Teichova, Alice
* 19. 9.1920, Wien, † 12.3.2015, Cambridge, Großbritannien
Wirtschaftshistorikerin
Die Mutter von A. S. kam aus einer wohlhabenden jüdischen bürgerlichen Familie in Ottakring. Sie war zum Katholizismus konvertiert und ließ die Kinder taufen. Der Vater war gelernter Goldschmied, Uhrmacher und Juwelier. 1930 musste er sein Geschäft in der Breitenseerstraße schließen.
A. besuchte die Volksschule in Breitensee (1926 bis 1930) und 1930 drei Monate das Realgymnasium in der Gumpendorferstraße.
Nach dem Konkurs des Vaters übersiedelte die Familie nach Kagran, wo A. die Hauptschule besuchte und 1934 abschloss.
Sie begann eine Lehre als Handelsgehilfin, absolvierte Schulungen an der Handelsakademie am Karlsplatz, lernte Schreibmaschineschreiben, Kurzschrift, Englisch und Buchhaltung.
1936 kauft die Familie nach einer kleinen Erbschaft ein Geschäft (Juwelier- und Uhrmacher) und eine Wohnung in Hietzing. A. schrieb sich in der Maturaschule Roland ein. 1937 beendete sie ihre Lehre.
1938/39 musste die Familie Österreich verlassen und emigrierte nach England.
Am Tag der Unterzeichnung des Münchner Abkommens (30. September 1938) kommt A. in England an und findet als Dienstmädchen bei einer Familie in Kingston upon Thames Aufnahme. Ende 1939 geht A. zu ihrer Familie nach Exeter.
In einem Klub, wo sich Flüchtlinge trafen, lernt sie Mikulás Teich kennen, der 1939 aus der Slowakei emigrieren musste. Sie bekommt einen Posten als Verkäuferin in Exeter, danach in einem Büro eines Modehauses.
Nach dem Angriff der Deutschen auf Belgien, Holland und Luxemburg mussten alle enemy aliens – d,h, alle Deutschen und Österreicher – egal ob Faschisten oder Juden – binnen 48 Stunden ins Landesinnere. A. bekommt eine Anstellung in Nottingham. Mikulás Teich folgt ihr nach Nottingham, wo er ab Herbst 1940 an einer Außenstelle der London University sein Studium fortsetzt. A. arbeitet als Buchhalterin und besucht eine Abendschule, die sie im Sommer 1942 abschließt. Beide sind aktiv in linken Studentenvereinigungen.
Jänner/Februar 1942 geht Mikulás Teich nach Leeds, wo A. im Herbst ein Studium der Ökonomie mit Hilfe eines Stipendiums vom British Council begann und 1945 abschloss. 1946 bis 1947 unterrichtete sie Wirtschaft und Geschichte an einer Secondary School in Nottingham.
Sie heiraten 1944, nachdem Mikulás Teich sein Studium mit dem Bakkalaureat abgeschlossen hatte (1946 Promotion).
Auch in Leeds sind sie aktiv in Organisationen und in einer Gruppe der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei.
Im Juli 1946 kehrt Mikulás Teich in die Tschechoslowakei zurück, mit dem festen Glauben und optimistischen Gefühlen, am Aufbau eines gerechteren Systems mitarbeiten zu können.
A. T. – durch die Heirat tschechoslowakische Staatsbürgerin – kam im Frühjahr 1947 mit Sohn Petja (1945 geboren) nach Prag, kehrte im April 1948 für die Geburt ihrer Tochter Eva nach England zurück und kam 1949 endgültig mit den Kindern nach Prag.
A. und Mikulás Teich erlebten den Kampf um die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei aktiv mit.
A. T. lernte Tschechisch und Russisch. 1950 erhielt sie eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Geschichte an der Pädagogischen Fakultät der Karls-Universität. 1952 promovierte sie summa cum laude an der Karls-Universität in Prag.
A. T. war als graduierte Wirtschaftswissenschafterin in ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit vollkommen frei. Sie begann mit Vorlesungen über das europäische Mittelalter und arbeitete zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie organisierte wissenschaftliche Zirkel zur Wirtschaftsgeschichte, organisierte das landesweite Fernstudium für Geschichtslehrer und erarbeitete mit tschechischen und slowakischen Historikern neue Hochschullehrbücher, aber auch Schulbücher. A. T. wurde Mitglied einer Gruppe der UNESCO, die sich mit Schulbüchern beschäftigte und gegen Chauvinismus und Kriegshetze wirkte. Ab 1957 begannen regelmäßige Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen in der DDR.
