Schlesinger Therese

geb. Eckstein; Schriftstellerin und Parteifunktionärin

Geb. Wien, 6.6.1863
Gest. Blois/Loire bei Paris, Frankreich, 5.6.1940

Herkunft, Verwandtschaften: Stammt aus einem großbürgerlich-liberalen Elternhaus, in dem Sozialdemokraten wie Liberale verkehrten; Vater: Albert (†1881), Studium der Chemie in Prag, gründete im Jahr der Heirat eine Pergamentfabrik in Perchtoldsdorf, NÖ, die in den folgenden Jahren expandierte, Erfinder; Mutter: Amalie, geb. Wehle; fünf Schwestern, vier Brüder; zwei Brüder starben als Kinder. Bruder: Gustav Eckstein (1875-1916), Journalist und Wissenschafter, u. a. Redakteur „Die Neue Zeit“, seit 1897 Sozialdemokrat; Bruder: Friedrich Eckstein (1861-1939), Universalgelehrter; Schwester: Emma Eckstein (1865-1924), Feministin, folgte Th. Ende der 1890er Jahre in die radikale bürgerliche Frauenbewegung, Mitglied der AÖFV, 1895 eine der ersten Patientinnen S. Freuds.

LebenspartnerInnen, Kinder: 1888 Heirat mit Viktor Schlesinger (1848-1891), Bankbeamter; Tochter: Anna, verh. Frey (1889-1920), bei der Geburt ihrer Tochter wurde Th. Sch. mit Kindbettfieber infiziert, was zu einem verkürzten rechten Bein und zeitweiliger Lähmung führte. Gemeinsam mit ihrer Tochter Anna, ihrer Mutter, der ledig gebliebenen, frauenbewegten Schwester Emma und ihrem Bruder Gustav lebte sie seit 1905 in der Siebenbrunnengasse, Wien 5. Die Sommermonate verbrachten die Ecksteins am Attersee. Anna war promovierte Akademikerin, Mittelschullehrerin, im Jugendbereich engagierte Sozialdemokratin, Redaktionssekretärin von „Der Kampf“, mit Josef Frey, einem exponierten Linksoppositionellen, verheiratet. Litt unter „Nervendepressionen“ (im zeitgenössischen Jargon), nach einem Aufflackern der Krankheit im Februar 1920 beging sie knapp 30-jährig Selbstmord.

Ausbildungen: Volksschule, Bürgerschule, Privatunterricht, autodidaktisches Studium.

Laufbahn: Th. Sch. wurde von ihrer Freundin Marie Lang für die Mitarbeit im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein (AÖFV) gewonnen und arbeitete ab 1894 bis 1897 mit Auguste Fickert im Zentrum der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung. Innerhalb des AÖFV engagierte sie sich in der Rechtsschutzstelle, arbeitete an dem wöchentlichen Mitteilungsblatt des Vereins mit und trat in Frauenversammlungen auf. 1896 engagierte sie sich in einer Erhebungskommission, die im Auftrag der Ethischen Gesellschaft eine Enquete zur Lage der Wiener Arbeiterinnen veranstaltete und referierte darüber auf dem ersten Internationalen bürgerlichen Frauenkongress in Berlin, wo sie wegen ihres sozialdemokratiefreundlichen Diskussionsbeitrags auffiel. 1897 trat sie als einziges Mitglied des AÖFV der Sozialdemokratischen Partei (SDAP) bei, publizierte weiterhin in den Organen der bürgerlichen Frauenbewegung, den „Dokumenten der Frauen“ und im „Neuen Frauenleben“. Sie wurde Mitglied der Bezirksorganisation Landstraße sowie im Arbeiterinnen-Lese und Diskutierklub Libertas. Als Gründerin der Frauensektion der Gewerkschaft der Buchbinder engagierte sie sich führend im Buchbinderstreik von 1898. Im selben Jahr wurde sie vom Club Libertas zur ersten sozialdemokratischen Frauenreichskonferenz delegiert, 1899 Mitglied des Frauenreichskomitees als Delegierte der Handelsgehilfinnen. In den Richtungskämpfen der sozialdemokratischen Frauenorganisation (1898-1905) vertrat Th. Sch. die Notwendigkeit von politischer Schulung und der Einführung des Frauenwahlrechts. Im Wahlkampf 1901 setzte sie sich besonders für Victor Adler ein. 1903 war sie auch an der Gründung des Vereins sozialdemokratischer Frauen und Mädchen beteiligt, in dem auch nichterwerbstätige und erstmals nicht gewerkschaftlich organisierte Frauen für die Ideen der Sozialdemokratie begeistert werden sollten. Ihr politisches Engagement zeigte sich auch in der Mitarbeit bei sozialdemokratischen Zeitungen und Zeitschriften, u. a. „Die Unzufriedene“, „Der Kampf“, „Arbeiter-Zeitung Wien“ sowie „Die Neue Zeit“, in umfangreicher Referenten- und Schulungstätigkeit in Partei- und Gewerkschaftsorganisationen, als Delegierte zu fast allen internationalen sozialistischen Frauenkongressen. 1907 nahm sie an der ersten internationalen sozialdemokratischen Frauenkonferenz in Kopenhagen teil. Ab 1908 war sie Mitarbeiterin im theoretischen Organ „Der Kampf“. 1911 führte sie den Vorsitz beim ersten Internationalen Frauentag in den Wiener Sofiensälen. Bei Kriegsausbruch Mitglied der linken, kriegsgegnerischen Minderheit in der SDAP, war sie ab 1916 maßgeblich in der im Bildungsverein Verein Karl Marx organisierten pazifistischen Linksopposition um Friedrich Adler engagiert. 1917 nahm sie als deren Delegierte an der 3. Zimmerwalder Konferenz teil. 1919 war sie für das sozialdemokratische Frauenreichskomitee Delegierte zur zweiten Reichskonferenz der deutschösterreichischen Arbeiter im Parlamentsgebäude. Sie war von 4.3.1919-9.11.1920 Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung (SdP), von 10.11.1920 bis 20.11.1923 Abgeordnete zum Nationalrat (I. GP) SdP und ab 20.11.1923 bis zu ihrem Ausscheiden aus Altersgründen am 5.12.1930 Mitglied des Bundesrates SdP. 1919 bis 1933 war Th. Sch. Mitglied des Parteivorstandes, 1900 bis 1932 (mit Ausnahme 1924) Delegierte auf den Parteitagen. Th. Sch. meldete sich auf fast allen Parteitagen zu Wort. Sie trat auf Parteitagen und Frauenkonferenzen vehement für die Gleichberechtigung der Geschlechter, speziell für das Frauenwahlrecht, Gleichstellung der Frau im Familienrecht, ein und wurde zur unbequemen Kritikerin einschlägiger Vorurteile auch innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung. Neben der politischen Emanzipation der Frau galt ihre besondere Aufmerksamkeit dem Mutter- und Kinderschutz, der sozialen Akzeptanz der Hauswirtschaft und sozialpsychologischen Themen. Setzte die Zulassung von Frauen als Parteivertreterinnen vor Gericht durch. Setzte sich besonders für die Ausgestaltung der Mädchenbildung ein. Th. Sch. stand innerhalb der Sozialdemokratie der Linksopposition nahe und trat in einem 1919 im „Kampf“ erschienenen Artikel für selbständige, aber in Verbindung mit der SDAP stehenden Arbeiterräten ein. Th. Sch. vertrat als Anhängerin der Freudschen Psychoanalyse innerhalb der Sozialdemokratie eine Minderheitenposition. 1926 formulierte sie den die Frauenfrage betreffenden Teil des „Linzer Programms“. Nach den politischen Veränderungen 1933, den Februarkämpfen 1934 und der Auflösung der SDAP zog sie sich ins Privatleben zurück. Sie wurde nicht, wie andere führende SozialdemokratInnen, nach Auflösung des Parlaments inhaftiert. Sie wechselte im Ständestaat mehrmals die Wohnung, kränkelte und vereinsamte zusehends. 1939 emigrierte sie nach Paris, zuletzt befand sie sich auf einem Aufenthalt in einem Sanatorium in Blois.

