Lüdeke, Hedwig Auguste
* 1879, Wien, † 1961, Berlin
Volksliedforscherin, Feldforschungspionierin, Übersetzerin und Schriftstellerin
H. L. kam am 21. September 1879 als zweites Kind von Prof. Dr. Heinrich Carl Moritz (ab 1902 Ritter von) Richter (1841-1923) und dessen Frau Hedwig Elisabeth geb. Hoffmann (1850-1929), Tochter eines Leipziger Verlagsbuchhändlers, in Wien zur Welt. H. L.s Vater der aus einer Prager jüdischen Kaufmannsfamilie stammte, war zum Katholizismus übergetreten und machte sich als Kulturhistoriker und Journalist einen Namen. Er unterrichtete an verschiedenen Lehranstalten, zuletzt an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Von 1865 bis 1916 war er Mitarbeiter der bürgerlich-liberalen Wiener „Neuen Freien Presse“.
H. L.s älterer Bruder Heinrich (1875-1958) schlug die Laufbahn eines Berufsoffiziers ein.
H. L. wuchs – abgesehen von einer kurzen Zwischenspiel in Baden – in Wien auf. Im Gegensatz zu ihrem Bruder Heinrich, der ab seinem zehnten Lebensjahr eine Schule besuchte, wurde sie bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr ausschließlich privat unterrichtet. Erst danach konnte sie für zwei Jahre auf ein Oberlyzeum gehen.
Früh schon zeigte sich H. L.s Affinität zum lyrischen Ausdruck, ihre große Freude am Rezitieren. Diese Neigung fand in ihren leidenschaftlichen Versuchen Fortsetzung, fremdsprachige Epen und Versdichtungen ins Deutsche zu übertragen. Ausgehend von Walter Scotts Werken erweiterte sie ab dem 15. Lebensjahr sukzessive ihre Sprachkenntnis um das Französische, Alt- und Neuitalienische. Später kam die ungarische Sprache hinzu. Offenbar hatte H. L. sprachmusikalisches Talent. Mit erheblichem Geschick brachte sie sich die verschiedenen Sprachen im wesentlichen autodidakt bei (etwas das sie in späteren Jahren als Volksliedsammlerin in Südosteuropa beibehalten sollte). Ihrem Wunsch nach einer Gesangsausbildung wurde vom autoritären Vater nicht entsprochen, ein Philologiestudium an der Universität wurde ihr gleichfalls verwehrt.
1905 heiratete H. L. den deutschen Verwaltungsjuristen Dr. Max August Eduard Lüdeke (1858-1934), den sie im selben Jahr während der Sommerfrische in Karersee in der Nähe von Bozen kennengelernt hatte und zog zu ihm nach Hannover. Ab 1912 ließ sich die Familie in Berlin nieder, wo Max das Amt des Vizepräsidenten im Provinzialschulkollegium innehatte. Das Ehepaar hatte drei Söhne: August Heinrich Max (1906-1985), Heinrich Georg Wilhelm (1909-1989) und Georg Eberhard Hermann (1916-1945, im Krieg verschollen).
H. L. war gemäß den damaligen gesellschaftlichen Erwartungen an bürgerliche Frauen, zeit ihres Lebens nicht im klassischen Sinne erwerbstätig. Ihren Sprachstudien, den Übersetzungen und dem Verfassen eigener Werke konnte sie sich in der ersten Lebenshälfte nur in den Mußestunden widmen.
Die entscheidende Wende im Leben von H. L. kam, als sich ihre älteren Söhne im Zuge des Schulunterrichts mit Altgriechisch beschäftigen mußten, und sie parallel begann sich diese Sprache anzueignen. Ab Mitte der 1920er Jahre stellte sie schließlich die Erforschung der neugriechischen Dichtung in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten: Ergänzend zum Privatunterricht, der vor allem dazu dienen sollte, sich mit verschiedenen Dialekten der modernen griechischen Sprache vertraut zu machen, besuchte sie zwei Semester lang Sprachkurse am Seminar für Orientalische Sprachen (Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin).
Ab dieser Zeit fertigte H. L. in ihrem Heim zahlreiche Abschriften von neugriechischen Volksliedsammlungen, auch aus dem Ausland an und erstellte umfangreiche Wortverzeichnisse von verschiedenen griechischen Dialekten.
