Lichtenstein Gisela; Sekretärin und Stalin-Opfer
Geb. 1907, Graz, Stmk.
Gest. ?

Gisela (Gisa) Lichtenstein, geboren 1907 in Graz, war die Kusine von Josef und Max Lichtenstein und die Schwester von Elsa Beiser-Lichtenstein (geb. 25.02.1906). Die jüdische, ursprünglich aus Galizien stammende Familie, übersiedelte 1906 von St. Gallen (Schweiz) nach Graz. Der Vater war Handelsvertreter, bis er 1924 ein kleines Konfektionsgeschäft in Graz eröffnete.

Nach der Handelsschule arbeitete Gisa Lichtenstein zwei Jahre in einem Büro und dann in der Landwirtschaft. Als sie arbeitslos wurde, half sie im Familiengeschäft aus. Gisa Lichtenstein trat 1929 in die KPÖ ein und wurde Funktionärin bei den KPÖ-Frauen und in der Roten Hilfe. Ihre konservativen Eltern, auf die sie für Arbeit und Unterkunft angewiesen war, verurteilten ihr politisches Engagement, vor allem nach dem Verbot der KPÖ. Einen Ausweg sah Gisa Lichtenstein in der Emigration in die Sowjetunion. Ihre ältere Schwester Elsa war mit dem polnischen Revolutionär Josef Beiser-Barski, einem ehemaligen Aktivisten der KPÖ in Graz, verheiratet. Nach dessen Ausweisung aus Österreich übersiedelte das Ehepaar im Mai 1932 nach Char’kov, wohin sich auch Gisa Lichtenstein 1934 wendete. Da sie aus Geldmangel nicht länger in Wien die Zustimmung des ZK der KPÖ zu ihrer Ausreise abwarten konnte, fuhr sie einfach mit einem Touristenvisum zu ihrer Schwester in die Ukraine. In Char’kov fand Gisa Lichtenstein Arbeit bei einer deutschsprachigen Zeitung und konnte ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern. Sie wollte von der KPÖ in die VKP (b) übertreten und sowjetische Staatsbürgerin werden.

Obwohl die wichtige Frage, ob Gisa Lichtenstein Österreich mit Zustimmung der KPÖ verlassen hatte, noch ungelöst schien, delegierte sie die KPÖ-Vertretung beim EKKI (Oskar Grossmann) zu einem Kurs auf die Moskauer Kaderschule der Komintern KUNMZ (Коммунистический университет национальных меньшинств Запада). Gisa Lichtenstein begann ihr Studium dort im November 1934 (unter dem Namen Lieselotte bzw. Liza Fel’dman), wurde aber bald relegiert, da ihr Schwager Josef Beiser-Barski im Dezember 1934 in Char’kov verhaftet worden war. Beiser-Barski wurde im Mai 1935 zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Der Moskauer KPÖ-Vertreter Oskar Grossman, der sich der im Lande verbreiteten Sippenhaftung bewusst war, riet Gisa Lichtenstein zur Rückreise nach Österreich, diese wollte jedoch unbedingt in der UdSSR bleiben. Sie durfte bis Juli 1934 im Studentenheim der KUNMZ wohnen, wurde dann mit einigen anderen KUNMZ-Absolventen zur Arbeit in die Wolgadeutsche Republik abkommandiert. Die mühsame Arbeit auf einer Geflügelzucht-Sowchose setzte ihr schwer zu, zumal sie nach einer Fehlgeburt gesundheitlich angeschlagen war. Anlässlich eines Gesprächs im April 1936 mit Ernst Fischer und Johann Koplenig in Moskau schöpfte sie die Hoffnung, die KPÖ würde ihr die nötigen Dokumente zur Verfügung stellen und eine Empfehlung abgeben, damit sie die sowjetische Staatsbürgerschaft und eine neue Arbeitsstelle erhalte. Hans Täubl, der österreichische Kaderreferent beim EKKI, weigerte sich indes im Dezember 1936, für Gisa Lichtenstein („unklares Element“) eine Empfehlung abzugeben, und begründete dies mit der fehlenden Zustimmung der Partei zu ihrer Ausreise aus Österreich 1934 sowie mit der Verhaftung ihres Schwagers.

Zuerst wurde der Direktor der Sowchose verhaftet, in der sie beschäftigt war, dann der Vizedirektor Erich Beyer, ihr früherer Lebensgefährte. Beyer war auch der Vater eines bald verstorbenen Kindes von Gisa Lichtenstein. Sie selbst wurde am 16. August 1936 verhaftet und am 31. März 1940 zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt; die Strafe wurde im Berufungsverfahren (möglicherweise aufgrund der zahlreichen Bittgesuche Lichtensteins an führende sowjetische Politiker) auf fünf Jahre reduziert.

Im Saratover Gefängnis lernte sie Boris Brainin kennen. Bemerkenswert an ihrem Fall ist die extrem lange Untersuchungshaft, die auch auf Erich Beyer (Байер Эрих Фридрихович; geb. 1898 in Deutschland, verhaftet 15.08.1936) zutrifft: er wurde erst im Februar 1940 verurteilt und des Landes verwiesen, was seine Auslieferung an die Gestapo bedeutete. Am 19. März 1952 wurde Gisa Lichtenstein wegen der gleichen Delikte neuerlich verurteilt, und zwar zur Verbannung an die Kolyma. Im Zuge ihrer Rehabilitierung verfasste Friedl Fürnberg auf Bitte Gisa Lichtensteins eine positive Charakteristik ihrer Tätigkeit in der KPÖ. Sie wurde 1957 in allen Punkten rehabilitiert. Ob sie nach Österreich zurückgekehrt ist, ist unbekannt.

 

Qu.: DÖW – Österreichische Stalin-Opfer (RGASPI)
https://www.doew.at/erinnern/biographien/oesterreichische-stalin-opfer-bis-1945/stalin-opfer-l/lichtenstein-gisela