Mitglsch.: Bereits im 1. WK wurde die Wohnung der Schlesinger-Ecksteins zum Treffpunkt für junge Frauen, die in Th. Sch. ein Leitbild sahen und durch sie beeinflusst, aktive Sozialdemokratinnen wurden, dazu zählten u. a.: Marianne Pollak, Käthe Leichter und Stella Klein-Löw.

Werke

U. a.: „Gem. m. Eckstein, Gustav: Die Frau im 19. Jahrhundert. Am Anfang des Jahrhunderts“ (1902), „Die sozialdemokratische Frauenbewegung in Österreich. In: Neues Frauenleben, Oktober Nr. 10“ (1905), „Was wollen die Frauen in der Politik?“ (1909), „Mein Weg zur Sozialdemokratie. In: Popp, Adelheid (Hg.): Gedenkbuch. 20 Jahre östereichische Arbeiterinnenbewegung“ (1912), „gem. mit Adelheid Popp (Hg.), Die Wählerin“ (1918/1919), „Die geistige Arbeiterin und der Sozialismus“ (1919), „Wie will und wie soll das Proletariat seine Kinder erziehen?“ (1921), „Die Stellung der Intellektuellen in der Sozialdemokratie. In: Der Kampf, Nr. 8“ (1923), „Ein Volksbuch über die Freudsche Lehre. In: Der Kampf Nr. 4“ (1924), „Die Frau im sozialdemokratischen Parteiprogramm“ (1928), „Forderungen der arbeitenden Frauen an Gesetzgebung und Verwaltung. In: Leichter, Käthe (Hg.): Handbuch der Frauenarbeit“ (1931)

Literatur / Quellen

Qu.: Internationaal Instituut voor sociale geschiedenis, Amsterdam, Niederlande, 25 Briefe an Karl Kautsky; WStLa, Nachlass Fickert; MA 8, Meldearchiv, M-2241-48/91, Therese Schlesinger; Institut für Zeitgeschichte, München; Israelitische Kultusgemeinde, Trauungsmatrikel 1888; Tagblattarchiv (Personenmappe)

L. u. a.: BLÖF, Embacher 1991, Hauch 1991, Hauch 1995, Hauch 2002, Jaindl 1994, Klein-Löw 1964, Leichter 1933, ÖBL, Tichy 1989, Weinzierl 1975, http://www.schlesinger.at/, http://www.roteswien.at/, http://www2.onb.ac.at/ariadne/vfb/, http://www.fraueninbewegung.onb.ac.at/, http://jwa.org/encyclopedia/, www.aeiou.at

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