Simon, Maria Dorothea
Geb. 6.8.1918, Wien
Gest. 8.3.2022, Wien
Sozialarbeiterin und Psychologin
M. D. S. wurde am 6. August 1918 als Tochter des Ingenieurs Rudolf Pollatschek (aus Münchengrätz, Nordböhmen) und seiner Frau Juliane (geb. Grossfeld, Wien; erste weibliche Hörerin an der Wiener Exportakademie, heutige Wirtschaftsuniversität) in Wien geboren und wuchs in einer assimilierten jüdischen Familie in der Wiener Innenstadt auf. Während ihrer Gymnasialzeit schloss sie sich einer Gruppierung der linken jüdischen Jugendbewegung an (Haschomer hazair). M. D. S. verließ das Gymnasium und absolvierte von 1934 bis 1936 eine Kindergärtnerinnenausbildung, im Zuge derer sie zum ersten Mal auf Anna Freud aufmerksam wurde. Etwa zur gleichen Zeit wandte sie sich vom Haschomer ab und pflegte mehr Kontakt zur sozialistischen Bewegung, wie etwa den sozialistischen Mittelschülern.
1937 ging M. D. S. nach Prag, um an der von der amerikanischen Rockefeller Foundation finanzierten Masarykschule für Sozial- und Gesundheitsfürsorge eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu absolvieren. Aufgrund der politischen Entwicklungen in der Tschechoslowakei 1938 (Münchner Abkommen) konnte sie diese Ausbildung allerdings nicht abschließen und verbrachte die nächsten Jahre in England.
In England arbeitete sie sowohl als Erzieherin, Kindermädchen, Stubenmädchen als auch als Putzfrau, und machte 1940 den Schulabschluss (ähnlich der Externisten-Reifeprüfung). Sie begann in Anna Freuds „Hampstead Nursery“ zu arbeiten und studierte Sozialarbeit an der Universität von Oxford, was schwerpunktmäßig auf Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Philosophie ausgerichtet war. Zusätzlich hörte M. D. S. noch weitere Vorlesungen, etwa in Psychologie. 1944 schloss sie ihr Studium mit einem Diplom in Sozialarbeit ab. Die nächste Station in M. D. S. Laufbahn war die englische Armee, in der sie Soldaten unterrichtete und gleichzeitig via Fernstudium Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität London belegte (Abschluss 1945).
1944 hatte sie in England den Exilösterreicher (und mittlerweile amerikanischen Staatsbürger) Joseph T. Simon geheiratet. 1945-46 verbrachte M. D. S. – nunmehr Mutter eines Sohnes – ein Jahr bei der Pflegefamilie ihres Mannes in Dänemark, bevor sie 1946 in die USA weiter reiste, um in Seattle als Sozialarbeiterin für das Jewish Welfare Service zu arbeiten; 1947 erhielt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft.
Aus familiären Gründen ging M. D. S. 1947 zurück nach Wien, wo sie eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin absolvierte und an der Universität Psychologie (Nebenfach Anthropologie) studierte, wofür sie 1952 das Doktorat verliehen bekam. In den Folgejahren war sie als Kinder-Psychotherapeutin tätig und widmete sich ihrer Familie, die mittlerweile vier Kinder umfasste. Trotz ihrer herausragenden Ausbildung und internationalen Erfahrung fand M. D. S. im Wien der 1950er Jahre kaum berufliche Möglichkeiten. Daher machte sie von der Möglichkeit Gebrauch, die Jahre 1957-1961 wieder in den USA zu verbringen.
In diesen Jahren war sie Dozentin für Klinische Psychologie an der Universität von Arkansas in Little Rock. Ihr Arbeitsbereich umfasste Tätigkeiten als Therapeutin, in der Universitätslehre als auch in der Forschung. Zusätzlich war sie eine aktive Vortragende und besuchte Weiterbildungskurse, unter anderem bei Bruno Bettelheim in Chicago.