1964 habilitierte sie sich.
Die 1960er Jahre waren aber auch bereits von regen internationalen Kontakten und Konferenzaktivitäten gekennzeichnet. Kontakte zu Wolfram Fischer, Wilhelm Treue oder Sidney Pollard entstanden – Kontakte, die den Weg in die zweite Emigration erleichtern sollten.
Politisch waren die Jahre 1952 bis 1963 von Schwierigkeiten ihres Mannes Mikulás Teich geprägt, der wegen seiner Kritik am autoritären Vorgehen der kommunistischen Partei aus dieser ausgeschlossen worden war. Erst 1963 wurde ihm die Parteizugehörigkeit wieder zugesprochen. Beide erlebten eine Zeit der Prozesse, Bespitzelungen, Verhöre und Verhaftungen einiger Freunde. Sie erlebten und trugen aber auch die Reformbewegung der 1960er Jahre mit, die anfangs stark von kommunistischen Intellektuellen beeinflusst war.
A.T. wurde 1965 Gewerkschaftsvorsitzende an der Pädagogischen Fakultät und 1967/68 zur Parteivorsitzenden der Fakultät gewählt. Sie lud Ökonomen, Kulturschaffende, Historiker, die in der Reformbewegung aktiv waren, zu öffentlichen Debatten über die Demokratisierung, die ein großes Interesse fanden.
Die totale Aufbruchstimmung in Richtung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz fand durch den Einmarsch der Sowjets im August 1968 ein abruptes Ende.
Ein Studienjahr von Mikulás Teich in den USA, wohin ihn A. T. begleiten konnte, gab der Familie Zeit, ihren weiteren Lebensweg zu planen.
Unter schwierigsten Umständen verließ das Ehepaar Teich im August 1968 Prag und reiste über Deutschland und Paris in die USA.
Im Herbst 1968 erhielten sie eine Einladung nach Cambridge und Oxford, die sie annahmen, die ihnen Forschungsstipendien ermöglichten und die für ihr weiteres akademisches Leben prägend waren.
A.T. wirkte ab Oktober 1971 in Norwich an der University of East Anglia und erhielt vier Jahre später eine Professur. A. T. war die erste Frau in dieser Position in Norwich und blieb bis zur ihrer Emeritierung 1985 die einzige.
Ab den 1970er Jahren intensivierte sich ihre internationale Forschungs-, Konferenz- und Publikationstätigkeit, die bis zu ihrem 90. Geburtstag das Leben des Ehepaares Teich bestimmte, wobei die Forschungen beider oft ergänzend ineinander gehen. Abwechselnde oder zeitweise auch gleichzeitige Gastprofessuren führten beide an renommierte Universitäten Europas und den USA.
Exemplarisch seien einige der zahlreichen Publikationen von A. T. angeführt, die Ergebnisse von Forschungsschwerpunkten sind:
An economic background to Munich, International business and Czechoslovakia 1918-1938, Cambridge 1974; Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 1979; International Business and Central Europe 1918-1939, Leicester-New York 1983; The Economic History of Eastern Europe 1919-1975 – Economic Structure and Performance between the Two Wars, Oxford 1985; European Industry and Banking between the Wars, Leicester, London, New York 1992; Universal Banks in the Twentieth Century, Ashgate 1994.
1991 bis 2000 führten sie Forschungsstipendien u.a. nach Berlin, Corvallis an der Oregon State University und nach Uppsala.
Ihre wissenschaftlichen Aktivitäten nach 2000 fanden ihren Niederschlag in wesentlichen Publikationen über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost und West. Sie war unter anderem Initiatorin und Mitherausgeberin von „‚Zarte Bande‘ Österreich und die europäischen planwirtschaftlichen Länder“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 9, Wien 2006 und „Gaps in the iron Curtain, Economic relations between neutral and socialist countries in Cold War Europe“, Kraków, 2009.
Die umfangreichen wissenschaftlichen Aktivitäten waren stets begleitet von internationalen Symposien, Konferenzen und Kongressen, die oft in bahnbrechende Publikationen mündeten und ihr unter den Wirtschaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistorikern einen Weltruf brachten.
