Beer-Jergitsch Lilli; Kindergärtnerin und Lektorin
Geb. Graz, Stmk., 2.4.1904
Gest. Wien, 17.7.1988
L. J. wird am 2. April 1904 in Graz geboren. Bereits ihre Eltern waren Kommunisten und an der Gründung des Arbeitervereines „Kinderfreunde“ in Graz beteiligt. L. J. besucht 1919 in Wien die Erzieherinnenschule der Kinderfreunde in Schönbrunn. Dort lernt sie den Psychologen Alfred Adler und den Philosophen Max Adler kennen. 1922 bekommt sie eine Stelle als Horterzieherin, wird aber bald darauf arbeitslos; 1926 tritt L. J. der Kommunistischen Partei bei. Bei ihrem ehemaligen Lateinlehrer Johannes Wertheim, der zu dieser Zeit den „Verlag für Literatur und Politik“ (Litpol-Verlag) leitet, arbeitet L. J. als Verlagsgehilfin und liest dort die Werke Lenins. Im Litpol-Verlag begegnet L. J. auch den führenden Kommunisten aus Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien. L. J. versucht vergebens eine Stelle als Kindergärtnerin oder Erzieherin bei der Gemeinde Wien zu bekommen. Ihre Stellengesuche werden unverblümt ihrer „kommunistischen Sympathien“ wegen abgelehnt. Die Sowjetunion wird für die junge Frau das Land der Sehnsucht, die letzten Jahre, die sie in Österreich verbringt, ist sie für die KPÖ tätig. Sie arbeitet in der Arbeiterbuchhandlung und als Sekretärin in der Gewerkschaftsabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, sie verteilt Flugzettel, geht nachts plakatieren und nimmt an der Parteikonferenz von 1927 als Stenographin teil.
Das Jahr 1928 bringt eine große Wende in L. J.s Leben. Sie reist mit einer Gruppe von SportlerInnen, die an der Spartakiade, dem großen internationalen Arbeitersportfest, teilnehmen, nach Moskau in der Absicht sich dort niederzulassen. Zu diesem Zeitpunkt ist die junge Frau hochschwanger, ein Umstand der sie bestärkt in die UdSSR auszuwandern, da sie sich wünscht, dass ihr Kind in der Sowjetunion zur Welt kommt. Der Vater, dessen Identität sie nie preisgibt, war für L. J. kein Grund zu bleiben, da sie ihn, nach eigenen Angaben, ablehnte. Sie verlässt ihre bisherige Heimat völlig mittellos.
In Moskau verbringt sie nur wenige Tage, sie wird in die Republik der Wolgadeutschen, genauer in deren Hauptstadt, nach Pokrowsk, gebracht, wo sie zwei Jahre lang leben und arbeiten soll und wo auch ihr Sohn Fritz zur Welt kommt. L. J. arbeitet als literarische Mitarbeiterin der zwei deutschsprachigen Zeitungen der Stadt, zunächst bei den „Nachrichten“, später bei der „Roten Jugend“, der Zeitung des Komsomol. Nach einem zweimonatigen Wienurlaub kehrt L. J. im Herbst 1930 nach Moskau zurück und ist für den „Verlag der nationalen Minderheiten“ in dessen deutscher Redaktion tätig. 1931 wird dieser Verlag aufgelöst. L. J. arbeitet von 1933-1938 als Bibliothekarin und Übersetzerin für die „Deutsche Zentrale Zeitung“. Sie entgeht, im Gegensatz zu allen anderen MitarbeiterInnen, der Verhaftung, weil sie nicht als Angestellte geführt wurde, sondern als freie Mitarbeiterin gilt. Doch ab dieser Zeit lebt sie in ständiger Angst, ebenfalls verhaftet zu werden. Nach langer Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen Entbehrungen findet sie zunächst eine Anstellung in der Korrekturabteilung einer Druckerei, die sie bis Herbst 1939 innehat. 1940 findet sie die Stelle, die ihre letzte in der Sowjetunion sein soll und die sie vor politischer Verfolgung als „feindliche Ausländerin“ schützt. Sie arbeitet für den „Moskauer Rundfunk in deutscher Sprache“ als Übersetzerin. Der Rundfunk war ein Staatsbetrieb und die MitarbeiterInnen leisteten wichtige Dienste für den Staat. Daher konnte L. J. trotz der großen Ausweisungswelle 1941, welche viele Ausländer erfasste, die in der Folge die Sowjetunion verlassen mussten, in Moskau bleiben. Nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg kommt sie gemeinsam mit einigen ihrer KollegInnen der Rundfunkredaktion fern der feindlichen Linien in der russischen Provinz, in Swerdlowsk und Samara, als Berichterstatterin aus dem Hinterland zum Einsatz. Sie bekommt die Hungersnot in den Kriegszeiten voll und ganz zu spüren. 1943 kehrt sie nach Moskau zurück und betreibt von dort aus ihre Rückkehr nach Wien, die ihr nach einigen Schwierigkeiten, am 31. Juli 1946, gelingt.
Nach ihrer Rückkehr arbeitet sie weiter als Lektorin und verfasst mit Hilfe ihres Mannes Anton Beer ein umfangreiches Manuskript über ihren 18jährigen Aufenthalt in der UdSSR. Dieses Tagebuch ist ein wichtiges Dokument einer Zeitzeugin, welche die Geschehnisse in den Dreißiger und Vierziger Jahren in der Sowjetunion auf eindringliche und unsentimentale Art schildert. Die Beschreibung ihres eigenen Lebens nimmt darin jedoch eine untergeordnete Rolle ein. Viel wichtiger erscheint ihr die Schilderung der Schicksale ihrer Genossinnen und Genossen. L. B.-J. stirbt am 17. Juli 1988 im Alter von 84 Jahren in Wien.
W.: „18 Jahre in der UdSSR. DÖW-Akt 8834“, „Moskau, Dreißiger Jahre: Vom Leben und Überleben. In: Wiener Tagebuch 9“ (1988), „‚Von den „Kinderfreunden‘ zur ‚Roten Jugend‘. In: Wiener Tagebuch 5“ (1988)
L.: Barack/de Rudder/Schmeickel-Falkenberg 2003, Barck 2007, Gauß 1988, McLoughlin/Schafranek/Szevera 1997, Nusko 2007, Nusko 2010
Karin Nusko