Nach dem Tod ihres Gatten Max – die Kinder waren inzwischen volljährig – begann die mittlerweile 55-Jährige Wahlberlinerin in größerem Umfang zu reisen. Zwischen 1935 und 1939 unternahm H. L. vier Reisen, auf welchen sie Griechenland, den (damals noch nicht zu Griechenland gehörenden) Dodekanes und Zypern besuchte. Im Zuge ihrer Begegnungen mit der dortigen Landbevölkerung gelang es ihr, Kontakt zu den letzten Menschen herzustellen, welche in der Lage waren, aus dem Gedächtnis die sehr langen rhapsodischen Gedichte zu reproduzieren. Die nur in mündlicher Form weitergegebenen Zweizeiler, epischen Balladen und Heldenlieder zeichnete H. L. im Diktat, ein Aufnahmegerät stand ihr nicht zur Verfügung, minutiös auf, wobei ihr die gute, autodidaktische Schulung in Berlin zweifelsfrei zugute kam. Mit einer Fülle von in der Fachwelt zum Teil gänzlich unbekanntem ‚Liederschatz‘ kehrte die Liedsammlerin mit Wiener Wurzeln von ihren, mit minimalen Mitteln durchgeführten Feldforschungen zurück. Tiefes Interesse, Begeisterungsfähigkeit und ihr beachtenswertes Rezitationstalent machten H. L. bei den Menschen in den Dörfern populär.
Der durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erzwungene Abbruch ihrer letzten Feldforschungsreise, das gänzliche Abreißen ihrer Auslandskontakte über einen so langen Zeitraum, der Verlust ihres Lieblingssohnes Georg in der Kriegsmaschinerie und die kaum vorhandenen Publikationsmöglichkeit im Nachkriegsdeutschland sowie ihre stark in Mitleidenschaft gezogene Gesundheit hemmten H. L. in ihrem wissenschaftlichen Eifer nicht. Ihr Tagebuch aus jener Zeit ist ein ergreifendes Zeugnis der Bedrohungen während und im Gefolge der Nazi-Herrschaft. Dessen ungeachtet trieb sie die ganze Zeit die Editionsvorarbeiten ihrer Reiseerinnerungen, die Übersetzung des von ihr gesammelten Balladenmaterials und die Herausgabe eines von ihrem Freund Fritz Boehm hinterlassenen Manuskripts voran. Der Neogräzist und Volkskundler Fritz Wilhelm Victor Boehm (1880-943) war H. L. bis zu seinem plötzlichen Herztod während eines Bombenangriffs bei der Beschäftigung mit der Volksdichtung des griechischen Sprachraums kongenialer Kollege und Begleiter im Lebensabend.
1948 gelang es der damals gehbehinderten Forscherin unter abenteuerlichen Umständen, das ihr inzwischen zum Alptraum gewordene Berlin trotz verhängter Blockade zu verlassen, um in Belgien an einem Byzantinisten-Kongreß teilzunehmen. Daran geknüpft war die konkrete Hoffnung auf eine Weiterreise nach dem von den Kriegszerstörungen nicht heimgesuchten, ihr gastlichen Zypern, wo sie ihre inzwischen erheblich geschwundene körperliche Widerstandskraft wiederzuerlangen hoffte und ihre ‚Erntearbeit‘ fortzusetzen gedachte. Ihren Plan, im Anschluß an Brüssel in ihrem „Paradies der Volksdichtung“ fußzufassen, konnte H. L. nicht mehr verwirklichen. Die fortlaufenden Schrecken und Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre, das ungewisse Schicksal ihres im Krieg als Soldat verschollenen Sohnes Georg und der tragische Tod ihres Lebensmenschen Fritz Boehm in ihrem eigenen Haus, hatten ihren Tribut gefordert: an Körper und Geist geschwächt erlitt H. L. während ihrer Studien in der Bibliothek des Instituts für Byzantinistik in Belgien einen Zusammenbruch. Noch in Brüssel wurde sie in eine psychiatrische Heilanstalt eingeliefert und nach einigen Monaten nach Deutschland rücküberstellt. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte H. L. mit den Anzeichen eines mit Temperamentsausbrüchen begleiteten allmählich fortschreitenden geistigen Verfalls in verschiedenen Pflegeeinrichtungen in Berlin. Sie starb dort am 30. Dezember 1961. H. L.s letzte Ruhestätte befindet sich am Parkfriedhof Lichterfelde in Berlin.
