Nestor Johanna, auch Hanna, geb. Müller; Diplomatin
Geb. Munkacs, Ungarn (Ukraine), 24.11.1917
Gest. Wien, 11. Oktober 2012
Herkunft, Verwandtschaften: Der Vater, Gustav Müller (gest. 1945), jüdischer Herkunft, war Wirtschaftsprüfer, an einer Bank beteiligt und Reserveoffizier; als Einjährig-Freiwilliger war er 1917 in Munkacs stationiert, wo J. N. (genannt Hanna) zur Welt kam. Die Mutter Marianne geb. Fichtinger (gest. 1987) stammte aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie: ihr Großvater hatte 1866 die Armee furagiert und dabei ein Vermögen erworben, ihr Vater lebte in Wien als Privatier, war Bewunderer Karl Luegers und zunächst gegen diese Eheschließung seiner Tochter („Ich will keinen jüdischen Schwiegersohn, sonst glaubt man, ich bin pleite“), doch sie setzte ihre Liebesheirat durch. J. N. blieb das einzige Kind.
LebenspartnerInnen, Kinder: Die gläubige Katholikin J. N. ließ sich 1941 mit dem Rechtsanwalt Dr.iur. Walter Nestor (1903-1945) heimlich kirchlich trauen, denn als „Mischling 1. Grades“ durfte sie ihn unter der Naziherrschaft nicht heiraten. Als Monarchist und Mitglied des CV war er 1938 sofort nach dem „Anschluss“ nach Dachau gebracht worden, ebenso wie sein Vater und sein Bruder oder Gesinnungsfreunde wie Leopold Figl und Alfons Gorbach. Er wurde aber 1939 wieder freigelassen und konnte den Krieg überstehen, indem er als Stabsgefreiter in einer Apotheke Dienst machte. Am 10.8.1942 wurde ihr Sohn Franz geboren. Nach Kriegsende, im Juni 1945, wurde Walter Nestor von den Russen bis Bratislava verschleppt, dort nach Interventionen freigelassen, langte aber nie daheim an, sondern blieb für immer vermisst. J. N. setzte in mehrjährigen Bemühungen durch, dass zunächst ihre Namensänderung von „Müller“ in „Nestor“ und schließlich ihre Eheschließung nachträglich anerkannt wurde. Eine neuerliche Heirat zog sie nicht mehr in Betracht: „Ich wollte nicht, dass sich jemand in die Erziehung meines Kindes einmischt“, bemerkte sie im Gespräch.
J. N.s Vater liebte die Kunst, er sammelte Bilder zeitgenössischer österreichischer Maler, besuchte verschiedene Ateliers, lud manche Künstler zu Tische und ließ sich, seine Frau und besonders oft seine Tochter porträtieren; so lernte sie schon früh Sergius Pauser, Franz Lerch, Franz Wiegele, Arthur Brusenbauch, Robin Christian Andersen, Oskar Kokoschka, Carl Moll, Albert Paris Gütersloh und andere kennen. Die Kontakte zu österreichischen Politikern wie Leopold Figl, Alfons Gorbach u. a. scheinen besonders auch durch ihren Mann gefördert worden zu sein. Während ihrer Berufslaufbahn im Außenamt kam sie natürlich mit zahlreichen DiplomatInnen und PolitikerInnen des In- und Auslandes in Kontakt; unter den ÖsterreicherInnen erwähnte sie besonders Bundespräsident Franz Jonas, Bruno Kreisky, die Außenminister Lujo Tončić-Sorinj und Erich Bielka sowie dessen Frau Etelka, mit der sie noch später Kontakt hielt, oder den Außenminister und Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der fast gleichzeitig mit ihr die Konsularakademie kurz vor deren Schließung absolvierte. Sie pflegte einen großen Bekanntenkreis und liebte Einladungen zu geben, auch noch im Ruhestand. Zu ihren langjährigen Freunden zählte der 2009 verstorbene Chorherr Leo Musina in Klosterneuburg.
Ausbildungen: J. N.s Bildungsweg war typisch für „höhere Töchter“ der damaligen Zeit: sie besuchte zunächst das Sacré Coeur; da dort jedoch nicht Griechisch unterrichtet wurde, wechselte sie in das Humanistische Gymnasium in der Kundmanngasse (damals Sophienbrückengasse), wo sie 1935 die Matura mit Auszeichnung ablegte. Daneben perfektionierte sie ihre Englisch- und Französischkenntnisse durch Auslandaufenthalte. Anschließend studierte sie Rechtswissenschaften an der Universität Wien und legte 1937 und 1938 die ersten beiden Staatsprüfungen ab. Daneben absolvierte sie die Konsularakademie, an der sie 1937 die Diplomprüfung mit Auszeichnung ablegte (bald darauf wurde die Konsularakademie von den Nationalsozialisten geschlossen).
