Praun, Anna Lülja

geb. Simidoff

* 29.5.1906, St. Petersburg, Russland, † 28.9.2004, Wien
Architektin

Geboren als Anna Lülja Simidoff, Tochter einer Russin und eines Bulgaren, am 29.5.1906 in St. Petersburg des noch zaristischen Russland. 1909 Übersiedlung der Familie in die bulgarische Hauptstadt Sofia, Privatunterricht während der ersten beiden Schulstufen, danach Elementar- und Mittelschule bis zur Matura 1924. Übersiedlung nach Graz, Architekturstudium bei Professor Friedrich Zotter und Professor Wunibald Deininger an der Grazer Technischen Hochschule, noch während des Studiums, zwischen 1930 und 1936, Mitarbeit im Atelier des Architekten Herbert Eichholzer, 1937, noch vor Studienabschluss, Mitarbeit im Atelier Clemens Holzmeister in Wien, nach mehreren Unterbrechungen des Studiums zweite Staatsprüfung am 5. Juli 1939 mit sehr gutem Erfolg, unmittelbar danach Abreise über Berlin und Triest nach Paris zu Mutter und Schwester, bereits nach vier Wochen Rückkehr nach Sofia, Bulgarien, bis 1. Jänner 1940 dreimonatige Arbeit als Architektin bei einer deutschen Firma, danach ein Jahr bei der bulgarischen Hauptdirektion für Eisenbahnen, in der Folge, von 1. Juli 1941 bis Anfang März 1942 Wechsel in die Direktion für Wasserverkehr, März 1942 Übersiedlung nach Wien, Heirat des Architekten Richard Praun, Geburt der Tochter Svila, im Spätfrühling 1943 Übersiedlung der Familie in die Steiermark, 1947 Rückkehr nach Wien, bis zur Trennung von Richard Praun 1952 einige wenige gemeinsame Arbeiten, im selben Jahr Gründung eines eigenen Architekturbüros und erste Aufträge, 1954 bis September 1958 Mitarbeit in dem von Josef Frank und Oskar Wlach gegründeten Einrichtungshaus „Haus & Garten“, nach Schließung desselben, verstärkte Wiederaufnahme der Arbeit im eigenen Atelier, Bennogasse 3, ab 1965 Bennogasse 8, Wien 8, 1981 Preis der Stadt Wien für angewandte Kunst, 1987 Ehrenmitgliedschaft der Österreichischen Gesellschaft für Architektur, 1999 Ehrung durch die bulgarische Kulturministerin im Wiener Wittgensteinhaus, 2001 Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse, 2002 Ehrendoktorat der Technischen Wissenschaften an der Technischen Universität Graz, 2009 Ankauf des Nachlasses durch das MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien.
Die Spannbreite von A. L. P.s Arbeitsgebieten reichte von Einzelmöbeln, über Geschäfts- und Wohnungseinrichtungen bis hin zu Häusern und Segelyachten, jene ihrer Bauherrn von Künstlern wie Alfred Brendel, György Ligeti, Gudrun Baudisch, Ärzten wie Prof. Joseph Böck, Prof. Peter Brücke, Dr. Parusch Tscholakoff, bis zu Unternehmern wie Wolfgang Denzel, Franz Sailer, Dr. Hermann Anders und Harald Schrack.

