Rohr Angelina, Ps. Helene Golnipa; Ärztin und Autorin

Geb. Znaim, Mähren (Znojmo, Tschechien), 5.2.1890

Gest. Moskau, Russland, 1985

Die Autobiografie „Im Angesicht der Todesengel Stalins“ ist unter dem Pseudonym Helene Golnipa erschienen. Der richtige Name der Ärztin, die hier ihre Erinnerungen an die stalinistischen Zwangsarbeitslager veröffentlicht, ist A. R. Sie wird als Angelina Müllner am 5.2.1890 in Znaim geboren. Die Familie war, nach ihren Angaben, katholisch und monarchistisch eingestellt. Der Vater war Industrieller, der Onkel väterlicherseits, Laurenz Müllner, ein bekannter Theologieprofessor an der Universität Wien. Zu seinen Studenten zählte der berühmte Philosoph Otto Weininger. Über A. M.s Mutter ist nichts bekannt. Von ihren Geschwistern, Anna und Othmar, erfahren wir aus ihren Aufzeichnungen lediglich, dass der Bruder Angehöriger eines Jesuitenordens war. Auch A. R. bezeichnet sich in ihrer Autobiografie als religiös. Eine Haltung, die bei einer Ärztin mit nüchtern-naturwissenschaftlichem Verstand verwundert.

Nachdem A. M. die Grundschule in ihrem Heimatort Znaim besucht hat, übersiedelt die Familie nach Wien-Döbling. Dort besucht sie die Bildungsanstalt von Eugenie Schwarzwald, die österreichweit zu den besten Schulen für Mädchen zählt. In späteren Jahren lehrten dort Oskar Kokoschka und Adolf Loos. A. M. zählt auch zu den Stammgästen des Cafe Central, wo sie Peter Altenberg und Karl Kraus kennenlernt.

1910 heiratet sie Karl Rohr, einen vermögenden Mann, der sich, wie sie selbst, für Medizin interessiert und lebt mit ihm fünf Jahre lang in Italien. 1914 lebt und studiert sie in Paris, von einem Kuraufenthalt in der Schweiz kehrte sie nicht mehr in die französische Hauptstadt zurück – der Erste Weltkrieg war ausgebrochen. Während des Krieges lebt sie in Genf und in Zürich, dort setzt sie ihr Medizinstudium fort. Durch ihre Vorliebe für russische Literatur kommt A. R. mit den im Schweizer Exil lebenden russischen Emigranten in Verbindung. In Locarno wohnt sie von 1918 bis 1920 im Castello di Ferro und lernt dort Rainer Maria Rilke kennen. Die Erinnerung an diese Bekanntschaft scheint sie durch ihr ganzes Leben zu begleiten; noch bei ihrem Sterbebett steht der Kerzenleuchter, den ihr der Dichter einst geschenkt hat. 1920 übersiedelt sie mit ihrem Mann nach Berlin, wo sie eine Schülerin Sigmund Freuds wird. Noch von Moskau aus bleibt sie Mitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft, die ihren Sitz in Wien hat. Neben Medizin studiert A. R. in ihrer Berliner Zeit auch Chinesisch. Das Ehepaar Rohr plant, nach China auszuwandern. Doch es soll anders kommen: 1927 verlegen A. und Karl Rohr ihren Wohnsitz nach Moskau. Dr. Karl Rohr bekommt eine Stelle als Arzt am Marx-Engels Institut. Seine Frau ist vorerst Korrespondentin für deutsche und Schweizer Zeitungen. In dieser Funktion schreibt sie für die „Frankfurter Zeitung“ und die „Vossische Zeitung“. Sie unternimmt ausgedehnte Reisen durch die Sowjetunion und berichtet über die deutschen Bauerndörfer im Nordkaukasus. Ihre Artikel zeichnen sich durch journalistische Begabung, gute Beobachtungsgabe und kritische Haltung gegenüber den in einigen Teilen der Sowjetunion herrschenden Missständen aus.

A. R. war mit einigen führenden sowjetischen Persönlichkeiten bekannt, so zum Beispiel mit Nadeschda Krupskaja, der Witwe Lenins. Zusammen mit ihr organisierte A. R. ein polytechnisches Kinderlager, in dem familiär vernachlässigte Kinder eine handwerkliche Ausbildung bekommen sollten. Doch auch zu den Kreisen der prominenten Kommunistinnen und Kommunisten aus dem Ausland hat A. R. Kontakte. Sie lernt Klara Zetkin und den Sohn Karl Liebknechts, Wilhelm, kennen.

Wegen der Ausdehnung des Zweiten Weltkrieges auf Russland wird A. R. 1941 plötzlich von der geachteten Moskauer Persönlichkeit zu einer feindlichen Agentin. Sie und ihr Mann werden noch im Juni desselben Jahres wegen Spionageverdachtes verhaftet. Nach einem Aufenthalt im Moskauer Butyrkij-Gefängnis wird sie in ein Gefängnis bei Savatow, einer Stadt an der unteren Wolga im südöstlichen Russland, gebracht. Dort wird sie zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Weil sie Ärztin ist wird sie mit einer Männeretappe in ein Holzfällerlager in die Taiga gebracht. Sie erfährt von einem Mithäftling, dass ihr Mann im Saratower Gefängnis umgekommen ist.