Obschon Amateurin, kann H. L. – nicht zuletzt aufgrund ihres besonderen Werdegangs – als Leitfigur in der neugriechischen Liedforschung gelten sowie als eine ihrer Zeit vorausschreitende Feldforschungspersönlichkeit (siehe ihren Bericht „Im Paradies der Volksdichtung“). Nicht nur hat H. L. durch die unkonventionelle Art ihres Feldforschens – durch große Nähe, Selbstgenügsamkeit unterwegs und ihre authentische Begeisterung über die Gedichtfunde – den Zugang zu den Menschen in den abgelegenen Dörfern gefunden. Sie hat darüber hinaus ihr spezifisches Vortragsgeschick gezielt dazu eingesetzt, den griechischen urbanen Eliten (in Athen, Nikosia usw.) die Virtuosität ihrer Volksdichtung auf die unmittelbarste Weise vor Augen zu führen, in dem sie die Reime und Balladenausschnitte – nicht selten Proben ihrer aktuellen Feldforschungstätigkeit – direkt in den patrizischen Salons aufgeführt und kommentiert hat. Die ‚Dame aus Berlin‘ wurde dadurch zur sozialen Mittlerin zwischen den Schichten, in einem sehr konkreten Sinne zur Stimme der Landbevölkerung in den besten Häusern der von ihr besuchten Landstriche (advocacy), und sie konnte zudem junge Menschen der begüterten Klasse dazu bewegen, selber in die Dörfer hinauszugehen und Diktate anzufertigen. Wiewohl der Kriegsausbruch die entstehende forschungsmäßig Dynamik auf einen Schlag beendete, war die Anwesenheit von H. L. in den Dörfern Griechenlands und Zyperns am Vorabend des 2. Weltkriegs, besonders ihr Verschriftlichen oraler Überlieferungen ein ausgesprochener Glücksfall. Nach Kriegsende war kaum jemand ihrer vielfach hochbetagten Informantinnen und Informanten mehr am Leben.
Mit ihrer reaktiven Annäherung an die Menschen während ihrer Feldforschung hat die Laienforscherin H. L. zweifellos Maßstäbe gesetzt. Ganz besonders im Hinblick auf ihr Beispiel für die Selbstdefinition und das selbstinitiierte Wirken einer Frau als Forscherin im vorgerückten Alter. Die besondere Tragik besteht darin, dass H. L.s avantgardistischer Reise-Duktus gemeinsam mit ihrer, seit den Wiener Jugendtagen vorhandenen Neigung zu Impulsivität und dramatischem Ausdruck, in dem Maß als sie die Erforschung der indigenen Rhapsoden-Traditionen in den Dörfern entscheidend gefördert haben, zu Spannungen in ihrem eigenem soziokulturellen Umfeld geführt haben, zu einer in ihren Auswirkungen folgenschweren Entfremdung von Bekannten und Familienangehörigen.
Es ist H. L.s bleibendes Verdienst, manche nur in der Erinnerung betagter Menschen auf dem Lande noch lebenden rhapsodische Gedichtvarianten in Griechenland – und insbesondere Zypern – der 1930er Jahre (Primärdaten) aufgezeichnet und der Nachwelt erhalten zu haben. Dieses von ihr gesammelte Material wurde von der Athener Akademie der Wissenschaften in drei Bänden veröffentlicht, zwei davon posthum.
1924 wurde H. L. zum externen Mitglied der ungarischen Petöfi-Gesellschaft ernannt. 1933 wurde ihr das Silberne Kreuz des Erlöserordens Griechenlands verliehen.