A. L. P. ist in der Architektur- und Designgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert eine herausragende Persönlichkeit, in gewisser Weise eine Einzelgängerin, deren Arbeiten jedoch einen wesentlichen Beitrag zur qualitativen Wiener Einrichtungs- und Wohnkultur und zum individuellen nutzerbezogenen Einzelmöbel darstellen.
Ihr Gesamtwerk ist durch viele direkte und indirekte Einflüsse geprägt und letztlich nur in Verbindung mit der Darstellung ihrer Person, ihrer Geschichte und ihres Werdegangs zu verstehen. Das Erleben ihres kosmopolitischen Elternhauses in dem sie mit verschiedenen Sprachen und Kulturen konfrontiert wurde und ihre eigenen Erfahrungen mit unterschiedlichen Ländern wie Russland, Bulgarien, Frankreich und Österreich, prägten ihre Sensibilität und Aufnahmefähigkeit der differenzierten, für ihre Arbeiten wesentlichen Einflussfaktoren. Abgesehen davon, geriet A. L. P. schon während ihres Studiums in Graz (als einzige Studentin unter lauter Männern), in einer Zeit in der Traditionen hochgehalten wurden, in ein Umfeld reger Auseinandersetzungen mit avantgardistischen Ideen der internationalen Moderne, was mit den Erfahrungen der eigenen Arbeitswelten zu den bedeutenden Ergebnissen dieser Symbiose in ihren Projekten führte. Das Spektrum, das sie durch ihre Mitarbeit während des Studiums in den Ateliers von Herbert Eichholzer (mit dem sie auch zusammenlebte) und Clemens Holzmeister (wo sie auch ihren späteren Mann traf) kennenlernte, war vielfältig und umfasste eine große Bandbreite von Projekten und die damit verbundenen planerischen und gestalterischen Architekturauffassungen. Die nach dem Diplom folgende Arbeit in Bulgarien ließ nicht viele Möglichkeiten für die Umsetzung eigener Ideen, brachte ihr jedoch weitere Erfahrungen und Praxis bevor sie nach Wien ging, um den Architekten Richard Praun, einen Schüler Oskar Strnads, zu heiraten. Die Jahre ihrer Ehe waren für A. L. P. jene Periode, in der sie sich der Architektur bzw. einer selbständigen künstlerischen Entwicklung nicht widmen konnte. Trotz weniger gemeinsamer Arbeiten kam A. L. P. dennoch durch ihren Mann mit der Wiener Handwerkskunst sowie Ideen und Prinzipien in Berührung, die für sie zum damaligen Zeitpunkt neu waren; der Tradition der Wiener Moderne, der Wiener Wohnkultur und dem damit verbundenen Wiener Möbel, die sie auf diesem Wege kennenlernte, und die ihre weitere Arbeit beeinflussen sollten. Obwohl A. L. P.s Werk von großer Eigenständigkeit gekennzeichnet ist, gab es zahlreiche Einflüsse, die Zeit ihres Lebens – mittelbar und unmittelbar – auf ihr Werk, das hauptsächlich von Inneneinrichtung bestimmt ist, eingewirkt haben. Schon bald nach Beginn ihrer selbständigen Tätigkeit wurden bestimmte Gestaltungsprinzipien sichtbar, die jedoch ohne enges ideologisches Konzept ihre individuelle projektbezogene Gestaltungshaltung erkennen lassen; in ihren Arbeiten wird ein Gesamtkonzept sichtbar, das von wichtigen Faktoren wie Konstruktion, Symmetrie, Leichtigkeit und Transparenz bestimmt ist. Ihr Ziel ist es, Form, Funktion und Material mit den einfachsten Mitteln zu vereinigen. Die letztliche Form entsteht aus der Summe dieser differenzierten Anforderungen sowie der intensiven Kommunikation mit dem Auftrgaggeber und der damit einhergehenden Beschäftigung mit dessen Bedürfnissen, die allesamt von großer Bedeutung sind. A. L. P. ist es gelungen, ihre Ausformung des Wiener Möbels, das auf eine lange Tradition zurückgeht, in Ergänzung der gefragten Qualität der Wiener Handwerkstradition, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortzusetzen und neuen Impulsen, die aus den jeweiligen Anforderungen resultieren, anzupassen.
Vor diesem Hintergrund wurden Anfang der fünfziger Jahre, als A. L. P. ihre selbständige Arbeit mit der Gründung ihres Ateliers aufnahm, in Österreich stets versucht, die Tradition aufrechtzuerhalten und dabei sozialen Fortschritt zu schaffen, wobei auch eine Rezeption des Wiener Möbels erfolgte. Wesentlich dafür war auch das legendäre Einrichtungshaus „Haus & Garten“, das als hochangesehenes Geschäft für Wiener Wohnkultur für eine eher gehobene, finanzkräftigere Käuferschicht bestimmt war und auch nach Franks Emigration seine Ideen propagierte und Einrichtungen weiterentwickelte, die seinen Möbel- und Raumkonzeptionen entsprachen.
Zwischen 1954 und 1958 wirkte hier A. L. P. mit, wobei diese Jahre, in denen sie auch eigene Möbelentwürfe für das Geschäft realisieren konnte, für sie von großer Bedeutung waren. In starker, täglich gelebter Auseinandersetzung mit dieser Tradition, die letztlich auch nur durch sie weiterbestehen konnte, arbeitete sie zusätzlich für private Auftraggeber, die sie teilweise im Geschäft kennenlernte und überlagerte die bei Haus & Garten indirekt aufgenommenen Maximen Franks und Wlachs, deren Möbel hier noch präsent waren, mit ihren eigenen Planungs- und Entwurfsvorstellungen, die in den folgenden Jahren von ihr konsequent weiterentwickelt wurden.
Wie bei Strnad und Frank sind auch bei A. L. P. in den Raumfolgen und den, im Miteinander der Objekte Spannung erzeugenden, lockeren Möbelarrangements, die Zielvorstellungen der Nutzung erkennbar, spürbar und erlebbar. A. L. P. kann diese Klarheit, diese Leichtigkeit, dieses Gleichgewicht aus Möbelkunst und Vision der Nutzung ebenfalls in ihren herausragenden Projekten zusammenführen. Die Qualität und der Wert dieser aufwändigen Maßanfertigungen liegt in der Überlagerung der funktionellen Anforderung an das Objekt und der emotionellen Beziehung zwischen Konzept und Umsetzung im kostbaren Material: Edle Hölzer, Nirostahl, Messing, Stein u. a. Diese Qualitäten machen das jeweilige Objekt zeitlos. Obwohl A. L. P. in ihren Entwürfen von Anbeginn ihrer selbständigen Arbeit wesentliche, die erste und zweite Wiener Moderne bestimmende Faktoren aufnahm, blieb auch sie zur damaligen Zeit, von den zeitgleichen internationalen Tendenzen der 1950er und 1960er Jahre nicht unberührt, wobei ihr Oeuvre späterer Jahre – im Gegensatz zu allen anderen Entwerfern – eine fortlaufende Linie ohne wesentliche, zeitbedingte Stilumbrüche bildete.
A. L. P.s Beitrag zum Einzelmöbel weist bis zuletzt durchwegs die Qualitäten des legendären Wiener Möbels auf, dessen Tradition sie eigenständig und der ihr eigenen Interpretation entsprechend, bereichert durch Elemente der Wiener Raumkunst der Jahrhundertwende, der Wiener Moderne, des Art Déco, aber auch der internationalen Moderne fortsetzt. Grundsätzlich wird jedoch der einmal gefundene und bewährte Formenkatalog beibehalten. Alle Lösungen entspringen ihrer über die Jahre selbst gefundenen Auffassung, einem Gemisch aus Eklektizismus bereits bewährter Entwürfe und Spontaneität, und blieben deshalb von den zahlreichen Strömungen der Geschichte des modernen Möbels weitestgehend unberührt. Das Prinzip ihrer Arbeit gilt nicht primär der Schaffung innovativer, schon gar nicht Trends berücksichtigender Lösungen, sondern vielmehr der jeweiligen Reaktion auf komplexe Situationen. Diese konsequente Haltung dem Produkt, dem Auftraggeber und den Handwerkern gegenüber, hat ihr gesamtes Werk geprägt.

