Adolf, Helen(e)
Kulturwissenschafterin
1913 Matura; Ausbildung in Malerei; während des Ersten Weltkrieges Hilfsschwester; 1920-1923 Studium der Germanistik und Romanistik, Wien; 1923 Promotion; April 1939 Emigration in die USA, dort Unterrichtstätigkeit in Latein, Deutsch und Französisch an verschiedenen Schulen in Colorado; an der Pennsylvania State University seit 1943 Lehrende, seit 1946 an der Deutschen Abteilung, seit 1953 ordentliche Professorin für Deutsch; 1963 Emeritierung, weiterhin tätig an verschiedenen Colleges und Deutschunterricht an der Univ. Pennsylvania; Mitgliedschaft in der „Linguistic Society of America“.
Nach dem Abitur 1913 machte H. A. zunächst eine Ausbildung in Malerei. Während des Ersten Weltkrieges war sie als Hilfsschwester tätig. 1920-1923 studierte sie in Wien Germanistik und Romanistik. 1923 schloss sie ihr Studium an der Universität Wien mit einer germanistischen Dissertation „Zur Dramentechnik in Strindbergs historischen Dramen“ ab (die Arbeit ist allerdings an der dortigen Universitätsbibliothek nicht mehr erhalten; auch H. A.s eigenes Exemplar ist bei ihrem Umzug vernichtet worden [Angaben dazu im Archiv der Bibliographia Judaica]).
Für die Pflege ihres Vaters unterbrach sie ihre Ausbildung, die sie erst nach dessen Tod 1926 wieder aufnahm, u. a. im engen Kontakt zu Elise Richter, siehe beispielsweise ihre gemeinsame Veröffentlichung „Studien zum altfranzösischen Alexiusliede“ (Richter, Adolf u. Winkler 1933). Zur engen Beziehung zwischen H. A. und Elise Richter sei auf Richters Autobiographie verwiesen (Richter 1940), in der auch der Dissens der beiden Wissenschafterinnen in Interpretationsfragen deutlich wird.
Ihre damaligen Publikationen erstrecken sich über ein breites kulturwissenschaftliches Feld, das von Religionswissenschaftlichem über Literarisches zu Sprachwissenschaftlichem reicht; von letzterem sei genannt: „Wortgeschichtliche Studien zum Leib-/Seele-Problem“ (1937), die wohl von ihr als Habilitationsschrift geplant waren. Orientiert an lexikalischen „Feld“-Studien (Trier und Weisgerber sind zentrale Referenzen) untersucht sie ausgehend von Übersetzungen von lateinisch corpus die Herausbildung von lexikalischen Oppositionen wie Leib/Körper, Seele/Geist vom Althochdeutschen bis zum Frühneuhochdeutschen. Dabei sind kulturgeschichtliche Zusammenhänge (z. B. Parallelen zum Altfranzösischen) genauso berücksichtigt wie syntaktisch-stilistische Bedingungen (etwa zur Rolle von Demonstrativen bzw. Artikeln bei der Übersetzung, vgl. S. 46 u. ö.; hier dienen ihr K. Bühler und E. Winkler als Referenzliteratur).
Ihre Publikationen haben einen überwiegend literarischen Schwerpunkt: vom Mittelhochdeutschen bis zur Gegenwartslyrik mit einem Schwerpunkt bei der mittelalterlichen Artus- bzw. Gralsdichtung (mit ihren spirituellen Aspekten, vor allem Wolfram), wie auch altfranzösischen Texten (Chrétien), aber auch mit der Herausgabe zweier literarischer Anthologien zur Moderne in der Reihe „Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen“, 1930 und 1932. Daneben hat sie immer auch sprachwissenschaftlich-philologische Themen behandelt, angefangen bei der frühen Arbeit über „got. -rz“ (1930) in der sie ihre phonetische Ausbildung durch Argumentationen zum Silbenschnitt und daraus resultierender Syn- und Apokope bzw. Assimilation unter Beweis stellt; oder der Beitrag „Intonation and word order in German narrative style“ (1940), in dem sie die stilistische Nutzung „mündlicher“ Syntax (initiale Position des finiten Verbs) seit dem 15. Jhd. betrachtet.
Als praktizierende Jüdin emigrierte sie im April 1939 (nach dem Tod ihrer Mutter) in die USA, wo bereits Familienangehörige lebten. Zunächst unterrichtete sie an verschiedenen Schulen in Colorado Latein, Deutsch und Französisch; seit 1943 lehrte sie an der Pennsylvania State University, seit 1946 an der Deutschen Abteilung dort, wo sie 1953 zur ordentlichen Professorin für Deutsch ernannt wurde. 1963 wurde sie emeritiert, unterrichtete aber weiterhin an verschiedenen Colleges bzw. der Univ. Pennsylvania Deutsch.