Werke
Schriften (chronologisch, kürzere Artikel sind nicht berücksichtigt)
Lintperg, H. [= H. L.]: Ein Traum der Freundschaft. Gedichte. Pierson, Dresden, 1902. Hermann von Schellenberg. Ein deutsches Trauerspiel in fünf Aufzügen. Fischer, Berlin-Friedenau, [1911]. Sein eigener Feind. Schauspiel in fünf Akten. Unverdorben & Co., Berlin-Lichterfelde, [1916]. Balladen aus alter Zeit. Aus dem Altenglischen und Altschottischen übertragen von Hedwig Lüdeke. Grote, Berlin, 1922. H. L. / Bartók, B.: Das ungarische Volkslied. Versuch einer Systematisierung der ungarischen Bauernmelodien. Übersetzung der Liedertexte ins Deutsche von Hedwig Lüdeke. (Ungarische Bibliothek Reihe 1/11). De Gruyter, Berlin u. a., 1925. H. L. / Gragger, R.: Ungarische Balladen. Übertragen von Hedwig Lüdeke. Ausgewählt und erläutert von Robert Gragger. De Gruyter, Berlin u. a., 1926. Die Volksdichtung der Griechen. In: Kriekoukis, Ch. / Bömer, K. (Hg.): Unsterbliches Hellas. Andermann, Berlin, 1938, S. 160-178. H. L. / Grégoire, H.: Nouvelles chansons épiques des IXe et Xe siècles. Byzantion 14, 1939, S. 235-263. Akademie von Athen (Hg.): Neugriechische Volkslieder. Auswahl und Übersetzung ins Deutsche von H. Lüdeke. 1. Teil: Griechische Texte. Akademie der Wissenschaften, Athen, 1943. [gelangte erst 1947 in Umlauf] Boehm, Fritz: Die neugriechische Totenklage. Minerva, Berlin, 1947. [H. L. realisierte die Edition nach dem Tod von Fritz Boehm] Im Paradies der Volksdichtung. Erinnerungen an meine volkskundlichen Sammel- und Forschungsreisen im griechischen Sprachgebiet. Minerva, Berlin, 1948. [auszugsweise neu ediert von Lüdeke, Au. / Röth, D. (Hg.): Griechenlandreisen. Röth, Kassel, 1982] Griechische Volksdichtung. Archiv für Literatur und Volksdichtung 1, 1949, S. 196–250. Akademie von Athen (Hg.): Neugriechische Volkslieder. Auswahl und Übertragung ins Deutsche von Hedwig Lüdeke. 2. Teil: Übertragungen. Akademie der Wissenschaften, Athen, 1964. [besorgt von Prof. Dr. G. A. Megas] Akademie von Athen (Hg.): Neugriechische Volkslieder – Akritenlieder. Auswahl und Übersetzung ins Deutsche von Hedwig Lüdeke. Unter Mitwirkung von Dr. Fritz Boehm und Vita Kalopissi-Xanthaki. Zweisprachige Ausgabe. Akademie der Wissenschaften, Athen, 1994.
Literatur / Quellen
Quellen
Nachlass: In Familienbesitz (Urkunden, Briefe, handschriftliche Notizen, kurze Lebensbeschreibung durch ihren Sohn August etc.)
Literatur
Brednich, R. W.: Verzeichnis der Schriften von Hedwig Lüdeke, in: Lüdeke, Au. / Röth, D. (Hg.): Griechenlandreisen. (Das Gesicht der Völker: Erlebnisbücher). Röth, Kassel, 1982, S. 208-209.
Heiske, W.: Neugriechische Volkslieder. Zweiter Teil, Übertragungen. Athen 1964, Rez. in: Jahrbuch für Volksliedforschung 11, 1966, S. 158-159.
Puchner, W.: Neugriechische Volkslieder. Akritenlieder. Auswahl und Übersetzung ins Deutsche von H. L. Athen 1994, Rez. in: Jahrbuch für Volksliedforschung 42, 1997, S. 201-203.
Röth, D.: Hedwig Lüdeke, im Paradies der griechischen Volksdichtung. Hellenika, 1980, S. 71-75.
Röth, D.: Nachwort [Biographie Hedwig Lüdekes], in: Lüdeke, August und Röth, Diether (Hg.) Griechenlandreisen. (Das Gesicht der Völker: Erlebnisbücher). Röth, Kassel, 1982, S. 202-205.
Rosenthal-Kamarinea, I.: Die Volkskundlerin Hedwig Lüdeke und ihr Werk. Hellenika, 1975, S. 32-41.
Wilding, M.: Die Liedforscherin Hedwig Lüdeke auf Zypern, in: Krpata, M. / Wilding, M. (Hg.): Das Blatt im Meer – Zypern in österreichischen Sammlungen. (Kittseer Schriften zur Volkskunde 8). Selbstverlag des Museums, Kittsee, 1997, S. 147-168. Z Krpata, M.: Die Wienerin Hedwig Richter, verh. Lüdeke (1879-1961). Eine genealogische Spurensuche zum 60. Todestag. In: Jahrbuch der Österr. Gesellschaft für Familien- und regionalgeschichtliche Forschung (ÖFR) 2022, Wien 2021, S. 61-74.