Parin-Matthéy Goldy, Elisabeth Charlotte, nom de guerre: Liselot; Medizinische Labor- und Röntgenassistentin, Spanienkämpferin und Psychoanalytikerin

Geb. Graz, Stmk., 30.5.1911

Gest. Zürich, Schweiz, 25.4.1997

Herkunft, Verwandtschaften: G. P.-M. wurde als Tochter von August und Franziska Matthéy-Guenet, geb. Dunkl in eine wohlhabende großbürgerliche Familie geboren. Der Bruder August wurde 1913 geboren. Die Familie stammte ursprünglich aus der Schweiz und war seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Graz ansässig, wo sie eine Fabrik für Steindruck − die renommierte lithographische Anstalt Matthéy − betrieb. Durch ungünstige Geschäftsentwicklung und Inflation verlor die Familie 1920 das gesamte Vermögen.

LebenspartnerInnen, Kinder: Seit 1955 verheiratet mit dem am 20.9.1916 in Novi Kloster/Slowenien geborenen Schweizer jüdischer Herkunft Paul Parin, Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller.

Ausbildungen: G. P.-M. besuchte in Graz die Volksschule, das Mädchengymnasium und anschließend die Keramikklasse an der Kunstgewerbeschule in Graz. Danach absolvierte sie eine Ausbildung zur medizinischen Labor- und Röntgenassistentin an der Grazer Universitäts-Augenklinik, an verschiedenen Spitälern und bei einem privaten Röntgenarzt.

Laufbahn: G. P.-M. verkehrte in ihrer Jugendzeit in den von der Jugendbewegung beeinflussten Grazer Künstler- und Intellektuellenzirkeln, wo sie AntifaschistInnen, SozialistInnen, KommunistInnen und AnarchistInnen traf. G. P.-M.s beste Freundin war zu jener Zeit die spätere Keramikerin und Bildhauerin Maria Biljan-Bilger, die sie 1928/1929 an der Kunstgewerbeschule in Graz kennen lernte und die 1933 G. P.-M.s Cousin Ferdinand Bilger heiratete. 1933 ging sie nach Wien und arbeitete unter anderem in einem von August Aichhorn geleiteten Heim für schwererziehbare Jugendliche.

Gemeinsam mit Ferdinand Bilger und anderen AntifaschistInnen schloss sie sich den Internationalen Brigaden an und ging am 5.6.1937 über Vermittlung der kommunistischen Jugend nach Spanien. Unter dem Tarnnamen „Liselot“ arbeitete G. P.-M. als Laborantin im Röntgeninstitut von Albacete. Im Herbst 1938 wurde das Zentrale Laboratorium und Spital der Internationalen Brigaden in die nordspanische Stadt Vic verlegt. Sie verließ Spanien mit den letzten Mitarbeiterinnen der Centrale Sanitaire Internationale im Frühjahr 1939 und wurde etwa zwei Monate lang im Frauenlager St. Zacharie (bei Marseille, für Flüchtlinge aus Spanien) interniert.

G. P.-M. kam Ende April 1939 nach Zürich, wo sie von 1939 bis 1952 (unterbrochen 1944/1946) ein Laboratorium für Blutuntersuchungen betrieb. In Zürich lernte sie Paul Parin kennen, den sie 1955 heiratete. Vom September 1944 bis Oktober 1945 war sie mit Paul Parin und weiteren fünf Ärzten im Rahmen der Schweizer Ärzte- und Sanitätshilfe als Freiwillige in der jugoslawischen Befreiungsarmee im Einsatz. 1946 organisierte sie die Poliklinik der Centrale Sanitaire Suisse und des Don Suisse in Prijedor, Bosnien. 1950 bis 1952 absolvierte sie in Zürich eine Ausbildung in Psychoanalyse (bei Prof. Dr. Rudolf Brun) und eröffnete danach mit Paul Parin und Fritz Morgenthaler eine psychoanalytische Privatpraxis, nahm am 1958 gegründeten Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ) teil und beteiligte sich aber nur informell am Ausbildungsbetrieb, weil sie sich gegen schulisch regulierte Formen von Lernen und Ausbildung aussprach. Von 1952 bis 1997 war sie Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und der Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse. G. P.-M. lebte von 1939 bis zu ihrem Tod am 25. April 1997 mit Paul Parin in Zürich.

Spez. Wirkungsbereich: G. P.-M. gilt als Mitbegründerin der deutschsprachigen Tradition der Ethnopsychoanalyse. Von 1954 bis 1971 unternahm sie gemeinsam mit Fritz Morgenthaler und Paul Parin sechs ethnopsychoanalytische Forschungsreisen nach Westafrika. Daraus entstanden die inzwischen als „Klassiker“ der Ethnopsychoanalyse geltenden Untersuchungen „Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika“ (1963) und „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika“ (1971).

