Meitner Lise, Elise; Physikerin

Geb. Wien, 17.11.1878
Gest. Cambridge, Großbritannien, 27.10.1968

Herkunft, Verwandtschaften: Vater: Dr. Philipp Meitner, Rechtsanwalt; Mutter: Hedwig, geb. Skovran.

Ausbildungen: Volksschule, Bürgerschule Wien 2, Czernin-Platz 3, ab 1898 Privatkurse zur Vorbereitung auf eine externe Matura; 1901 Matura am k. k. akadem. Gymnasium, ab 1902 Studium der Physik und Mathematik an den Universitäten Wien und Berlin, 1.2.1906 Promotion zum Dr.phil. (Physik), als zweite Frau im Studienfach Physik und als vierte Doktorin der Universität Wien.

Laufbahn: Nach Studienabschluss Arbeit am Institut für theoretische Physik in Wien; Ablehnung eines Stellenangebots der Auer-Gesellschaft, einer Glasglühlichtfabrik in der Nähe Wiens; ab 1907 in Berlin systematische Vertiefung auf dem Gebiet der radioaktiven Chemie (Räume dafür vom Leiter des Chemischen Instituts, Emil Fischer, zur Verfügung gestellt), seit 1908 Kontaktaufnahme mit dem Kreis Berliner Physiker, Besuch der sogenannten Mittwoch-Kolloquien, auf denen neue Forschungsergebnisse diskutiert wurden; auf einem Kongress in Salzburg 1909 Vorstellen zweier ihrer Arbeiten über Beta-Strahlung, auf diesem Kongress stellte auch Albert Einstein seine Relativitätstheorie vor; Besuch der Vorlesungen über theoretische Physik bei Max Planck; Laborplatz bei dem Leiter des Berliner Instituts für Experimentalphysik, Heinrich Rubens; Beginn der Zusammenarbeit mit Otto Hahn; 1910 Teilnahme am 1. Internationalen Radium-Kongress in Brüssel; L. M. war von 1912 bis 1915 als Assistentin bei Max Planck in Berlin sowie 1913 am Institut für Chemie in Berlin tätig („sie durfte am Chemischen Institut in Berlin […] nur in den Kellerräumen des Instituts arbeiten und […] musste sich verpflichten, die eigentlichen Arbeitssäle des Instituts nicht zu betreten“, Lind 1961). 1913 Angebot einer Dozentenstelle mit Aussicht einer Professur aus Prag; 1914 Einberufung Hahns zum Militärdienst, 1915 meldet sich M. freiwillig als Röntgenschwester, in dieser Funktion und als Assistenz bei Operationen Arbeit in einem Frontspital in Lemberg; 1916 Einsatz im Vereinshospital des Roten Kreuzes in Prag-Karolinenthal, an freien Tagen Fahrt nach Berlin und Wiederaufnahme der Forschungen, teilweise wieder mit Hahn. 1918 Sympathisierung mit dem reformistischen Flügel der SPD, Besuch der Veranstaltungen mit dem Programm „Proletarier und Intellektuelle vereinigt euch“. Von 1917 bis 1938 richtete L. M. die physikalisch-radioaktive Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem (Otto Hahn) ein und hatte dessen Leitung inne. 1922 venia legendi an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin, ab 1923 Vorlesungen, ab 1.3.1926 ao., nicht beamtete Professur für experimentelle Kernphysik. 11.7.1933 Entzug der Lehrbefugnis, trotzdem Weiterführung der Forschungen mit Hahn, da sie österreichische Staatsbürgerin war. Ende 1938 war L. M. maßgeblich an der Entdeckung der Kernspaltung beteiligt. Lebensbedrohliche Anzeige ihres Kollegen Kurt Heß, Flucht nach Stockholm, dort von 1938 bis 1946 Arbeit am Nobel-Institut, Arbeitsbedingungen jedoch budgetär und personell ungenügend. Ab 1941 Vorlesungen am Stockholmer Institut, doch nur wenig Interesse an ihrer Arbeit. Im Exil und im ständigen Briefwechsel mit Otto Hahn Mitverfolgung der Entwicklung der Kernspaltung. Ab 1946 war sie Leiterin der kernphysikalischen Abteilung im Physikalischen Institut der Technischen Hochschule Stockholm, 1946 Gastprofessorin an der Universität Washington, Angebote zur Arbeit in den USA schlug sie aus; 1947 Angebot der Leitung der Physikalischen Abteilung in Mainz abgelehnt; 1947 o. Professur in Stockholm; 1959 und 1964 Bryn-Mawr-College; 1960 Übersiedlung nach Cambridge, um in der Nähe ihrer Familie zu leben.