Obwohl sie in den USA das ideale berufliche Umfeld gefunden hatte, ging sie ihrer Familie zuliebe zurück nach Wien, wo inzwischen das Institut für höhere Studien (IHS) eingerichtet worden war. M. D. S. verbrachte 6 Jahre als Assistentin an der Abteilung für Soziologie und konnte sich ihren vielfältigen Interessen in der Sozialforschung widmen, die sich von der Geschichte der Sozialarbeit in Österreich über Familienpathologie bis hin zu nationalen Vorurteilen bei Kindern erstreckten.
Nach ihrer Zeit am IHS begannen M. D. S.‘ Aktivitäten, die sich als fundamental und nachhaltig für die Entwicklung der österreichischen Sozialarbeit erweisen sollten. 1970 wurde ihr die Leitung der darniederliegenden Lehranstalt für gehobene Sozialberufe (später: Akademie für Sozialarbeit der Stadt Wien) übertragen, deren Direktorin sie bis zu ihrer Pensionierung 1983 blieb. Unter ihrer Leitung wurde die Ausbildung für SozialarbeiterInnen an die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen speziell der 1970er Jahre angepasst, wesentlich aufgewertet und an internationale professionelle Standards angeglichen.
M. D. S. war maßgeblich an der Professionalisierung der Sozialarbeit in Österreich, der Neuformulierung der Ausbildung und sowohl deren inhaltlichen als auch institutionellen Anbindung an die internationale Sozialarbeit beteiligt. Sie ermöglichte, dass die Internationale Vereinigung der Schulen für Soziale Arbeit (IASSW) zehn Jahre lang ihren Sitz in Wien einnahm, was die Einbettung der österreichischen Sozialarbeit in einen internationalen Kontext förderte. Nicht so offensichtlich aber mindestens ebenso nachhaltig stellte sich M. D. S. Bedeutung als Lehrerin heraus. Sie brachte einen breiten akademischen Hintergrund und internationale Forschungs- und Lehrerfahrung mit, die sie in Österreich mit innovativen und produktiven Unterrichtsmethoden kombinierte. In einer Zeit, in der in weiten Bereichen noch konservativer und autoritärer Unterricht vorherrschte, bot sie Studierenden neue Perspektiven, was sowohl die Lehrinhalte als auch die Vermittlung betraf. Schließlich war es ihre Funktion als Rollenvorbild für Studentinnen, welche sich für die nachfolgenden Generationen als wegweisend erweisen sollte.
Werke
Zur Methodenfrage der Kinderanalyse und Kindertherapie. In: Acta Psychotherapeutica 1/4, Karger, Basel, 1953.
Der Children’s Apperception Test bei gesunden und gestörten Kindern. In: Zeitschrift für diagnostische Psychologie und Persönlichkeitsforschung 11/3, Huber, Bern, 1954.
Body Configuration and School Readiness. In: Child Development, 30, 1959, S. 493-512.
Probleme des Krankenhausaufenthaltes bei Kindern – Neuere Forschungen auf theoretischem und angewandtem Gebiet. In: Das Krankenhaus. Jan. Kohlhammer, Stuttgart, Köln, 1964.
Das Kind im Krankenhaus. Soziale Berufe 16/10, Okt. Verlag des ÖGB, Wien, 1964.
Gem. mit Formanek, R.: Werturteilsbildung und Begriffsbildung bei Jüngeren Kindern. Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie. XI/4, Hogrefe, Göttingen, 1964.
Gem. mit Strotzka, H.: Die psychologische Bedeutung eines Krankenhausaufenthaltes bei Kindern – eine empirische Untersuchung. In: Pädiatrie und Psychologie, 2/1, Springer, Wien, New York, 1966.
Über den Affektwert von Wortdarstellungen. In: Acta Psychologica. 26, North-Holland Publ. Amsterdam, 1967.
Gem. mit Tajfel, H. / Johnson, N.: Wie erkennt man einen Österreicher? Eine Untersuchung über Vorurteile bei Wiener Kindern. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 3/1967.
Familienpathologie – ein neues Forschungsgebiet. In. Strotzka, H. (Hg.): Kleinburg, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1969.