Auf Basis der Ergebnisse ihrer Forschungsreisen in Westafrika war es ihnen erstmals in der Geschichte der Anwendung der Psychoanalyse gelungen, auf ethnologischem Gebiet die psychoanalytische Technik als Methode der ethnologischen Feldforschung zu erproben. Mit ihren ethnopsychoanalytischen Untersuchungen bei den Dogon und Agni und der gleichzeitigen Rückbeziehung auf ihre psychoanalytischen Erfahrungen in der eigenen Kultur konnten sie nachweisen, dass sich die Psychoanalyse praktisch und theoretisch eignet, Menschen, welche in anderen gesellschaftlichen Formationen und außerhalb der europäischen Kultur- und Zivilisationsgeschichte leben und aufgewachsen sind, psychoanalytisch zu verstehen. Die Psychoanalyse wird dabei als Trieb- und Konfliktpsychologie verstanden und als Instrument zur differenzierten Betrachtung und Analyse gesellschaftlicher Strukturen verwendet.

Die spezifischen Lebenswelten von Frauen, die bislang in der ethnologischen Forschung unberücksichtigt geblieben waren, verlangten eigene Konzepte, die G. P.-M. als eine „Begründerin einer ‚Psychoanalyse der Frau’ in Kulturen der Tropenzone“ ausweisen. Die ethnopsychoanalytischen Erfahrungen, die in fremden Ländern und Kulturen gewonnen wurden, nutzten sie für ihre Erkenntnisse zur Erweiterung und Differenzierung der psychoanalytischen Theorie und Praxis, deren Ergebnisse in den beiden Sammelbänden „Widerspruch im Subjekt“ (1978) und „Subjekt im Widerspruch; Aufsätze 1978 bis 1985“ (1986) im Syndikat Verlag in Frankfurt am Main vorgestellt wurden.

Für die Spanienkämpferin G. P.-M. war die praktizierte Psychoanalyse eine Fortsetzung der Guerilla mit anderen Mitteln, um „in den einzelnen Menschen die Widerspenstigkeit und das Aufständische freizukriegen“.

Sie sah, wie auch die in Nicaragua engagierte Psychoanalytikerin Marie Langer, in der Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus eine logische Konsequenz, da sie sich in ihrer subversiven, gesellschaftsverändernden Kraft gleichen.

Als wichtigster Grundsatz galt G. P.-M. aber stets die Selbstverantwortung als „moralische Anarchistin“.

W. u.a.: „Das Wunderkind und sein Scheitern. In: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen 31“ (1962), „Gem. m. Parin, Paul/Morgenthaler, Fritz: Die Weissen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika“ (1963), „Gem. m. Parin, Paul/Morgenthaler, Fritz: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika“ (1971), „Gem. m. Parin, Paul: Der Widerspruch im Subjekt“ (1978), „Psychoanalyse, Frauenrolle und Weiblichkeit. Ein Gespräch mit Goldy Parin-Matthéy (Anke Schulz, Dagmar Scholz und Sophinette Becker). In: links, 12, 123” (1980), „Gem. m. Parin, Paul/Morgenthaler, Fritz: Unsere Vorstellungen von normal und anormal sind nicht auf andere Kulturen übertragbar. In: Heinrichs, Hans-Jürgen (Hg.): Das Fremde verstehen“ (1982), „Gem. m. Parin, Paul: Das obligat unglückliche Verhältnis der Psychoanalytiker zur Macht. In: Lohmann, Hans-Martin (Hg.): Das Unbehagen in der Psychoanalyse“ (1983), „Gem. m. Parin, Paul: Medicozentrismus in der Psychoanalyse. In: Hoffmann, Sven Olav (Hg.): Deutung und Beziehung. Kritische Beiträge zur Behandlungskonzeption und Technik in der Psychoanalyse“ (1983), „Gegen den Verfall der Psychoanalyse. Gespräch mir Paul Parin und Goldy Parin-Matthéy. In: tell, Nr. 15, 4. August 1983“, „Gem. m. Parin, Paul: Subjekt im Widerspruch. Aufsätze 1978-1985“ (1986), „Nicht so wie die Mutter. Über Frauenrolle und Weiblichkeit. In: (mit Paul Parin) (Hrsg.): Subjekt im Widerspruch“ (1986), „Alt sein. In: Brede, Karola et al. (Hg.): Befreiung zum Widerstand“ (1987), „Meine Freundin Maria. In: Kurrent, Fritz (Hrsg.): Maria Biljan-Bilger. Keramik-Plastik-Textil. Bilder und Schriften“ (1987), „Wieso bist du so anders als unsere Mütter?‘ Über die Psychoanalytikerin Marie Langer und ihr Buch „Von Wien bis Managua“. In: Tages-Anzeiger (Zürich), 2. März 1987“, „Gem. m. Parin, Paul: Psychoanalyse der Macht. Zur Einleitung einer Diskussion. In: Merkur 475/476“ (1988), „Gem. m. Parin, Paul: Freiheit und Gleichberechtigung für Kosovo. In: Wiener Tagebuch, Nr. 11“ (1988), „Gem. m. Parin, Paul: Psychoanalyse und politische Macht. Thesen zur Psychoanalyse politischer Verhältnisse. In: Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik (Zürich), 9, 18“ (1989), „Subkulturelle Chance. In: Eversmann, Susanne/Kunstmann, Antje (Hg.): When I’m Forty-Four. Kursbuch Älterwerden“ (1993)

L.: Eisenhut/Weibel 2001, Hug 1988, Landauer 2003, Pletscher 1996, Rambert 1996, Reichmayr 1995, Reichmayr 2002, Reichmayr/Wagner/Ouederrou/Pletzer 2003, Rütten 1996, Schober 2003, Sonnleitner 2005

 

Ilse Korotin