Obwohl A. R. an einer Ohrenkrankheit leidet, die sie zu häufigen Aufenthalten im Lazarett zwingt, muss sie im Lager schwere körperliche Arbeit verrichten und kann nicht ständig als Ärztin arbeiten. Das letzte Zwangsarbeitslager, in das A. R. gebracht wird liegt im westsibirischen Tawda, dem Endpunkt der Eisenbahn am Südrand der Taiga. 1946 ist ihre Haftzeit zwar beendet, doch sie darf als Verbannte die Stadt nicht verlassen. 1949 wird über A. R. sogar die „Ewige Verbannung“ verhängt. Sie arbeitet zunächst als freie Ärztin in dem fast ausschließlich von Verbannten bewohnten Ort. Es gibt hier regelmäßig Epidemien wie Scharlach oder verschiedene Typhusarten, doch die Möglichkeit, Medikamente oder medizinische Geräte zu bekommen, ist hier genauso gering wie im Lager selbst. Trotz mangelhafter medizinischer Infrastruktur entdeckt A. R. ein Mittel zur Heilung von Schierlingsvergiftung. Zu diesen Vergiftungen kommt es, weil die Häftlinge wegen Hungers die Wurzeln dieser Pflanze essen. Bis zur Entdeckung der Behandlungsmethode durch A. R. war diese Vergiftung absolut tödlich. Sie schickt ihre Forschungsergebnisse an die Leningrader Akademie und wird daraufhin gebeten an der Akademie ihre Forschungen weiterzuführen. Als Verbannte kann sie allerdings dieser Einladung nicht Folge leisten. A. R. selbst kann unter den herrschenden Bedingungen ihre Forschungen zwar nicht erfolgreich fortsetzen, doch die von ihr entwickelte Methode wird trotzdem angewandt und weiter erforscht.

A. R. ist bis 1952 als Lagerärztin tätig. Der persönliche Mut, den sie zur Verbesserung der medizinischen Versorgung der Patienten im Lager einsetzt und die Weigerung sinnlose Anordnungen ihrer Vorgesetzten zu befolgen machen sie zu einer unbequemen Mitarbeiterin und führen 1952 dazu, dass sie aus dem Lagerdienst entlassen wird. Ab 1953 arbeitet A. R. als Deutschlehrerin in Tawda, 1954 wird die Verbannung unter der Bedingung aufgehoben, dass sie nicht an den Ort ihrer Verhaftung zurückkehrt; im selben Jahr wird sie erneut als Ärztin in ein Gefangenenlager für Syphilitiker geholt. Die endgültige Rehabilitierung erfolgt erst 1957 − den eigentlichen Haftgrund erfährt A. R. nie, sie kann jedoch im Alter von 67 Jahren nach einem Zwangsaufenthalt von insgesamt 16 Jahren in Haft und Verbannung nach Moskau zurückkehren. Dort erhält sie eine kleine staatliche Rente, die sie durch Stricken und Deutschunterricht aufbessert. Bis ins hohe Alter interessiert sich A. R. für das politische Geschehen in ihrer Wahlheimat. Ihre Erfahrungen mit dem politischen System in der Sowjetunion und ihre mutige Haltung angesichts der katastrophalen Zustände in den Lagern veranlassen viele DissidentInnen dazu, sich bei ihr Rat zu holen. Das Manuskript, in dem A. R. ihre Lagererinnerungen unter dem Pseudonym Helene Golnipa beschreibt, kann noch zu ihren Lebzeiten in den Westen geschmuggelt werden. Das Erscheinen des Buches erlebt sie nicht mehr, A. R. stirbt 1985 im Alter von 95 Jahren in Moskau und wird auf dem Friedhof von Kunzewo begraben.

W.: „Straßenbahn in Moskau. In: Vossische Zeitung 9.2.1928“, „Chabarowsk im Fernen Osten. In: Frankfurter Zeitung 4.9.1928“, „Filmatelier in Moskau. In: Frankfurter Zeitung 24.10.1930“, „Deutsche Bauern in Rußland. In: Frankfurter Zeitung 5.11.1930“, „Moskau baut. In: Frankfurter Zeitung 7.1.1932, „Abbau in der Sowjetunion. In: Frankfurter Zeitung 9.12.1932“, „Kontrolle des Sowjetbürgers. Die Einführung des Paßzwanges in der Sowjetunion. In: Frankfurter Zeitung 9.1.1933“, „(Golnipa, Helene): Im Angesicht der Todesengel Stalins. Hg. v. Isabella Ackerl“ (1989)

L.: König 1989, Marte 1989

 

Karin Nusko