Levetus Amelia Sarah; Kunstschriftstellerin

Geb. Birmingham, Großbritannien, 22.10.1858

Gest. Wien, 9.6.1938

Der Vater Lewis betätigt sich ehrenamtlich in der jüdischen Gemeinde. Die Gebrüder Levetus arbeiten in der Vittoria Street als Juweliere und Silberschmiede. A.s Mutter ist eine bekannte englische Schriftstellerin, deren Werke unter ihrem Mädchennamen Celia Moss erscheinen. Sie gibt in jungen Jahren mit ihrer Schwester Marion – „the Misses Moss of the Hebrew nation“ – das „Sabbath Journal“ heraus. Die Geschwister verfassen einen Gedichtband und zwei Werke zur jüdischen Geschichte.

A. besucht in ihrer Heimatstadt die King Edward’s School, das Midland Institute und das Mason College. Sie studiert Volkswirtschaft an den Universitäten in Birmingham, St. Andrew’s, Cambridge und Aberdeen. 1891 übersiedelt sie nach Wien. Zwei Jahre später wird sie als außerordentliche Studentin an die Wiener Universität zugelassen.

1896 schreibt sie für die „Ethische Gesellschaft“ in Wien über „Sociale Hilfsarbeit.“ Auf Einladung des Nationalökonomen Eugen Schwiedland hält sie im folgenden Jahr als erste Frau an der Wiener Universität zwei öffentliche Vorträge über Groß-Einkaufs-Genossenschaften in England und Schottland. Sie berichtet der Royal Economic Society in London über „Working Women in Vienna“, die Ergebnisse einer „Frauen – Enquete“ im Wien der Jahrhundertwende: „Bei den Ziegeleien habe ich junge Kinder gesehen, die nicht einmal alt genug waren, um zur Schule zu gehen, wie sie ihren Eltern durch das Tragen schwerer Ziegel täglich stundenlang halfen.“

L. arbeitet für englische Zeitschriften wie „Womanhood“ und „The Englishwoman’s review.“ Sie informiert über „Arbeiterinnen in Böhmen“, „Frauen-Fortschritt in Österreich-Ungarn“, die „erste Mittelschullehrerin in Österreich“, eine „Frauen Gewerbe-Ausstellung“, die „geistige Entwicklung von Frauen in Österreich.“ Sie verfasst „Wiener Notizen“, weiß „was Frauen in Wien tun“ und „Was Frauen in Österreich tun.“

1905 veröffentlicht sie ein von Erwin Puchinger illustriertes Buch über Wien unter dem Titel „Imperial Vienna“, in dem Arbeiterheim, Bildhauerinnen, Denkmalpflege, Künstlerkolonie in Heiligenstadt und Volksbildungsverein nicht fehlen. Ihre Schilderung eines Tagesablaufes des Kaisers findet weltweite Beachtung.

A. L. fungiert als Korrespondentin der in London, Paris und New York erscheinenden, der Reformbewegung in der bildenden Kunst und im Handwerk verpflichteten Zeitschrift „The Studio“. Kritik und Förderung zeitgenössischer Kunst in Wien, Information über Gegenwartsarchitektur, Kunstgewerbe, modernes Design greifen ineinander. Die reich illustrierten Ausgaben nutzen neueste Techniken der anschaulichen Wissensvermittlung, dienen der Verständigung von Fachleuten, wie der breiten ästhetischen Bildung: „‚The Studio‘ hatte vor allem bei den kultivierten Jungen schlagartig Erfolg, nicht nur in Wien, sondern in allen Teilen Mitteleuropas.“

1902 schreibt A. L. ihren ersten Beitrag über eine Ausstellung der Wiener Secession. Sie berichtet über Gemälde von Gustav Klimt und Franz Stuck und die von einer Reise nach Japan angeregten Holzschnitte des Emil Orlik. Im gleichen Jahr folgt eine Reportage über österreichisches Design bei der internationalen Ausstellung für Dekorative Kunst in Turin. 1905 werden dem Publikum die Landschaftsgemälde von Karl Mediz und Emilie Mediz-Pelikan vorgestellt. Die nächste Ausgabe handelt von Kunstgewerbeschulen in Österreich, antiken Möbeln, darunter auch Puppenmöbeln des 16. Jahrhunderts aus der Sammlung von Albert Figdor.

Im Juli 1906 geht es um bäuerliche Stickereien aus einem Österreich, zu dem noch Slowenien, Dalmatien und Herzegowina, Ungarn und das Egerland gehören. L. stellt den Innenarchitekten und Kunsthandwerker Otto Prutscher vor, der an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt wirkt. Sie präsentiert den talentierten Nachwuchs der „Kaiserlichen Kunstgewerbeschule“ am Stubenring. Im September geht es um Wiener Spielzeug. Im Dezember folgt ein Aufsatz über österreichisch-ungarische Bauernmöbel.

