Pappenheim Bertha („Anna O.“); Fürsorgerin und Sozialarbeiterin

Geb. Wien, 27.2.1859

Gest. Neu-Isenburg, Deutsches Reich (Deutschland), 28.5.1936

Herkunft, Verwandtschaften: Der Vater Siegmund Pappenheim (†1881), Getreidehändler, war Mitbegründer des ungarisch-orthodoxen Bethauses in Wien; die Mutter Recha Goldschmidt (†1905) die Tochter des Frankfurter Bankiers Goldschmidt. Drei Geschwister: Henriette (*1849), starb mit 18 Jahren an Schwindsucht; Flora (*1853), starb mit zwei Jahren; Wilhelm (*1860). Durch den Tod der beiden älteren Schwestern wurde B. sehr behütet erzogen.

LebenspartnerInnen, Kinder: B. P. blieb unverheiratet und kinderlos. Wahltochter: Dr. Hanna Karminski, die als ihre Nachfolgerin fungierte und 1942 während der Deportation in ein Konzentrationslager starb.

Ausbildungen: B. P. besuchte eine katholische Privatschule in Wien, zusätzlicher Unterricht durch eine Gouvernante. Sie sprach fließend Englisch, Französisch und Italienisch. 1882 Krankenpflegekurs des Badischen Frauenvereins.

Laufbahn: B. P. ging als „Anna O.“ in die Geschichte der Psychoanalyse ein. Während der Pflege ihres erkrankten Vaters im Sommer 1880 in Bad Ischl flüchtete sie sich in Tagträume, in ihr „Privattheater“, wie sie es selbst nannte, und zuletzt in die hysterische Erkrankung, welche die Hinzuziehung eines Arztes notwendig machte. In der Behandlung durch den angesehenen Wiener Arzt Josef Breuer entwickelte sie ein „kathartisches Verfahren“, eine „talking cure“, in deren Verlauf lange aufgestaute Gefühle zugänglich und Affekte abreagiert wurden, bei gleichzeitigem Schwinden der Symptome.

Sigmund Freud übernahm das Verfahren von seinem Freund Breuer und konzentrierte sich darauf, in den Erzählungen der Lebens- und Krankengeschichten seiner PatientInnen nach den Ursachen ihrer Leidenszustände zu forschen. Dabei wurde die Wirksamkeit des Einflusses der sozialen Umwelt (wie Familie, Erziehung, Kultur und Traditionen) bei der Verursachung der Erkrankungen offenkundig. Diese Entdeckung wurde zu einem grundlegenden Bestandteil der Psychoanalyse.

In der noch gemeinsam mit Josef Breuer verfassten „Vorläufigen Mitteilung“ (1893) und den „Studien über Hysterie“ (1895) konnten bereits zentrale psychopathologische Erkenntnisse publiziert werden, darunter auch die Fallgeschichte „Anna O.“. Als Hintergrund der Krankheit von „Anna O.“ wurde die orthodox-jüdische Familie erkannt, welche der überdurchschnittlich begabten Tochter nichts anbot, außer der zu dieser Zeit üblichen Bildung für junge Mädchen, die lediglich zur Vorbereitung auf eine standesgemäße Eheschließung diente.

Nach ihrer Genesung ging B. P. 1888 nach Frankfurt, wo sie ein weitreichendes Engagement in der Fürsorge und Sozialarbeit der jüdischen Gemeinde entwickelte. Sie gründete 1902 den Verein „Weibliche Fürsorge“ und den „Israelitischen Mädchenclub“. Ab 1895 leitete sie das jüdische Waisenhaus für Mädchen in Frankfurt, gründete Pflegestätten für obdachlose Mädchen, für schwangere Frauen, für Mütter mit Säuglingen, Heime für Klein- und Schulkinder und hatte die Oberaufsicht über diese Pflegestätten inne. 1897 wurde sie in den Vorstand des Israelitischen Frauenvereins gewählt. In diesem Verein versuchte sie, junge Mädchen zu einem „pflichttreuen, selbständigen Leben auszubilden“. Hauswirtschaft und das traditionelle jüdische Leben standen dabei an erster Stelle. Zu dieser Zeit schrieb sie auch Beiträge über die Frauenfrage, unter anderem für die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ und für die Wochenschrift „Ethische Kultur“. 1904 begründete sie den „Jüdischen Frauenbund Deutschland“ mit und war von 1914 bis 1924 Vorstandsmitglied. Während der Zeit ihrer Aktivitäten im „Jüdischen Frauenbund“ war dieser auch ein Mitgliedsverein des Bundes deutscher Frauenvereine. 1907 gründete sie das „Isenburger Heim“ für gefährdete Mädchen, unverheiratete Mütter und ihre Kinder. Die Heimgründung rief nicht nur positive Reaktionen hervor, da nach jüdischem Recht unehelich geborene Kinder nicht in die jüdische Gemeinde aufgenommen wurden und diese meistens den christlichen Heimen in Obhut übergeben wurden.