Nach 1989 half sie beim Aufbau eines wissenschaftlichen Netzwerkes zwischen den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern der ehemaligen Ostblockstaaten und ihren weltweiten Kontakten. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen verband das Ehepaar Teich lebenslange Freundschaften.
Wien nahm in ihrem privaten und wissenschaftlichen Leben stets eine Sonderstellung ein. Die erzwungene Emigration konnte an ihrer Liebe zur Heimatstadt nichts ändern. Die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Wien sind ungetrübt durch die Gräueltaten nach 1938. Bis 1938 blieb sie von antisemitischen Erlebnissen verschont.
1968 wurde eine Rückkehr nach Wien zwar kurz angedacht, doch führte eine falsche Rechtsauskunft zu anderen Entscheidungen. Erst 2002 erhielt sie wieder die österreichische Staatsbürgerschaft. A. T. hatte sich stets als Österreicherin gefühlt und empfand diesen späten Rechtsakt als Genugtuung. Über Anregung des damaligen tschechischen Botschafters Pavel Seifter, suchte das Ehepaar Teich um die tschechische Staatsbürgerschaft an. Während A. T. die Staatsbürgerschaft erhielt, wurde sie Mikulás Teich aus formalen juristischen Gründen verwehrt.
1972 lernte A. T. bei einer Konferenz in Marburg Herbert Matis kennen. 1976 lädt er als Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte A. T. zum ersten Mal nach Wien ein. Es folgten viele Gastprofessuren in Österreich und ein großes fünfjähriges Projekt des Wissenschaftsministeriums über die wirtschaftspolitische Rolle Österreichs im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit mit Forscherinnen und Forschern aus Österreich, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn. Die Ergebnisse wurden im Sammelband: Der Markt in Mitteleuropa publiziert (Der Markt im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit, Alice Teichova/Alois Mosser/Jaroslav Pátek (Hg.), Karolinum, Prag 1997)
A.T. eröffnete und förderte in besonderem Maß die Verbindungen zwischen österreichischen Historikerinnen und Historikern mit der internationalen Forschungslandschaft.
Ihr internationaler Ruf führte 1998 zur Bestellung als eine der drei „ständigen Experten“ der Historikerkommission der Republik Österreich. Knapp nach Beendigung des Schlussberichtes erlitt A. T. im April 2003 in Prag einen leichten Schlaganfall, der ihre Arbeitsenergie nur kurz unterbrach. Am 12. März 2015 starb sie in Cambridge. Ihr letzter Weg führte in ihre Heimatstadt Wien zurück, wo sie in einem Ehrengrab der Stadt Wien ruht.
Von ihren zahllosen Ehrungen seien nur einige angeführt:
Honory Fellow of Girton College, Cambridge; Fellow of the Royal Historical Society; Senior Research Associate of the London School of Economics and Political Science, University of London; Ehrendoktor der Universität Uppsala und der Universität Wien.
An Preisen erhielt A. T. u.a. den Anton Gindely-Preis für Kultur und Geschichte Mittel-, Ost- und Südosteuropas für das Jahr 2000, den Kreisky-Preis als Mitglied der Historikerkommission 2004 und das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse 2005.
Ihr Nachlass befindet sich im Girton College in Cambridge, ein Teilnachlass am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.
Werke
Schriften
Von ihrem reichen und überaus umfangreichen Werk sind einige wichtige Publikationen im Text der Biographie erwähnt.
Literatur / Quellen
An Festschriften zu ihren Ehren gibt es:
Business and Politics 1900-1970, Essays in Honour of Alice Teichova, edited by Terry Gourvish, Cambridge 2003.
Enderle- Burcel, G. / Kubu, E. / Sousa, J. / Stiefel, D.: Discourses – Diskurse. Essays for – Beiträge zu Mikulas Teich & Alice Teichova. Prag, Wien, 2008 (die Publikation enthält die umfangreiche Publikationsliste von A. T.).
Matis, H. / Resch, A. /Stiefel, D. (Hg.): Unternehmertum im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Unternehmerische Aktivitäten in historischer Perspektive, Beiträge gesammelt zu Ehren von Alice Teichova, Wien/Berlin 2010, S. 171-184 (= Veröffentlichungen der ÖGU Bd. 28).