Wegscheider Anna, geb. Hochgründler; Zeugin Jehovas und Gegnerin des NS-Regimes

Geb. Zell bei Kufstein, Tirol, 24.9.1904
Gest. KZ Ravensbrück, Deutsches Reich (Deutschland), 8.6.1942

A. W., geboren am 24. September 1904 in Zell bei Kufstein – über ihre Kindheit ist nichts bekannt – verheiratet mit dem Salzburger Schuhmachermeister Josef Wegscheider und Mutter von zwei Töchtern: Gertrude (geb. 1929) und Elisabeth (geb. 1937), A. W. tritt Anfang der 1930er Jahre, zusammen mit ihrem Mann, den Zeugen Jehovas bei. Die Familie wohnt als Untermieter in dem Haus des Ehepaares Therese und Franz Mittendorfer – ebenfalls Zeugen Jehovas – in Salzburg, Landstraße 15, wo Josef Wegscheider auch seine Schusterwerkstätte hat. Ihre Tochter Gertrude beschreibt die Mutter in einem persönlichen Gespräch mit der Autorin als sehr aktive und couragierte Zeugin Jehovas, die in Glaubensfragen der Familie führend voranging. Zusammen mit ihrem Mann besucht sie regelmäßig die Treffen der Zeugen Jehovas im Kaltenhauserkeller in Salzburg. A. W. ist auch sehr gastfreundlich und lässt, wie sich ihre Tochter Gertrude erinnert, immer wieder Zeugen Jehovas, vor allem den damaligen Landesleiter der IBV (Internationale Bibelforschervereinigung), Walter Voigt, bei ihnen übernachten. A. W. ist sehr darum bemüht ihre bereits schulpflichtige Tochter Gertrude zu motivieren, in der Schule den Hitlergruß nicht zu leisten und scheut auch nicht davor zurück mit dem Religionslehrer Diskussionen zu führen. Sie unterstützt auch ihren Mann Josef in seiner ablehnenden Haltung zum Militärdienst, als dieser deswegen am 17. Oktober 1938 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt wird und bis zum 26. Mai 1939 im Wehrmachtsgefängnis Germersheim/Rhein inhaftiert ist. Am 1. September 1939 wird ihr Mann – gemeinsam mit dem Glaubensbruder Johann Pichler – erneut verhaftet. Während der Gerichtsverhandlung am 26. September 1939 in Salzburg versucht der Richter, die Angeklagten umzustimmen. Er lässt die Ehefrauen A. W. und Marianne Pichler in den Gerichtssaal rufen in der Erwartung, dass die beiden Angeklagten durch ihr Erscheinen zum Nachgeben veranlasst würden. Aber es kommt anders. Eine der Frauen, wahrscheinlich A. W., äußert Worte der Ermunterung und sagt: „Euer Leben ist in Gottes Hand.“ Noch am selben Tag werden beide Männer – sie sind die ersten zum Tode verurteilten Wehrdienstverweigerer Österreichs – in Salzburg-Glanegg erschossen. Das Begräbnis zwei Tage später am Salzburger Kommunalfriedhof, an dem etwa 150 Personen teilnehmen, wird von der Gestapo mit Argusaugen überwacht und alle Anwesenden werden fotografiert. Kurz nach dem Begräbnis kommt es zu einer Verhaftungswelle unter den Salzburger Zeugen Jehovas. A. W. wird am 16. November 1939 wegen Verweigerung von Kriegsarbeit verhaftet. Nach etwa vier Wochen Haft im Polizeigefängnis Salzburg wird sie am 28. Dezember 1939 zusammen mit ihrer Vermieterin und Glaubensschwester Therese Mittendorfer ins KZ Ravensbrück überstellt, wo sie zur Nummer 2582 wird. Sie kommt zunächst in den Block 5. Dort trifft sie auf 450 vorwiegend deutsche Glaubensschwestern, die bereits einige Jahre Haft hinter sich haben und sich wegen Verweigerung von Kriegsarbeit seit 19. Dezember 1939 im Arrestbau befinden. Bis 9. Jänner 1940 werden sie mit Stehappellen sowie Dunkel- und Hungerarrest in überfüllten, eiskalten Zellen des Zellenbaus drangsaliert. Ob A. W. auch in den Arrest kommt, ist ungeklärt. Am 9. Februar 1940 schreibt sie ihren ersten Brief an ihre Töchter: „Liebe Trudi! Ich bin gesund, was ich auch von euch hoffe. Wie geht es dir in der Schule? Was macht Elsi? Ich lasse alle Bekannten grüßen. Habe noch keine Post von euch. Ich habe immer große Sorge um euch, seid recht brav. Bussi an dich und Elsi.“ Dieser Brief ist auf der Rückseite mit einem Stempel versehen: „Die Schutzhaftgefangene ist nach wie vor hartnäckige Bibelforscherin und weigert sich, von der Irrlehre der Bibelforscher abzulassen. Aus diesem Grunde ist ihr lediglich die Erleichterung, den sonst zulässigen Briefwechsel zu pflegen, genommen worden.