Bálint, Alice

geb. Székely-Kovács
* 1898, Budapest, Ungarn, † 1939, Manchester, Großbritannien
Psychoanalytikerin, Ethnologin und Mathematikerin

1917-1924 Studium der Mathematik und Ethnologie in Wien, Budapest und Berlin; Psychoanalyse bei Hanns Sachs in Berlin und Sándor Ferenczi in Budapest; Psychoanalytische Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Lehrinstitut, ab 1923 Mitglied der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung, Forschungen im Museum für Völkerkunde, Erscheinen ihrer ersten ethnologischen Studie; 1926 Wechsel in die Ungarische Psychoanalytische Vereinigung und Abschluss der Ausbildung in Budapest; 1939 Emigration nach Manchester, Aufbau einer psychoanalytischen Arbeitsgruppe gemeinsam mit ihrem Mann.

A. B. war die älteste Tochter der Psychoanalytikerin Vilma Székely-Kovács und deren ersten Mann Zsigmond Székely. In der Villa ihrer Eltern fanden die psychoanalytischen Zusammenkünfte und Diskussionen der ungarischen Psychoanalytiker statt. Die Mutter war über ihren Freund Sándor Ferenczi zur Psychoanalyse gekommen und unterrichtete später am Budapester Lehrinstitut. A. B. wuchs in diesem psychoanalytischen Milieu in Budapest auf. Nach der Scheidung der Eltern verblieb sie mit ihren beiden Geschwistern beim Vater, der zu ihrer Erziehung eine Gouvernante bestellt hatte, die von den Kindern jedoch als „verrückt“ wahrgenommen wurde. Nach sieben Jahren in der Obhut dieser Kinderfrau kehrten die drei zu ihrer Mutter zurück, deren zweiter Ehemann, der Architekt Frédéric Kovács, sie adoptierte.
A. B. studierte von 1917 bis 1924 Mathematik und Ethnologie in Wien, Budapest und Berlin und unterzog sich einer Psychoanalyse bei Hanns Sachs in Berlin und bei Sándor Ferenczi in Budapest. Sie war außerdem eine Schülerin des Ethnopsychoanalytikers Géza Róheim.
Nach dem Ersten Weltkrieg ging A. B. mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Michael Balint (* 3.12.1896 Budapest), nach Berlin, wo sie ihre psychoanalytische Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Lehrinstitut (beide waren in Analyse bei Hanns Sachs) absolvierten. 1923 wurde A. B. Mitglied der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung.
1924 kehrten sie zurück nach Budapest. Anfang 1926 wechselte A. B. in die Ungarische Psychoanalytische Vereinigung. In Budapest schlossen beide Balints ihre psychoanalytische Ausbildung bei Sándor Ferenczi ab. Die Balints gehörten zu den einflussreichen ungarischen Analytikern vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Mann war der stellvertretende Leiter der Poliklinik, die ebenfalls im Hause Kovács untergebracht war. 1939 emigrierte das Ehepaar nach Manchester und arbeitete am Aufbau einer psychoanalytischen Arbeitsgruppe mit. A. B. starb im August desselben Jahres im Alter von 40 Jahren in Manchester an einer Gehirnblutung. Otto Fenichel schrieb daraufhin:
„Wieder ist einer jener Psychoanalytiker, die erkannt haben, daß die Anwendung der Entdeckungen Freuds auf die Soziologie wichtiger ist als die Heilung von einigen Neurotikern, gestorben. Sie hat nie zu unserem ‚Kreise‘ gehört, sich stets gegen die Lehren von Marx und Engels gewandt, ja, diese im Wesentlichen für unvereinbar mit Freud gehalten. Aber sie hat diese Werke wenigstens gelesen, ihre Bedeutung erkannt und sich mit ihnen ernsthaft auseinander gesetzt. Ihre eigenen soziologischen Ansichten, die sie dabei entwickelte, waren meist weit ‚dialektisch materialistischer‘, als sie selbst wußte und zugab, − wobei sie nur immer in einer merkwürdigen Weise bei der Anerkennung der primären Natur der materiellen Bedürfnisse haltmachte. Es war schade, daß sie ihr eigentliches Fach, die Ethnologie, später vernachlässigte, und wir hatten gehofft, daß ihr in letzter Zeit stets zunehmendes Soziologie-Interesse sie wieder dorthin zurückführen werde. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Ihre letzte publizierte Arbeit: Liebe zur Mutter und Mutterliebe, die sie in Prag vortrug, wo ich sie gegen allzu heftige Kritik verteidigen mußte, war klinisch, aber zweifellos von soziologischer Bedeutung.“ (Fenichel 1998, S. 1290.)