Gem. mit Farberow, N. L.: Suicides in Los Angeles and Vienna. In: Public Health Reports, 84/5, U.S. Department of Health, Education and Welfare, 1969, S. 389-403.
Gem. mit Strotzka / Siwy / Kunze / Stadler: Umweltbedingungen psychosozialer Fehlentwicklungen. Serie: Wohnen und Bauen in Krems. Kremas, 1971.
Gem. mit Schilder, E.: Die Lage der Sozialarbeit in Österreich. Institut für Höhere Studien, Wien, 1971.
Gem. mit Strotzka / Siwy / Kunze und Stadler: Interdependenzen sozialer Desintegration. In: Social Psychiatry 6/4, 1971, S. 158-166.
Gem. mit Strotzka / Czermak / Pernhaupt: Psychohygiene und Mutterberatung. Jugend und Volk, Wien, 1971.
Gem. mit Strotzka: Psychohygienische Gesichtspunkte in der Mutterberatung. In: Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung, 72/7-8, Hollinek, 1971.
Zehn Jahre später – das Lebensschicksal unverheirateter Mütter. In: Soziale Berufe 5, Sept./Okt. 1972. ÖGB-Verlag, Wien.
Probleme der Professionalisierung der Sozialarbeit in Österreich. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für Öffentliche und private Fürsorge, 55/12, Dez. 1975.
Psychologie gestern und heute. Eine Einführung in die Geschichte und die modernen Hauptströmungen, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1976.
Problems of Social Work and Social Work Education in Austria. In: Barnett House Old Students‘ Association, Jahrbuch 1977/78, Oxford, 1978, S. 10-12.
Gem. mit Frassine, I.: Methodenintegrative Sozialarbeit. In: Sozialarbeit in Österreich, 1981, S. 25-30.
Issues of Health and Welfare Policy in Austria. In: Steiner, K. (Ed.): Tradition and Innovation in Contemporary Austria, 1982. Palo Alto: Society for the Promotion of Science and Scholarship.
Gem. mit Frassine, I.: Community Work in Austria. In: Community Development Journal, Apr. Oxford University Press, Oxford. 1984, S. 96-103.
Anne Kohn-Feuermann (1913-1994) – Ein österreichisches Schicksal. In: Sozialarbeit in Österreich 3b/1994, S. 6-8.
Psychosoziale Beratung von Angehörigen von Psychose-Kranken. In: Psychologie in Österreich, 9/1989, Literas, Wien, S. 37-44.
Die HPE-Beratungsstelle, ein Modellprojekt. In: Ergotherapie, 3/1989, Wien.
Counselling Families of Psychiatric Patients. In: International Journal for the Advancement of Counselling, 12, 1989, S. 289-298.
Der Stellenwert von Selbsthilfegruppen in Gesundheitswesen: Organisationen von Angehörigen psychisch Kranker. In: Berner / Zapotoczky (Hg.): Gesundheit im Brennpunkt. Veritas, Linz, 1989.
Psychosoziale Versorgung und Psychotherapie: Was sagen die Angehörigen von Psychose-Kranken dau? In: Berner / Zapotoczky (Hg.): Gesundheit im Brennpunkt, Band 2. Veritas, Linz, 1990.
Psychotherapie und Psychosoziale Versorgung. In: Gemeindenahe Psychiatrie, 11, Österreichische Gesellschaft für Gemeindenahe Psychiatrie. Linz, 1990, S. 37-39.
Das Unterbringungsgesetz und die Menschenrechte. In: Gemeindenahe Psychiatrie, 14, Österreichische Gesellschaft für Gemeindenahe Psychiatrie, Linz, 1993.
Angehörigenarbeit: Probleme und Ausblicke. In: Hinterhuber / Kulhanek (Hg.): Wandel in Diagnose und Therapie psychiatrischer Erkrankungen. Vieweg, Braunschweig, 1993.
„Wer hilft mir?“ Was Angehörige sich von professionellen Helfern erhoffen. In: Soziale Psychiatrie, 62, Sept. 1993.