Werke

Literatur / Quellen

Bulant-Kamenova, A. / Denzel, D. (Hg.): Anna-Lülja Praun, Möbel, Einrichtungen, Bauten, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Würthle (26. 9. – 8. 10. 1986). Wien, 1986.
Bulant-Kamenova, A. / Denzel, D. (Hg.): Praun, Anna Lülja, Zum 80. Geburtstag am 29. Mai 1986. Wien, 1986.
Bulant-Kamenova, A. / Denzel, D. (Hg.): Anna-Lülja Praun, Möbel, Einrichtungen, Bauten zum 90. Geburtstag von Anna-Lülja Praun am 29. Mai 1996. Erweiterte Ausgabe des Katalogs anlässlich der Ausstellung in der Galerie Würthle vom 26. September bis 8. Oktober 1986. Wien, 1996.
Fischer, L. / Eiblmayr, J.: Anna Lülja Praun, Möbel in Balance. Salzburg, 2001.
Kandeler-Fritsch, M.: Anna Lülja Praun. In: Möbel Raum Design 11. Jg. 4/89
Kandeler-Fritsch, M.: Entwicklungslinien und Grundsätze im Werk von Anna Lülja Praun. Diplomarbeit, Universität Wien, 2008.
Konecny, F. M. / Wagner, A. G.: Lebenslinien, Fünf Entwürfe zum Thema „Das Leben einer Architektin“. In: Eva & Co, Eine feministische Kulturzeitschrift, Heft 16.
Kräftner, J.: Design für alle Tage, Die Architektin Anna-Lülja Praun. In: Parnass, 3/88.

BiografieautorIn:

Martina Kandeler-Fritsch