“ Einmal pro Monat ist es A. W. gestattet einen genau fünfzeiligen Brief zu schreiben. Am 9. März 1940 schreibt sie den zweiten Brief, in dem sie sich bei den Pflegeeltern Sophie und Erwin für die liebevolle Pflege ihrer Kinder bedankt. Das Ehepaar Zeil – ebenfalls Zeugen Jehovas – wohnt in Hallein und hat sich bereits beim Begräbnis von Wegscheider und Pichler angeboten, die Kinder zu übernehmen. Für A. W. muss es eine große Erleichterung gewesen sein, zu wissen, dass ihre beiden kleinen Mädchen, die Jüngste ist ja erst 3 Jahre alt, in einer liebevollen Familie aufgehoben sind. Denn sie wird bestimmt auch unter großen Druck gesetzt, die sogenannte „Verpflichtungserklärung“ zu unterschreiben. Einige ihrer Glaubensschwestern geben dem Druck nach wie z. B. Theresia Mittendorfer, ihre Vermieterin. Sie wird, kurz nachdem sie von der Enthauptung ihres Mannes erfahren hat, am 5. Februar 1940 entlassen und kann nach Salzburg zurückkehren. Gertrude Wegscheider erzählt der Autorin, dass sie diese Entscheidung bis ins hohe Alter quälte. A. bleibt jedoch ungebrochen in ihrer Einstellung. Es ist allerdings anzunehmen, dass sie so wie einige andere Zeuginnen Jehovas aus Salzburg zu der Gruppe der sogenannten „Extremen“ – wahrscheinlich eine Fremdbezeichnung für jene Zeuginnen Jehovas, die schließlich jede Arbeit für die SS und auch den Zählappell verweigern – zählt. Im Jänner 1942 kommt es wegen der Verweigerung Kriegsmaterial herzustellen zur Eskalation. Etwa 90 Zeuginnen Jehovas, darunter wahrscheinlich auch A. W., werden wegen ihrer Arbeitsverweigerung zu Bunker und Dunkelarrest verurteilt. Bei eisiger Kälte werden sie ohne Jacken, ohne Decken und ohne jegliche Sitzgelegenheit in dunkle Barackenräume gesperrt. Sie erhalten eine Ration Brot und alle vier Tage Essen, dann noch zusätzlich 25 Stockhiebe. Nach 40 Tagen sind sie wandelnde Skelette und machen den Eindruck von Geisteskranken. A. W. wird einige Monate später umgebracht. Laut offizieller Todesmeldung ist sie am 8. Juni 1942 an colitis ulcerosa (chronische Dickdarmentzündung) im Konzentrationslager Ravensbrück verstorben. Die wahre Todesursache erfahren ihre Kinder erst kurz vor Kriegsende. A. W.s inzwischen 16jähriger Tochter Gertrude wird in Hallein durch einen Boten, wie sie in einem Interview (Sommer 2009) der Autorin erzählt, ein Brief mit folgendem Inhalt übergeben: „Liebe Trudi, wir waren mit deiner Mama zusammen. Sind in Häftlingskleidung. Dürfen aber am Sonntag im Wald spazieren gehen […].“ Trudi trifft sich mit vier Häftlingsfrauen (ebenfalls Zeuginnen Jehovas) im Guggental in Salzburg. Diese sind dort als Bedienstete bei SS-Männern eingesetzt. Die Häftlingsfrauen – alle aus Deutschland – übergeben Gertrude die Schuhe ihrer Mutter und geben ihr den wahren Todesgrund bekannt: Nachdem A. W. weggebracht worden ist, kommen kurze Zeit darauf ihre Schuhe (es waren spezielle von ihrem Mann für ihr kürzeres Bein maßgefertigte Schuhe) zurück in den Bibelforscherblock. Das war ein Zeichen dafür, dass sie ermordet worden ist. Wahrscheinlich kam sie auf den so genannten „Dunkeltransport“ nach Bernburg, wo sie vergast wurde. Mit den Schuhen hat es noch etwas Besonderes auf sich: Am 9. Mai 1940 bittet A. W. in einem Brief: „Bitte schickt mir sofort meine Halbschuhe. Holt die Leisten für meine Schuhe und hebt sie gut auf.“ Nach Kriegsende bleiben die vier Zeuginnen Jehovas bis zu einer möglichen Rückkehr nach Deutschland noch eine Zeitlang bei Familie Zeil einquartiert. A. W. gehörte bis vor Kurzem zu jenen vergessenen Frauen, die aus religiöser Motivation dem NS-Regime von Anfang an Widerstand leisteten. Am 22. August 2007 werden für sie und ihren Mann jeweils ein „Stolperstein“ vor ihrem letzten Wohnort in der Landstraße 12, Salzburg verlegt.

Qu.: DÖW 1776; 18792, Jehovas Zeugen Österreich/Geschichtsarchiv: Briefe von A. W. aus dem KZ Ravensbrück.

L.: Dokumentationsarchiv 1991, Dokumentationsarchiv 1998a, Hesse/Harder 2001, Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1941, Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1989, http://www.stolpersteine-salzburg.at (25.11.2009), http://www.ravensbrueck.de/mgr/Archiv/deutsch/ausstellung/sonderausst/lilawinkel.htm (25.11.2009)

Heide Gsell