Thalmann Marianne; Germanistin
Geb. Linz, OÖ, 27.4.1888
Gest. München, Deutschland, 5.10.1975
(eigentlich: Anna) Th., geboren am 27.4.1888 in Linz, Studium der Germanistik und Französisch in Graz, Besançon (F) und Wien, 1913 Besuch der Malklasse bei Oskar Kokoschka, 1918 Promotion in Wien und 1924 Habilitation ebendort für „Neuere deutsche Literaturgeschichte“. 1933 außerordentliche Titularprofessur, im selben Jahr Antritt einer Professur am Wellesley College (Massachusetts/USA). Nach ihrer Emeritierung 1953 übersiedelte Th. 1962 nach München, wo sie am 5.10.1975 starb.
Th.s wissenschaftliche Tätigkeit konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Erforschung der deutschen Romantik – ein Schwerpunkt, dem sie zwölf ihrer insgesamt 16 Monographien widmete. Ihr Interesse galt dabei besonders den Schriften Ludwig Tiecks, der in der deutschsprachigen Germanistik aufgrund des Verdikts des „Unterhaltungsschriftstellers niedrigen Niveaus“ (Gundolf) zu einer „zerstückelten Leiche im Koffer der Literaturgeschichte“ (Robert Minder) wurde. Erst in den 1960er Jahren zeichneten sich Bemühungen ab, Tiecks Werke kritisch zu erschließen und Th.s vierbändige Tieck-Ausgabe (1963-66) wurde zum „Geheimtip für eine Generation jüngerer Wissenschaftler(innen), die nach 1968 den Anschluss an die internationale Forschung suchte“ (Inge Stephan). Damit wurde die am Wellesley College in Massachusetts lehrende Th. auch in der deutschsprachigen Germanistik als Tieck- und Romantikforscherin bekannt.
Begonnen hatte Th.s Karriere jedoch an der Universität Wien, wo sie bereits 1918 mit der Arbeit „Probleme der Dämonie in Ludwig Tiecks Schriften“ bei Walther Brecht, einem moderaten Vertreter der „Neuen Geistesgeschichte“, promovierte. Hervorzuheben ist ihre zum Standardwerk avancierte Habilitationsschrift von 1923 „Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman“, die als erste umfassende Motivstudie zur Romantik gilt. Th. geht darin von einer Überbewertung des Bildungsromans aus und zeigt den „entscheidenden Anteil der Trivialliteratur“, besonders des Bundesromans, „am Werdegang des romantischen Romans“ (Jack Zipes). Mit ihrer Studie hat Th. den Begriff „Trivialroman“ als Fachterminus in der Universitätsgermanistik eingeführt. Th. verstand sich aber auch als „Kulturvermittlerin“. Sie regte die Übersetzung von Rilkes Gedichten ins Polnische an, verfasste dafür das Vorwort, veröffentlichte über Gegenwartsliteratur („Gestaltungsfragen der Lyrik“, 1925) und zum, in den 1920er Jahren vieldiskutierten Bereich der „Vergleichenden Weltliteratur“ („Henrik Ibsen, ein Erlebnis der Deutschen“, 1928).
Nach reger Publikations- und Lehrtätigkeit wurde Th. 1933 als erster österreichischer Germanistin der Titel eines „außerordentlichen Professors“ verliehen. Da für Frauen im österreichischen Universitätsbetrieb aber keine weiteren Karriereaussichten existierten, verließ Th. im selben Jahr – nach achtjähriger Privatdozentinnentätigkeit – die Wiener Germanistik und folgte einem Ruf ans Wellesley College in Massachusetts, eines der renommiertesten Frauencolleges in den USA. Die Emigration von M. Th., die sich Anfang der 1930er Jahre zunehmend der politischen Rechten zugewandt hatte, war damit – trotz anderslautender Aussagen – nicht politisch oder „rassisch“ begründet, sondern folgte karrierestrategischen Erwägungen. Am Wellesley College lehrte Th. zunächst als Associate Professor und von 1940 bis zu ihrer Emeritierung 1953 als Full Professor of German.
Qu.: (Auswahl): Universitätsarchiv Wien (Rigorosen- und Personalakt), Wellesley College Archive (Biographical Files), Adalbert-Stifter-Institut Linz (Nachlass Franz Koch), OÖ Landesarchiv Linz (Nachlass Julius Strnadt), Universitätsbibliothek Heidelberg (Nachlass Lili Fehrle-Burger).
W.: (Auswahl): „Probleme der Dämonie in Ludwig Tiecks Schriften“ (1919, Nachdruck Hildesheim 1978), „Der Trivialroman und der romantische Roman. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik“ (1923, Nachdruck 1967), „Gestaltungsfragen der Lyrik“ (1925), „Henrik Ibsen, ein Erlebnis der Deutschen“ (1928, Nachdruck 1968), „J. W. Goethe. ‚Der Mann von fünfzig Jahren‘“ (1948), „Ludwig Tieck. Der romantische Weltmann aus Berlin“ (1955), „Das Märchen und die Moderne. Zum Begriff der Surrealität im Märchen der Romantik“ (1961, engl. Ausgabe: The Romantic Fairy Tale, 1964), „Zeichensprache der Romantik“ (1967, engl. Ausgabe: The Literary Sign Language of German Romanticism, 1972), „Provokation und Demonstration in der Komödie der Romantik“ (1974), „Romantik in kritischer Perspektive. Zehn Studien. Hg. v. Jack D. Zipes“ (1976)
L.: Grabenweger, Elisabeth: Germanistik in Wien. Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen 1897–1933. Diss. Univ. Wien 2014
Grabenweger, Elisabeth: Germanistik in Wien. Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897-1933). Berlin / Boston 2016
Hoecherl-Alden, Gisela: Germanisten im „Niemandsland“. Die exilierten Akademiker und ihre Wirkung auf die amerikanische Germanistik (1933–1955). Madison 1996
Elisabeth Grabenweger