Ihre Selbstzurechnung zur Sprachwissenschaft geht u. a. aus ihrer Mitgliedschaft in der „Linguistic Society of America“ hervor; gelegentlich publizierte sie auch später noch sprachwissenschaftlich-philologische Arbeiten, besonders zur Altgermanistik, s. etwa „Wulfila and the Idea of Perfection“ (1978), eine detaillierte philologische Studie zu dem gotischen Hapax legomenon fullatojis, das sie explizit im Sinne von Leo Spitzers „historical semantics“ exploriert: im wortgeschichtlichen Zusammenhang der verschiedenen Vorlagen (hebräisch-aramäisch, griechisch, lateinisch), kirchengeschichtlich im Kontext der verschiedenen religiösen Bewegungen (bis hin zu Qumran!), übersetzungstheoretisch in Hinblick auf die unterschiedlichen Übersetzungspotentiale der Textstelle (Mt 5) – vor allem aber auch ideengeschichtlich im Horizont der europäischen Ideenentwicklung, mit Verweisen auf religiöse Bewegungen (Quäker), deutsche Traditionen (Goethe) – und vor allem Emigrantenpositionen (z. B. Franz Werfel), worin sich ihre eigene Haltung spiegelt; dabei ist die Untersuchung kontrolliert durch einen philologischen Positivismus, zu dem sie sich explizit im Sinne ihres Gotisch-Studiums bei Max Hermann Jellinek in Wien bekennt. Im gleichen Sinne hat sie eine Reihe wortgeschichtlicher Studien zum Mittelhochdeutschen vorgelegt, z. B. „Words, Ideas and Reality: An Analysis of ‚ewic lebende’ and ‚durch tugend‘ in the Prologue of the Younger Titurel (1.1 and 10.3)“ (1972), wo sie eine sorgfältige Textanalyse (bei explizit sprachtheoretisch motivierter Zielsetzung, die Bedeutung der Worte aus ihrem Gebrauch zu ermitteln) mit etymologischen, vor allem aber kultur- bzw. geisteswissenschaftlichen Analysen verbindet (philosophische, theologische, mystische Predigt- usw. Traditionen). Extensiv verfolgte sie in vielen ihrer Arbeiten das Netz literarischer Anspielungen, bes. zum Grals-Zyklus, zu dem sie regelmäßig seit den 30er Jahren publizierte. Abgeschlossen hat sie ihre lebenslange Arbeit an diesem Komplex mit dem Werk „Visio pacis. Holy city and grail“ (1960) in dem sie über eine kritische Sichtung der umfangreichen Rezeption (bis hin zu Richard Wagner!) in diesem Stoff die Bearbeitung einer gesellschaftlich erfahrenen Krise sieht: von den frühen literarischen Reaktionen auf die Zerstörung des Tempels in Jerusalem während der Kreuzzüge bis zur jüngeren Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs (und – obwohl von ihr nicht erwähnt – der Schoah). Auf diese Weise ist das Buch, trotz seiner theoretischen Ansprüche (z. B. mit einer formalen Modellisierung der Architektur der Grals-Legende, S. 142-146) ein sehr persönlicher Beitrag nicht nur zur Wissenschaft, sondern, wie der durchgehende Bezug auf Richard Wagner zeigt, zum intellektuellen Diskurs. Die Anmerkungen in dem Band enthalten passim bibliographische Angaben zu ihren einschlägigen Aufsätzen. Der sprachliche Horizont, den sie vor allem auch in kleineren wortgeschichtlichen Studien aufspannte, wurde im Laufe der Zeit immer weiter, dabei kontrolliert an formalen etymologischen Strukturen wie vor allem auch mit ausführlichen Textbelegen. Sie ging dabei über die europäischen Sprachen hinaus auch auf hebräisch-aramäische Quellen zurück, und zwar nicht nur bei religionsgeschichtlich zentralen Wörtern/Begriffen, sondern auch bei so kuriosen Etymologien wie der von Halali, siehe den Aufsatz „F. Hallali, Germ. Halali – ‚Praise (My Soul)?‘“ (1949). Das Gotische bleibt bei ihr durchgehend Thema: bei dessen Analyse ist der Rückgang auf das christliche Griechische für sie immer auch ein Anlass, die jüdischen Quellen in diesem Basistext der germanischen Sprachwissenschaft nachzuweisen – offensichtlich bei ihr auch eine Form, die rassistische Verfolgung zu verarbeiten (in ihrer Wiener Zeit war das Leben in ihrer Familie wenig religiös geprägt).
Über ihr Werk informiert die „Helen Adolf Festschrift“ (1968), in der sich allerdings vorwiegend literaturwissenschaftliche Beiträge finden. Aber in der von ihr selbst noch zusammengestellten Auswahl ihrer Kleinen Schriften (Heuer 2004) hat sie doch auch die ausdrücklich sprachwissenschaftlichen wie „got. -rz“ (1930) aufgenommen. Zu ihren literarisch-literaturwissenschaftlichen Interessen gehört auch ihre Fortschreibung/Beendigung des autobiographischen Romans ihrer Verwandten Leonie Spitzer, „Die Familie Höchst“ (1986), dessen biographischer Essay auch Auskunft über sie selbst gibt – und über die entfernten quasi/indirekt-familiären Beziehungen zu Leo Spitzer.