In Berlin forschte A. B. im Museum für Völkerkunde, 1923 erschien ihre erste ethnologische Studie „Die mexikanische Kriegshieroglyphe atl-tlachinoli“ in der Zeitschrift „Imago“. Eine weitere Arbeit A. B.s, in der sie ethnologisches Material verarbeitete, wurde ebenfalls in der „Imago“ unter dem Titel „Der Familienvater“ (1926) publiziert. A. B. beschäftigte sich vor allem mit der Kinderanalyse, Erziehungsfragen und der Mutter-Kind-Beziehung. In ihren Fallstudien griff sie oft auf ethnologische Materialien für kulturvergleichende Betrachtungen zurück. Regelmäßig publizierte sie in der ungarischen Zeitschrift „Gyermeknevelés“ (Kindererziehung). Auch aus ihren populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen wird ihr Interesse an einer psychoanalytischen Ethnologie deutlich.
Das Ehepaar Bálint war seit ihren Berliner Jahren mit Otto Fenichel befreundet. Dieser stand mit ihnen in regelmäßigem Briefverkehr und diskutierte ihre Arbeiten in seinen Rundbriefen (Fenichel 1998). A. B. hatte des Öfteren die Arbeiten ihrer Psychoanalytiker-Kollegen, die sich mit der Ethnologie befassten, rezensiert.
Bei der 1937 stattfindenden Vierländertagung der Psychoanalytiker in Budapest beteiligte sich A. B. mit einem Beitrag über die „Grundlagen unseres Erziehungssystems“ und wies auf die Unterschiede zu den sogenannten „Primitiven“ hin, wo sich vor allem die Säuglingszeit und die Pubertätsriten unterschiedlich darstellten und auf die Bindung mit den Erwachsenen auswirkten. Der Ablauf der libidinösen Mutter-Kind-Beziehung in der westlichen Zivilisation sei durch äußere Ursachen gestört worden, was gesellschaftliche Institutionen zur Hintanhaltung der Trennung von Mutter und Kind und zur Verlängerung der libidinösen Abhängigkeit der Kinder notwendig gemacht habe. Zitate: „Von unserer gemeinsamen Begeisterung für ‚Totem und Tabu‘ angefangen bis zu ihrem Tode im Jahre 1939 haben Alice und ich miteinander gelesen und studiert, gelebt und gearbeitet […]. Oft war es reiner Zufall, wer von uns beiden eine unserer Ideen zur Veröffentlichung ausarbeitete. Neben der Psychoanalyse interessierte Alice sich vor allem für Anthropologie und Erziehung […]. Wir haben nur eine Arbeit gemeinsam publiziert; es hätten aber ebensogut alle unter unserer beider Namen veröffentlicht werden können.“ (Michael Bálint, zit. N. Haynal 1989, S. 108).

Literatur / Quellen

Blumesberger, S. / Doppelhofer, M. / Mauthe, G. (Bearb.) / Österr. Nationalbibliothek (Hg.): Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft. 18. bis 20. Jahrhundert. Saur, München, 2002.
Dupont, J. / Balint-Székely, A. / Mijolla, A. de (Hg.): Dictionnaire International de la Psychoanalyse. Calmann-Lévy, Paris, 2002, S. 181.
Harmar, P.: Freud, Ferenczi und die ungarische Psychoanalyse. Edition diskord, Tübingen, 1988.
Haynal, A.: Die Technik-Debatte in der Psychoanalyse. Freud, Ferenczi, Bálint. Fischer, Frankfurt/Main, 1989.
Hoffer, W.: Alice Bálint. Nachruf. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 25., 1940, S. 102 – 103.
Mühlleitner, E. / Reichmayr, J. (Hg.): Fenichel, Otto: 119 Rundbriefe (1934-1945). 2 Bde. Stroemfeld Verlag, Basel, Frankfurt/M., 1998.
Reichmayr, J. / Wagner, U./ Ouederrou, C. / Pletzer, B. (Hg.): Psychoanalyse und Ethnologie. Biographisches Lexikon der psychoanalytischen Ethnologie, Ethnopsychoanalyse und interkulturellen psychoanalytischen Therapie. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2003, S. 32-35.

Werke

Die mexikanische Kriegshieroglyphe atl-tlachinoli. In: Imago, 9, 1923, S. 401-436.
Der Familienvater. In: Imago, 12, 1926, S. 292-304.
Psychoanalyse der frühen Lebensjahre. 1931. Ernst Reinhardt, München, Basel, Neuauflage 1966.
Die Psychoanalyse des Kinderzimmers. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik. 6, 1932, S. 49-130.
Eine besondere Form der infantilen Angst. (Die Angst fallengelassen zu werden). In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik. 7, 1933, S. 414-417.
Besprechung. Róheim Géza: The Riddle of the Sphinx, or Human Origins. In: Imago, 21, 1934, S. 505-507.
Versagen und Gewähren in der Erziehung. Die Übertragung. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 10, 1936, S. 75-83.
Die Grundlagen unseres Erziehungssystems. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 11, 1937, S. 98-101.
Handhabung der Übertragung auf Grund der Ferenczischen Versuche. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 22, 1938, S. 47-58.
Liebe zur Mutter und Mutterliebe. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 24, 1939, S. 33-48.
Gem. mit Bálint, M.: Übertragung und Gegenübertragung. In: Bálint, M. (Hg.): Die Urformen der Liebe und die
Technik der Psychoanalyse. Ernst Klett, Hans Huber, Stuttgart, Bern, 1966, S. 246-254.
Versagen und Gewähren in der Erziehung. In: Cremerius, J. (Hg.): Psychoanalyse und Erziehungspraxis. Fischer, Frankfurt/Main, 1971, S. 3-91.

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