Lingens Ella, geb. Reiner; Ärztin und Widerstandskämpferin
Geb. Wien, 18.11.1908
Gest. Wien, 30.12.2002
E. R. wurde 1908 in Wien in eine Familie des gehobenen Mittelstandes geboren. Sie besuchte eine Privatschule im ersten Bezirk, wo sie 1926 maturierte. Als Jugendliche schloss sie sich zunächst der Wandervogelbewegung an, dann den sozialistischen Mittelschülern. 1926 trat sie der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Sie studierte Jus in Wien und Zürich und promovierte im Jahr 1931. Da sie als jugoslawische Staatsbürgerin keine Arbeitserlaubnis als Juristin bekam, nahm sie das Studium der Medizin auf und studierte in Wien, München und Marburg. Während der Februarkämpfe 1934 stellte sie ihre Wohnung der Redaktion der Arbeiter-Zeitung zur Verfügung, versteckte Literatur der Revolutionären Sozialisten und organisierte deren Verteilung. Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland unterstützte sie gemeinsam mit Kurt Lingens, einem Studienkollegen aus Deutschland, verfolgte deutsche Staatsbürger. Am 7. März 1938 heirateten E. R. und Kurt Lingens, am 3. August 1939 wurde Sohn Peter Michael geboren.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich gewährten E. und Kurt Lingens Verfolgten jüdischer Herkunft Unterschlupf. 1942 bereiteten sie gemeinsam mit Karl Motesiczky (1904-1943, in Auschwitz umgekommen), die Flucht einer Gruppe polnischer Juden in die Schweiz vor. Hierbei wurden sie einem Angehörigen der JUPO (Judenpolizei), der ihnen als Fluchthelfer bekannt war, an die Gestapo verraten. Am 13. Oktober 1942 wurden E. und Kurt Lingens wie auch Motesiczky verhaftet. Während ihr Ehemann nach einigen Wochen entlassen und einer Strafkompanie zugeteilt wurde, blieb E. L. im Polizeigefängnis Roßauerlände in Haft. Am 15. Februar 1943 wurde sie mit einem Schutzhaftbefehl ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau transportiert. Dort arbeitete sie als Ärztin im Krankenrevier, wo sie dem SS-Arzt Josef Mengele unterstellt war. Im April 1943 erkrankte sie an Fleckfieber, wurde aber von einem Arzt, der ein ehemaliger Studienkollege war, gerettet. Anfang Dezember 1944 wurde sie nach Dachau überstellt und war als Ärztin in einem Frauen-Außenkommando in München tätig. Hier gelang es ihr, viele Frauen krank zu schreiben und sie so vor der anstrengenden Fabrikarbeit wenigstens zeitweise zu bewahren. Anschließend versah sie ihren Dienst im Dachauer Frauenkrankenrevier. Am 29. April 1945 erlebte sie die Befreiung des Lagers durch die Amerikaner.
Nach dem Krieg arbeitete E. L. in der Lungenheilstätte Laas bei Kötschach in Kärnten als Sekundarärztin. Im selben Jahr beendete sie ihr Medizinstudium und absolvierte eine fachärztliche Ausbildung in Pulmologie. Anschließend war sie in verschiedenen Tuberkuloseabteilungen sowie an der Tuberkulosefürsorgestelle in Wien tätig. 1947 erfolgte die Scheidung von Kurt Lingens. 1954 wurde sie ärztliche Fachreferentin im Sozialministerium und übernahm in der Folge die Leitung des Tuberkulosereferats. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass eine österreichweite statistische Erfassung der Tuberkuloseerkrankungen durchgeführt wurde, die in jährlichen Berichten publiziert wurde und Grundlage geeigneter Maßnahmen zur Behandlung und Bekämpfung der Tbc war. E. L. wirkte auch an der Gesetzgebung im Gesundheitsbereich mit, insbesondere am Tuberkulosegesetz (1968). 1973 ging sie in den Ruhestand. Neben ihrer ärztlichen Tätigkeit widmete sich E. L. der antifaschistischen Gedenkarbeit und legte mit ihren Berichten über Auschwitz und Dachau frühe Zeugnisse der Erinnerungsliteratur zu den Konzentrationlasgern vor. Seit 1960 war sie Präsidentin und später Ehrenpräsidentin der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz. 1980 wurde sie gemeinsam mit Kurt Lingens von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel einer „Gerechten der Völker“ ausgezeichnet. E. L. starb am 2002 in Wien. Sie wurde in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt.
Qu.: Junker, E.: DDr. Ella Lingens gestorben. In: Sammlung Ermar Junker, DÖW 6.963, 7.245b, 20.000/L435. DÖW, Interviewsammlung Erzählte Geschichte, Interview 550.
W.: „Gefangene der Furcht“ (1947), „Prisoners of Fear“ (1948), „Gem. m. Adler, H.G./Langbein, Hermann (Hg.): Auschwitz. Zeugnisse und Berichte“ (1962), „Gem. m. Schmiedek, Leopoldine: Aus der Sektion 5 des Bundesministeriums für Soziale Verwaltung. Die Tuberkulose-Situation in Österreich im Jahre 1960“ (1962), „Eine Frau im Konzentrationslager“ (1966), „Gem. m. Leupold-Löwenthal, Harald (Hg.): Sigmund Freud House Bulletin“ (1975ff.), „Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes“, hg. u. mit e. Vorw. vers. von Peter Michael Lingens“ (2003)
L.: Berger 1987, Gutman/Fraenkel/Borut 2005, Korotin 2011, Ponger 1999, Ella Lingens: Die Mutter aus den Leitartikeln. In: AZ Thema, Nr. 19, 9. Mai 1986.
Christine Kanzler