Ihre Biographie hat sie auch literarisch in Gedichten bearbeitet, s. von ihr „Werden und Sein. Gedichte aus fünf Jahrzehnten“ (1964). Zu ihrer Zusammenarbeit mit Leo Spitzer in den USA s. weiters die Hinweise von Malkiel in dessen Sammelband (1983, S. 61).
Werke
Schriften (Auswahl)
Zur Dramentechnik in Strindbergs historischen Dramen. Dissertation, Universität Wien, Wien, 1923.
Artikel und Aufsätze
Got. „rz“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 55, 1930, S. 257-261.
Gem. mit Richter, E. / Winkler, E.: Studien zum altfranzösischen Alexiusliede. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 57, 1933, S. 80-95.
Wortgeschichtliche Studien zum Leib-/Seele-Problem. Mittelhochdeutsch lîp „Leib“ und die Bezeichnungen für corpus. Verlag der Internationalen religionspsychologischen Gesellschaft, Wien, 1937. (Sonderhefte zur Zeitschrift für Religionspsychologie, Heft 5)
Intonation and word order in German narrative style. In: The Journal of English and Germanic Philology 43, 1944, S. 71-79.
F. Hallali, Germ. Halali – “Praise (My Soul)”? In: Studies in Philology 46, 1949, S. 514-520.
Words, Ideas, and Reality: An Analysis of “êwic lebende” and “durch tugent” in the Prologue of the Younger Titurel (1.1 and 10.3). In: Pelters, W. / Schimmelpfennig, P. (Hg.): Wahrheit und Sprache. Festschrift für Bert Nagel zum 65. Geburtstag am 27. August 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 60). Kümmerle, Göppingen 1972 (unter Mitwirkung von Menges, Karl), S. 45-56.
Wulfila and the Idea of Perfection. In: Kaplowitt, St. J. (Hg.): Germanic Studies in Honor of Otto Springer. K & S Enterprises, Pittsburgh, 1978, S. 11-28.
Herausgeberschaft
Dem neuen Reich entgegen. Leipzig, Reclam, 1930. (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Politische Dichtung, Bd. 6).
Im neuen Reich, 1871-1914. Leipzig, Reclam, 1932. (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Politische Dichtung, Bd. 7).
Gem. mit Spitzer, Leonie (Hg.): Die Familie Höchst. Woywod, Bad Soden, 1986.
Bücher
Visio pacis. Holy city and grail. An attempt at an inner history of the grail legend. Pennsylvania University Press, Pennsylvania, 1960.
Werden und Sein. Gedichte aus fünf Jahrzehnten. Berger, Horn, 1964.
Literatur / Quellen
Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (München)
Buehne, Sh. Z. / Hodge, J. L. / Pinto, L. B. (Hg.): Helen Adolf. Festschrift. Ungar, New York, 1968.
Heuer, R. / Dallapiazza, M. (Hg.): Helene Adolf. Gesammelte Schriften. Edizioni Parnaso, Triest, 2004.
Heuer, R. / Dallapiazza, M.: Vorwort. In: Heuer, Renate / Dallapiazza, Michael (Hg.): Helene Adolf. Gesammelte Schriften. Edizioni Parnaso, Triest 2004, S. I – V.
Heuer, R.: Bibliographia Judaica. Verzeichnis jüdischer Autoren deutscher Sprache. Campus, Frankfurt am Main/New York 1982-1996 (Bd. I/1982, Bd. II/1984, Bd. III/1988, Bd. IV/1996).
Hodge, J. L.: Adolf, Helen. In: König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. De Gruyter, Berlin, New York, 2003.
Jaques Cattell Press (Hg.): Directory of American Scholars. A Biographical Directory. R. R. Browker Company, New York, London, 1982. (mehrbändig; Bd. 3, 8. Aufl. 1982).
Killy, W. / Vierhaus, R. (Hg.): Deutsche biographische Enzyklopädie. Saur, München 1995-1999. (mehrbändig; Bd.1: 2. Aufl. 2005).
Malkiel, Y.: From Particular to General Linguistics. Selected Essays 1965-1978 (Studies in Language Companion Series 3). Benjamins, Amsterdam, Philadelphia, 1983.
Richter, E.: Summe des Lebens. Wien, 1940. (hg. auf Basis des Typoskripts im Nachlass vom Verband der Akademikerinnen Österreichs. WUV-Universitätsverlag, Wien, 1997).
Röder, W. / Strauss, H. A.: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Saur, München u. a. 1983. (unverändert. Nachdruck 1999).
Wall, R.: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil. 1933-1945. Haland & Wirth, Gießen, 2004 (2. Aufl. der Ausgabe 1995).
Highly recommended did this. Very interesting information. Thanks for sharing!
okbet philippines