L. bemerkt in ihrem Beitrag über „Modern decorative Art in Austria“ über die neuesten Werke von Loos, Hoffmann, Olbrich, Josef Urban, Otto Wagner, Franz Messner und die Wiener Werkstätte: „Ein echtes Gefühl für Kunst und Dekoration ist den Österreichern angeboren. Ihre nationale Kunst ist Beweis genug dafür.“ Das Magazin „The Studio“ habe die Wiener Moderne entscheidend geprägt: „Wie Herr Muthesius in seinen Vorlesungen über das ‚English Home‘ im Österreichischen Museum vor ein paar Wochen sagte, bahnte ‚The Studio‘ den Weg zu einer neuen Ordnung der Dinge dadurch, dass es resolut nur das zeigte, was am besten war.“

L. würdigt als eine der Ersten die Begabung Kolo Mosers, das Genie des jungen Dagobert Peche und setzt dem Palais Stoclet in Brüssel ein literarisches Denkmal. „Eine der bemerkenswertesten Errungenschaften auf dem Gebiet der modernen heimischen Architektur und Dekoration ist die Villa oder der ‚Palast‘, der in Brüssel nach den Plänen von Prof. Josef Hoffmann Wien jüngst errichtet wurde für Monsieur Stoclet, einen reichen Magnaten der belgischen Hauptstadt und Besitzer einer erlesenen Sammlung antiker Kunstwerke.“

L. zeigt 1908 den „Klimt Room at the ‚Kunstschau‘ Exhibition“ und nimmt seine Werke vor einer skandallüsternen Massenpresse in Schutz: „Klimt ist im Wesentlichen eine Kunst für die Wenigen: die Menge kann die subtilen Qualitäten nicht schätzen. Aber wie groß ist die Freude, die sie denjenigen gibt, die sie verstehen !“

Für das Kunsthandwerk der „Klimt-Group“ als Vorbild für „Austrian Architecture and Decoration“ gilt: „Der große Reiz von Arbeiten der modernen Schule liegt in ihrer Einfachheit, dem Fehlen jeglichen Exzesses der Ornamentik, feinem Sinn für Proportion, bewundernswerte Farben und dekorative Effekte.“

L. ist Mitglied im „Verein für Erweiterte Frauenbildung“ zu Wien. Sie setzt sich für das Volksbildungswesen ein. Mit dem Literaturwissenschafter und Kunstmäzen Emil Reich spricht sie über die Grundlagen dieser Bewegung in England und fördert deren Entwicklung in Österreich. Seit der Gründung der Volksuniversität in Wien leitet sie englische Sprachkurse, lehrt „Japanese women-writers in the 10th century“ und „Elisabeth Barett-Browning“. Dr. Eugenie Schwarzwald unterrichtet Deutsch. 1903 wird im Volksheim am Koflerplatz im Arbeiterviertel Ottakring der „John-Ruskin-Club“ gegründet und Frau L. zur Präsidentin gewählt. Vorbild für den Club ist ein Professor der Kunstgeschichte in Oxford, Gründer eines Museums, einer Zeichenschule und Abendschule für Handwerker.

1910 steht im Jahresbericht des Volkskundevereins als Geschenk ein „slowakischer Tonplutzer von Miß A. S. Levetus.“ 1911 stellt sie in der Einleitung zu „Peasant Art in Austria and Hungary“ fest: „Gebildete Menschen haben etwas von der Nüchternheit und Zurückhaltung der bäuerlichen Kunst zu lernen.“ Museumsdirektor Michael Haberlandt lobt: „Die rührige Korrespondentin des ‚Studio‘ für Österreich A. S. Levetus hat die Aufgabe trefflich durchgeführt, in einem Bande alle Länder der österreichischen wie der ungarischen Krone übersichtlich zu behandeln und in einer Folge von 816 Illustrationen ein Bilderbuch ihrer Volkskunst vor uns auszubreiten.“

1912 erklärt sie der weltweiten Leserschaft, einige der besten Möbel des schottischen Architekten Mackintosh seien in Wien ausgestellt. In der ungarischen Tageszeitung „Pester Lloyd“ informiert sie 1913 „aus dem Wiener Kunstleben.“ Ihre Aufsätze erscheinen in „Moderne Bauformen“, „Deutsche Kunst und Dekoration“ und „Textile Kunst und Industrie.“ Sie hält durch Berichte über Ashbee, Boysen, die Guild of Handicraft und die Birmingham School die Leser der Wiener Musealzeitschrift „Kunst und Kunsthandwerk“ über englische Kunst auf dem Laufenden.

Ihre kenntnisreichen Gedanken über die Fortschritte künstlerischer Buchgestaltung seit den Anfängen der Wiener Secession werden im Frühjahr 1914 gedruckt: „Der Moment war der richtige. Die Notwendigkeit von Reformen in allem und jedem, das sich auf Buchherstellung bezog, wurde als Teil des Programms anerkannt, als die allgemeine Frage nach dem Lehren von Kunst 1897 gestellt wurde; aber die Erneuerung der Buchkunst datiert wirklich vom Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts.“

Im Sommer 1914 schreibt sie der Autorin Marie Eugenie delle Grazie zum Geburtstag: „Aus dem Spiegel der Seele erhebt sich unserer Sehnsucht Flügel, unser Verlangen, unser heisser Wunsch, jene Gedanken, die tief in unserem Inneren liegen, anderen zu übertragen;“ Während des Ersten Weltkrieges kann sie ihren Unterricht am Volksheim fortsetzen. Sie wendet sich in der zu Zürich erscheinenden „International Review“ mit einem Aufruf an die Jugend Englands.