B. P. engagierte sich für den Schutz der Frauen in Osteuropa und kämpfte gegen den Mädchenhandel. Sie hielt Vorträge über „Die sozialen Grundlagen der Sittlichkeitsfrage“ und unternahm zahlreiche Reisen, um mit Mädchen in Bordellen selbst sprechen zu können.

1914 gründete B. P. den „Weltbund jüdischer Frauen“ und war mit Sadie American dessen Präsidentin. Während des Ersten Weltkrieges wurde sie „Fabrikpflegerin“, unterstützte die Arbeiterinnen in ihren häuslichen Arbeiten, beaufsichtigte ihre Kinder und stellte medizinische Betreuung bereit. 1917 richtete sie einen jüdischen Mädchenclub in Belgien ein. Neben ihrer umfangreichen Tätigkeit im Bereich des Sozialwesens beschäftigte sie sich unter anderem auch mit Handarbeiten und entwarf Schmuck, der in Ausstellungen gezeigt oder für Spendenaktionen versteigert wurde. Wegen ihrer patriotischen Einstellung sprach sie sich gegen eine Emigration der Juden aus Deutschland sowie gegen eine Kinderverschickung aus. 1935 erkrankte B. P. an Krebs. Am 14. April 1936, wenige Wochen vor ihrem Tod, wurde die schwerkranke Frau auf Grund einer Denunziation von der Gestapo in Offenbach verhört, wo sie ihre Aussage gegen Hitler bekräftigte. Am 10. November 1938 wurde das Isenburger Heim von den Nationalsozialisten niedergebrannt.

B. P. trug durch ihren eigenen „Fall“, dessen Behandlung sie wesentlich mitgestaltete, zu grundlegenden Erkenntnissen der Psychoanalyse bei, in einer Zeit, wo die Behandlung „nervöser“ Leiden festgefahren war und unbefriedigend ausschließlich auf somatisch-organische Ursachen zurückgeführt wurden.

In den 1890er Jahren entfaltete sich B. P. zur energiereichsten, zielsichersten, unbeirrtesten und furchtlosesten Persönlichkeit bei der Entdeckung und Analyse von Ursachen sozialer Notstände, Entwicklung von Hilfsmaßnahmen, Propagierung ihrer Ziele, Schulung weiblicher Hilfskräfte, Sammlung von Geldern und Koordinierung von Maßnahmen.

B. P. forcierte die Umstellung von privater, aus der Ghettozeit stammender, unwirksam gewordener individueller Wohltätigkeit in eine von Vereinen betriebene, die neuesten Erkenntnisse wirksamer Fürsorge berücksichtigende, soziale Hilfsarbeit.

B. P. sprach sich gegen allzu orthodoxen Religionsunterricht aus, der für die Frau alles Weltliche als schädlich ausschloss. Auf der Delegiertenkonferenz von 1907 meinte sie: „Vor dem jüdischen Gesetz ist die Frau kein Individuum, keine Persönlichkeit, nur als Geschlechtswesen wird sie beurteilt und anerkannt“. Ein Ausspruch, der den Aufschrei der jüdischen Männerwelt nach sich zog. Für die Frauen war er jedoch Anstoß zu neuen Initiativen.

W.: B. P. veröffentlichte zahlreiche Zeitschriftenfeuilletons, Kinder- und Jugendbücher und Übersetzungen. „Ein Schwächling. Novelle“ (1902), „Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien“ (1904 mit Sara Rabinowitsch), „Die Memoiren der Glückel von Hameln geboren in Hamburg 1645, gestorben in Metz 19. September 1724“ (1910), „Die Frau im kirchlichen und religiösen Leben. In: Deutscher Frauenkongreß Berlin 27. Februar-2. März“ (1912), „Sämtliche Vorträge. Bund deutscher Frauenvereine (Hg.)“ (1912), „Tragische Momente: Drei Lebensbilder“ (1913), „Kämpfe. Sechs Erzählungen“ (1916), „Harte Kämpfe“ (1923), „Sisyphus-Arbeit. Reisebriefe aus den Jahren 1911 und 1912“ (1924), „Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel – Galizien. (Hg. Helga Heubach)“ (1992)

Das Schauspiel „Das Frauenrecht“, das eine bittere Anklage gegen die Ungleichheit der Geschlechter darstellt, wurde wahrscheinlich nie aufgeführt.

L.: Brentzel 2002, Brentzel 2004, Brentzel 2004a, Colin 1993, Friedrichs 1981, Kaplan 1981, Lorenz 1997, Nave Levinson 1993, ÖNB 2002, Pataky 1898, Reichmayr 1990, Thesing 2004