstmordversuches bis 1955 in mehreren Gulags in Ost-Sibirien (Magadan, Jagoda, Maxim Gorki, Dnjeprowsk, Lazo), dann ab April 1952 im Politisolator „Alexandrowsk“ bei Irkutsk inhaftiert.
M. F. erfuhr vom Schicksal ihres Sohnes erst sehr spät und konnte trotz vielfacher Ansuchen um Gestattung des Briefwechsels erst im Frühjahr 1955 mit ihm schriftlich Kontakt aufnehmen.
Mittlerweile von Linz nach Wien zurückgekehrt, konnte sie ihren im Zusammenhang mit dem Abschluss des österreichischen Staatsvertrages aus der Sowjetunion repatriierten Sohn Karl im Juni 1955 in Wiener Neustadt empfangen und wieder bei sich in ihrer Wiener Wohnung in der Gusenleithnergasse aufnehmen. Während ihrer Pension betreute sie die Grinzinger Wohnung des Jugendfreundes ihres Sohnes, Josef Hindels, weshalb sie von ihrem inzwischen geborenen Enkel auch „Grinzinger“ genannt wurde.
M. F. starb am 6. Februar 1962 nach einem Schlaganfall in Wien.
Qu.: Dokumente (Originale in Privatbesitz): Bestätigung der Abgängigkeitsanzeige, Bundes-Polizeikommissariat Urfahr, Kriminalabteilung, vom 25. April 1947; Entlassungsschein des Frauenstrafgefängnisses Leipzig-Kleinmeusdorf vom 20. April 1945; Maria Fischer, erste Postkarte an Karl Fischer in der UdSSR vom 26. April 1955; Ordnungsstrafbescheid des Reichstreuhänders der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Wien-Niederdonau vom 27. Januar 1941; Schutzhaftbefehl des Reichssicherheitshauptamtes Berlin vom 13. Mai 1943; Sterbeurkunde Amalie Fischer, Standesamt Brünn-Stadt, Nr. 816/1943 vom 17. August 1943; Sterbeurkunde Maria Fischer, Standesamt Wien-Penzing, Nr. 1130/1962 vom 8. Februar 1962; Tagesberichte der Gestapo, 1. November 1943 – 31. Dezember 1943, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Nr. 8477.
L.: Arbeitsgruppe Marxismus 2001, Barron 1974, Dewar 1951, Fischer 1990a, Keller 1980, Keller 1980a, Keller 1980b, Kuschey 2003, Scheuer 1991, Anklage 7J 327/43. Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse – Nr. 5 (30.4.1943). Urteil 5H 102/43 -7J 327/43. In: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933-1945: http://db.saur.de/DG20/, DÖW: Nicht mehr anonym – Fotos aus der Erkennungsdienstlichen Kartei der Gestapo Wien: http://www.doew.at/, Kanzler, Christine: Fischer, Maria (Marie); Deckname: Netz, Seidenwinderin und Widerstandskämpferin: www.univie.ac.at/biografiA/
Roland Fischer