1920 gründet sie mit Friedrich Hertz die dem politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau in Zentral- und Osteuropa gewidmete Zeitschrift „Reconstruction.“ Sie übersetzt sein Buch mit kritischen Essays über „Moderne Rassentheorien“ für eine in London und New York erscheinende Ausgabe. 1924 veröffentlicht sie eine Monographie über „Frank Brangwyn als Radierer“, die den Meister bewegt, der Albertina sein gesamtes graphisches Werk zu spenden. „Es ist erwähnenswert, daß Brangwyn als Maler und Radierer zuerst ferne von den Küsten seines Heimatlandes England, Anerkennung gefunden hat.“

L. stellt ein Selbsthilfeprojekt sowie mustergültige Lösungen im Kampf der Wiener Stadtverwaltung gegen die Wohnungsnot der Zwischenkriegszeit vor. Für die neu errichteten Gemeindebauten gilt: „Nur das Beste war gut genug für das Volk. Die Architekten hatten ziemlich freie Hand. In ihren dekorativen Systemen konnten sie gemalte oder metallene Friese ermöglichen, Skulpturen, Springbrunnen, reizende Geschäfte unter steinernen Kolonnaden.“

Rückblickend erklärt sie 1933 zum vierzigjährigen Bestehen: „Diese und andere ‚Studio‘-Publikationen hatten großen Einfluss überall, in den Bibliotheken und den Berufsschulen, weil sie die Entwicklung der Ereignisse in der Welt im Ganzen wiederspiegelten und beide, Lehrer wie Schüler in Stand setzten, mit den neuesten Entwicklungen Fühlung zu halten.“ Bis in das hohe Alter unterrichtet sie ihre Muttersprache.

L. ist befreundet mit der amerikanischen Ärztin Dr. Muriel Gardiner, die sich im politischen Widerstand engagiert. Das Manuskript ihrer Lebenserinnerungen vertraut sie Donald Grant, einem Vertreter des friedfertigen, gewaltfreien „Internationalen Versöhnungsbundes“ an. Keramik und Schmuck erhält das Museum für Angewandte Kunst. Dem Soziologen Friedrich Hertz vermacht sie testamentarisch ihr von Victor Scharf gemaltes Porträt. Sie kündigt Anfang Mai 1938 − unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich − ihre Wohnung im Wiener Stadtteil Döbling und will nach England zurückkehren. Sie stirbt am 9.6.1938 im Krankenhaus der Wiener Kaufmannschaft und wird bei der Feuerhalle des Wiener Zentralfriedhofes unter dem Namen „Levetics“ in einem Grab beigesetzt, das 1953 aufgelassen wird.

Qu.: WStLa, Meldeunterlagen, Birmingham City Archives, Board of Trade, Birmingham Hebrew Congregation

W.: „Working Women in Vienna, The Economic Journal, Bd. 7, Nr. 25, London März 1897“, „Women’s progress in Austria-Hungary“ (1897), „The first woman middle-school teacher in Austria“ (1898), „Viennese notes“ (1901), „The Englishwoman’s review of social and industrial questions, London. Gross-Einkaufs-Genossenschaften in England und Schottland, Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. 9“ (1900), „Imperial Vienna, An Account of Its History, Traditions and Arts“ (1905), „Modern Decorative Art in Austria. In: Charles Holme (Hrsg.): Art Revival in Austria, The Studio, Special summer number“ (1906), „Studio-Talk, The International Studio, Bd. 35“ (1908), „Austrian Architecture and Decoration, The Studio Year Book“ (1908), „Peasant Art in Austria and Hungary, Einleitung, The Saxons and Roumanians in Transylvania, Croatia and Slavonia, Herbstausgabe The Studio“ (1911), „The Art of the Book in Austria. In : Charles Holme (Hrsg.): The Art of the Book, The Studio“ (1914), „A Brussels Mansion Designed by Prof. Josef Hoffmann of Vienna, The Studio, Bd. 61“ (1914), „Frank Brangwyn, der Radierer, Eine Würdigung“ (1924), „Solving the Vienna housing problem, The Studio, Bd. 97“ (1929), „The European Influence of ‚The Studio‘, 40th Birthday Number, Bd. 105“ (1933)

L.: Ankwicz-Kleehoven 1935, Filla 2001a, Haslbrunner 1931a, Husslein-Arco /Weidinger 2012, Planer 1929, Szold 1906, Jahresbericht des Vereines für Erweiterte Frauenbildung in Wien (1893/1894), Mitglieder-Verzeichnis, S. 19-24, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, XVII. Jhg., IV. bis V. Heft, Wien 1911, S. 184

Albert Ottenbacher