Ihrer finanziell bevorzugten Lage sei sie sich bewusst gewesen erzählte J. N.; diese habe einen Abstand zu ihren Schulkolleginnen geschaffen. Daran und an das Elend vieler Menschen in der Zwischenkriegszeit denke sie ungern zurück. Doch 1938 änderte sich auch für sie schlagartig die Lage: Mit dem „Anschluss“ wurde sie über Nacht zum „Mischling ersten. Grades“ degradiert, daher zur dritten Staatsprüfung „aus rassischen Gründen“ nicht zugelassen und durfte wie oben erwähnt nicht die Ehe mit Walter Nestor schließen. Ihr Vater musste Vermögensabgabe zahlen, für das Haus „musste ein Verwalter her“ (J. N.). Das Doktorat aber durfte sie noch erwerben und promovierte am 11. März 1939. Erst am 9. März 1948 konnte sie die dritte Staatsprüfung nachholen und im November 1952 die Diplomatenprüfung ablegen.
Laufbahn: Vom 1. April 1940 bis 8. August 1945 war sie als Sprachlehrerin tätig; 1945 musste sie als nunmehr alleinerziehende Mutter einen entsprechenden Beruf zu ergreifen suchen und bewarb sich um eine Anstellung im diplomatischen Dienst. Sie hatte diesen Wunsch schon früher geäußert, doch ihr Vater hatte mit Recht geantwortet: „Da nehmen sie keine Frauen.“
Auch nun verhielt sich der damalige Außenminister Karl Gruber (ÖVP-Politiker) ablehnend, obgleich sie alle erforderlichen Kenntnisse und Voraussetzungen erbrachte. Doch der Dritte Nationalratspräsident und spätere Bundeskanzler Alfons Gorbach (ebenfalls ÖVP-Politiker), der gemeinsam mit ihrem Mann in Dachau gewesen war, unterstützte ihre Bewerbung nachdrücklich und erfolgreich: am 1. Oktober 1947 trat Dr. J. N. ihren Posten als Vertragsbedienstete des Höheren Dienstes an, womit sie als erste Frau die Diplomatinnenlaufbahn einschlagen konnte. Ein altgedienter Kollege soll geäußert haben: „Wenn das der Metternich wüsste, er würde sich im Grab umdrehen.“ Die Doppelbelastung von Beruf und Betreuung ihres Kindes bewältigte sie mit Hilfe ihrer Mutter, bis sie 1954 in die USA entsendet wurde; dorthin nahm sie ihren nun zwölfjährigen Sohn mit und er besuchte eine Mittelschule, anschließend ein College, studierte an der Yale University in Stanford, wurde Rechtsanwalt und kam nach Österreich nur mehr zu gelegentlichen Besuchen bei seiner Mutter.
1949 wurde sie an die österreichische Verbindungsstelle in Frankfurt a. M., 1951 nach Bonn versetzt. 1953 wurde sie „definiv gestellt“ und leistete den Diensteid. Im September 1954 trat sie den Dienst an der Österreichischen Botschaft in Washington an, wurde 1955 an das Generalkonsulat in New York versetzt und 1962 – wieder als erste Frau – zum Generalkonsul Zweiter Klasse ernannt. Als sie 1962 nach Wien zurückberufen wurde, schrieb z. B. ein führender Banker, Andrew L. Gomory, an Außenminister Bruno Kreisky, wie sehr ihr Scheiden allseits bedauert werde, und hob „her personality, tact, legal knowledge and organizing ability“ hervor; das allgemeine Urteil in den Fachkreisen laute, dass „Dr. Nestor was one of the finest Consular officials ever sent to New York“.