Psychiatriereform und die Lebensqualität von Angehörigen Schizophreniekranker. In: Katschnig / König (Hg.): Schizophrenie und Lebensqualität. Springer, Wien, New York, 1994.
Gem. mit Katschnig, H. / Kramer, B.: Die Bedürfnisse von Angehörigen schizophreniekranker Patienten – Erste Ergebnisse einer Umfrage. In: Katschnig / König (Hg.): Schizophrenie und Lebensqualität. Springer, Wien, New York, 1994.
Families oft he Mentally Ill as Change Agents in Psychiatry. Keynote lecture, 1993, Proceedings WFMH World Congress. Tokyo, 1994.
Gem. mit Kramer, B. / Katschnig, H.: Die Beurteilung psychiatrischer Berufsgruppen durch die Angehörigen. In: Psychiatrische Praxis 22, 1995.
Von Akademie zu Akademie – zur historischen Entwicklung der Sozialarbeiterausbildung am Beispiel der Schule der Stadt Wien. In: Wilfing, H. (Hg.): Konturen der Sozialarbeit. Wien: WUV-Universitätsverlag, 1995, S. 15-24.
Angehörigenarbeit in der Psychiatrie. In: Sozialarbeit, 108, Sept. 1995, S. 16-17.
The Perspective of Families of the Mentally Ill on Basic Issues in Psychiatry. In: Psychiatria Danubina, 8, 1996, S. 5-9.
Reform der Reform. Der Schwung der Psychiatriereform ist verloren gegangen. In: ACUT – Zeitschrift für GesundheitsarbeiterInnen Wien, 3-4, 1996, S. 26-27.
The Relatives of the Mentally Ill’s Perspective on Quality of Life. In: Katschnig et al. (Hg.): Quality of Life in Mental Disorders. Chichester, Wiley, New York, 1997.
Gem. mit Katschnig, H. / Kramer, B.: Wie sie leben, wie sie leiden – was sie hoffen. Eine Umfrage bei Angehörigen psychisch Kranker in Österreich. Kontakt, Wien, 1997.
Die Lage der Angehörigen Österreichs im europäischen Vergleich. In: Meise et al. (Hg.): Gemeindenahe Psychiatrie in Österreich. Innsbruch: VIP-Verlag, 1998, S. 223-230.
(Hg.): Aus der Betroffenheit. Festschrift anläßlich des 20-Jährigen Gründungsjubiläums der österreichischen Angehörigenvereinigung HPE. Edition pro mente, Linz, 1998.
Wir melden uns zu Wort. Die Angehörigen beziehen Position. In: Psychiatrische Praxis, 27, 2000, S. 209-213.
Historical Portrait: Ilse Arlt. In: European Journal of Social Work, 5, Nr. 1, March 2002, S. 69-71.
Selbstzeugnis. In: Soziale Arbeit in Selbstzeugnissen, Bd. 2, Freiburg im Breisgau: Lambertus, 2002, S. 225-272.
Was ist Angehörigenarbeit? Neue Wege der psychosozialen Begleitung von Psychosekranken. In: Metha, G. (Hg.): Die Praxis der Psychologie. Springer, Wien, 2004.
Von der Fürsorge zur Sozialarbeit. Vortrag in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 2. Oktober 2004. Online abrufbar auf www.sozialarbeit.at.
Probleme der Professionalisierung der Sozialarbeit in Österreich. In: Brandstetter, M. / Vyslouzil, M. (Hg.): Soziale Arbeit im Wissenschaftssystem. Von der Fürsorgeschule zum Lehrstuhl. Springer, Wiesbaden, 2010, S. 206-219.
Soziale Arbeit und ihr Anspruch auf wissenschaftliche Begründung in Ausbildung und Profession. Ein Sommergespräch mit Maria Dorothea Simon, geführt von Manuela Brandstetter und Michaela Just. In: Brandstetter, M. / Vyslouzil, M. (Hg.): Soziale Arbeit im Wissenschaftssystem. Von der Fürsorgeschule zum Lehrstuhl. Springer, Wiesbaden, 2010, S. 220-224.