L. M. und Otto Hahn entdeckten u. a. das neue radioaktive Element Protaktinum und legten die Grundlagen für die Entdeckung der Kernspaltung. Die Entdeckung dieses Elements führte dazu, dass sie 1924/25 gemeinsam mit Hahn erstmals für den Chemie-Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Otto Hahn erhielt 1945 den Nobelpreis. M. galt als überzeugte Antifaschistin und Kriegsgegnerin und sprach sich für die friedliche Nutzung der Atomenergie aus, obwohl sie keinen der zahlreichen Aufrufe gegen die Atomrüstung in den 1950er Jahren unterschrieb.

Ausz., Mitglsch.: 1924 Leibniz-Medaille, Berliner Akademie der Wissenschaft; 1925 Ignaz-Lieben-Preis; 1928 Ellen-Richards-Preis, USA (mit Ramart Lucas); 1946 vier amerikanische Ehrendoktorate; Woman of the Year, USA; 1947 Ehrenpreis der Stadt Wien für Wissenschaft, Vilma-Preis; 1. weibliches Mitglied der Naturwiss. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Dr.h.c.mult., 1955 Otto-Hahn-Preis für Chemie, 1949 Max-Planck-Medaille, Deutsche Physikalische Gesellschaft (mit Otto Hahn), 1966 Enrico-Fermi-Preis, 1960 Wilhelm-Exner-Medaille u. a., anlässlich ihres Aufenthalts in den USA; 1956 Fünfzig Jahre-Doktor-Diplom, Wien; 1957 Orden Pour le mérite, BRD, Mitglied der Naturwissenschaftlichen Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1958 Ehrenbürgerin der Stadt Wien; 1962 Dorothea-Schlözer-Medaille, Universität Göttingen, 1967 Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst. Dreimal vorgeschlagen für den Nobelpreis. 1992 erhielt das Element 109 den Namen „Meitnerium“.

Qu.: Tagblattarchiv/Personenmappe; Churchill College, Cambridge.

W. u. a.: Eine vollständige Liste der 169 Publikationen befindet sich in: Rife, Patricia: Lise Meitner and the Dawn of the Nuclear Age. Birkhäuser: Berlin 1999.

Über die Absorption der Alpha- und Beta Strahlen. Phys. Z. 7“ (1906), „Gem. mit O. Hahn: Actinium C, ein neues kurzlebiges Produkt des Actiniums. Phys. Z. 9“ (1908), „Über die Beta-Strahlen der radioaktiven Substanzen. Zusammenfassender Bericht. Naturwiss. Rundschau 25“ (1910), „Gem. mit O. Hahn: Die Muttersubstanz des Actiniums, ein neues radioaktives Element von langer Lebensdauer. Phys. Z. 19“ (1918), „Radioaktivität und Atomkonstitution. Naturwiss. 9“ (1921), „Die Sichtbarmachung der Atome. Kaiser-Wilhelm-Inst. Chem. Jahresbericht“ (1924), „ Gem. mit M. Delbrück: Der Aufbau der Atomkerne: Natürliche und künstliche Kernumwandlungen“ (1935), „Kernphysikalische Vorträge am Physikalischen Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Berlin“ (1936), „The Nature of the Atom. Fortune Magazine, Februar“ (1946), „Gem. mit O. Hahn: Atomenergie und Frieden. United Nations International Atomic Energy Agency“ (1954), „The Status of Women in the Professions. Physics Today 13“ (1960), „Wege und Irrwege zur Kernenergie. Naturwiss. Rund. 16“ (1963), „Looking Back. Bull. Atom. Sci. 20“ (1964)

L.: Ausstellungskatalog Meitner 2003, BLÖF, Crawford 1969, Feyl 1981, Hermann 1984, Kerner 1990, Lewin Sime 2001, ÖNB 2002, Rife 1990, Rife 1999, Stolz 1989, Strohmeier 1998, Waniek 2002, Yount 1999