1966-1970 wurde sie als a. o. und bev. Botschafter nach New Delhi entsendet; in dieser Position war sie nicht die erste Frau in Österreich, sondern Dr. Johanna Monschein, die 27 Tage nach ihr auf einen AkademikerInnenposten im Außenamt übernommen wurde, aber zehn Jahre älter als J. N. war und bereits 1959 in Oslo zur Botschafterin bestellt wurde. J. N.s „Zugeteilter“ in New Delhi war zunächst Dr. Herbert Amry, „der beste, den ich je hatte“ (so J. N.). Er befand sich bereits seit längerem an der Botschaft, als sie kam, und unterstützte sie gemeinsam mit seiner Frau Marlen sehr wirkungsvoll. (Herbert Amry erlitt 1985 als Botschafter in Athen einen frühen und plötzlichen Tod unter ungeklärten Umständen – war der pflichtbewusste Beamte Waffenschmugglern im Wege gestanden?) Einmal kam zum allgemeinen Staunen die damalige Ministerpräsidentin Indira Gandhi zu Besuch in die Österreichische Botschaft, was sich die Diplomatenkollegen damit erklärten, dass „der Botschafter“ eine Frau sei. Ihre schriftlichen Berichte waren so interessant, dass sie der damalige Bundespräsident Franz Jonas zur Lektüre – auch für seine Frau – nachhause mitnahm.
Ihr nächster Auslandsposten war die Leitung der Botschaft in Israel 1972-1976; sie hatte sich dies gewünscht, „um zu erfahren, wie es dort wirklich ist“, und zur Vorbereitung bei Kurt Schubert, Univ.-Prof. für Judaistik an der Universität Wien, Abendkurse besucht, sodass sie ihre Begrüßungsworte bereits hebräisch sprechen konnte. Allerdings musste sie einige Unregelmäßigkeiten abstellen und verhindern, womit sie sich Feinde machte und zum Ziel von Intrigen wurde, durch die sie sich jedoch nicht beirren ließ. Sie erlebte u. a. den Yom-Kippur_Krieg (1973), den Bürgerkrieg im Libanon (1976), den Aufstand der Araber in Israel und im besetzten Gebiet (1976), die Besuche des deutschen Budenskanzlers Willi Brandt (1973), von U.S.-Präsident Nixon (1974) oder von Staatssekretär Henry Kissinger 1974 und 1975 in Israel. Ihre Politischen Berichte mit ihren Analysen und Kommentaren stellen eine so wertvolle zeitgeschichtliche Quelle zur damaligen Innen- und Außenpolitik Israels und damit zur Nahostpolitik insgesamt dar, dass sie 2006 von dem Univ.-Prof. für Zeitgeschichte Rolf Steininger und dem Diplomaten Rudolf Agstner unter dem Titel „Israel und der Nahostkonflikt 1972-1976“ herausgegeben wurden. In besonderer Erinnerung blieben ihr auch der offizielle Besuch des israelischen Außenministers Abba Eban in Wien im März 1973, den sie begleitete, sowie die Besuche von Bundeskanzler Bruno Kreisky 1974 und von Außenminister Erich Bielka 1975 in Israel; Kreisky, der nach dem Yom Kippur-Krieg mit einer Gruppe der Sozialistischen Internationale kam, schien zunächst nervös, sei aber entgegen seinen Erwartungen freundlich empfangen worden und habe durch seine Intelligenz und Eloquenz beeindruckt, erzählte sie.
Zuletzt wurde sie 1979 Botschafterin in Irland, wo sie im selben Jahr den Besuch des Papstes Johannes Paul II. erlebte, welcher Grüße des Wiener Kardinals Dr. Franz König überbrachte. Sie fühlte sich in diesem Land sehr wohl und konnte interessante Informationen bezüglich der EU beschaffen, weil Irland bereits Mitglied war. Mit 2. Dezember 1982 wurde sie von Dublin „in die Zentrale einberufen“ und trat mit Ablauf desselben Monats in den Ruhestand. Bis ins hohe Alter blieb sie politisch und kulturell interessiert.
Sie starb am 11.10.2012 und wurde am 22.10.2012 am Wiener Zentralfriedhof nach römisch-katholischem Ritus bestattet.
Ausz.: Venezolanischer Orden Francisco Miranda II. Kl. (1977); Großoffizier d. Spanischen Ordens Isabella die Katholische (1978); Großes Silbernes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (1983). J. N. und die Journalistin Pia Maria Plechl waren die ersten Frauen, die in den „Ritterorden vom Heiligen Grab“ aufgenommen wurden.
Qu.: Standesausweis mit Laufbahn; Briefe im Bruno Kreisky Archiv; Gespräche mit J. N. 2008 und 2009 sowie mit den DiplomatInnen Christoph Cornaro und Gertrude Kothanek.
L.: Steininger/Agstner 2006 (Enthält 101 politische Berichte der Österreichischen Botschaft Tel Aviv an die jeweiligen Außenminister, davon 89 von Johanna Nestor.)
Edith Stumpf-Fischer