Leodolter Ingrid, geb. Zechner; Ärztin und Bundesministerin

Geb. Wien, 14.8.1919

Gest. Wien, 17.11.1986

Herkunft, Verwandtschaften: Eltern Lehrerehepaar; Vater: Dr. Leopold Zechner, lange Jahre Wiener Stadtschulratspräsident (1946-1960), lange im Nationalrat, Hofrat; Mutter: Hauptschullehrerin; Familie: gehobene Verhältnisse, „sozialistischer Uradel“, I. L. war eine „geborene“ Sozialistin; mind. eine (ältere) Schwester: Hildegund Zechner (verheiratet: Kothbauer).

LebenspartnerInnen, Kinder: Verheiratet mit dem Obersenatsrat Dr. Josef Leodolter, der in Welthandel promovierte, als Krankenhausreferent der Stadt Wien und anschließend langjährig als wirtschaftlicher Leiter des Kinderspitals tätig war; 2 Söhne: der ältere Sohn (*1943), Sepp Leodolter, ist o. Univ.-Prof. für Gynäkologie und Geburtenhilfe; der jüngere Sohn (*1949) ist Psychoanalytiker und psychoanalytischer Psychotherapeut, psychoanalytischer Familientherapeut und Facharzt für Psychiatrie und Neurologie.

Ausbildungen: Mädchenrealgymnasium Wien Hietzing, 1937 Matura mit Auszeichnung; Studium an der Universität Wien; während ihre Schwester Hildegund Zechner während des Nationalsozialismus aufgrund „rassischer Gründe“ (als sog. „Mischling 2. Grades“) Problemen bei der Inskription bzw. bei der Studienfortsetzung begegnete, konnte I. L. ihr Studium abschließen; promovierte 1943 zur Dr.med.

Laufbahn: 1947 Assistenzärztin am AKH in Wien, 1950 Facharztdiplom für interne Medizin; 1951-1958 1. Oberärztin an der medizinischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien; seit 1958 Vorständin der Medizinischen Abteilung des Wiener Sophienspitals (erhielt als erste Frau Österreichs einen Vorstands-/Primariatsposten); 1962-71 ärztliche Leiterin des Sophienspitals (wiederum als erste Frau in Österreich in einer solchen Funktion) und Privatpraxis; Spezialgebiet: Magen-Darm.

Die Familie von I. L. war mit der SPÖ „versippt“: die Familie gehörte zum sozialistischen Hochadel; ihre Familie ist mit dem damaligen Justizminister Broda verwandt; ihre Schwester war mit einem Spitzenmanager der Verstaatlichten Industrie verheiratet.
I. L. war im BSA (Bund sozialdemokratischer Akademiker, Intellektueller und Künstler) organisiert; seit 1946 SPÖ-Parteimitglied; ab 1969 medizinische Beraterin f. Staatssekretärin Gertrude Wondrack (die 1971 tödlich verunglückte).

Am 4.11.1971 von Kreisky als Ministerin berufen – zunächst ohne Portefeuille (Kabinett Kreisky II); I. L. war bis dahin politisch nicht aktiv gewesen; im Februar 1972 in das neu gebildete Ressort für Gesundheit und Umweltschutz als Ministerin bestellt, war in dieser Funktion beinahe 8 Jahre im Amt (bis zum 8.10.1979); Mitarbeit am sozialistischen Humanprogramm der SPÖ; als besonderer Verdienst während ihrer Amtszeit wird die 1974 erfolgte Einführung des Mutter-Kind-Passes und die damit verbundene Erhöhung der Geburtenbeihilfe erachtet; bis dahin war Österreich Schlusslicht in Bezug auf die Säuglingssterblichkeit in Westeuropa. Die Maßnahme bewirkte eine deutliche Senkung der Säuglingssterblichkeit und eine bessere Früherkennung von Krankheiten und Behinderungen. I. L. führte 1974 die kostenlose medizinische Kontrolle für Frauen über 30 ein, die insbesondere der Frühdiagnose von Brust- und Uteruskrebs diente, leitete eine Spitalsreform ein, veränderte die Krankenpflegeausbildung, legte ein neues Lebensmittel- und Bäderhygienegesetz vor und stellte 1978 eine Studie über die psychiatrische Versorgung Österreichs vor. Sie leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes, wiewohl das Umweltressort gegenüber den Gesundheitsagenden lange ein Schattendasein führte. I. L. wurde von ihren Beamten hinter ihrem Rücken „Frau Primister“ genannt.

War als Regierungsmitglied umstritten, ihr waren politische Taktierereien und Winkelzüge fremd; ihre Ministerkarriere verlief eher glücklos; immer wieder Kritik der Opposition, der Medien als auch aus den eigenen Reihen ausgesetzt. In einer 1972 durchgeführten Umfrage der Zeitschrift „Profil“ schnitt sie als unpopulärstes Regierungsmitglied des Kabinetts ab; die Opposition forderte immer wieder ihren Rücktritt; man warf ihr u. a. mangelnde Durchsetzungskraft, die Opposition auch die Verschwendung von Steuergeldern vor. Ihre Beauftragung der „ARGE Kostenrechnung“, die mögliche Einsparungen in Krankenhäuser untersuchte, setzte ihrer politischen Karriere 1979 ein Ende. Diese Auftragsvergabe wurde vom Rechnungshof kritisiert und schlug medial wochenlang Wellen. Nachdem sich Bundeskanzler Kreisky öffentlich kritisch über I. L. geäußert hatte („Sie ist ein lieber Kerl, aber kein Minister.“), trat sie im Oktober 1979 von ihrem Amt zurück. Anschließend Rückkehr ins Sophienspital als Chefärztin/Primaria; Pensionierung 1985.

Als Internistin publizierte sie rund 50 wissenschaftliche Arbeiten.

Ausz.: I. L. erhielt den Theodor-Körner-Preis, den Karl-Renner-Preis, 1974 das Große Goldene Ehrenzeichen am Bande der Republik Österreich, 1978 das Große Ehrenzeichen der Ärztekammer für Wien, 1982 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien; Präsidentin des Österreichischen Krebsforschungsinstituts; Präsidentin des Arbeiter- und Samariterbundes

Qu.: Tagblattarchiv/Personenmappen der Wien-Bibliothek. Zugriff: Dezember 2009 und Jänner 2010.

L.: Ackerl/Weissensteiner 1992, Amtskalender, Czeike Bd. 4, 2004, Weiß/Federspiel 1988, Der Spiegel (1972): Österreich. Ein Schmuckkasterl, Nr. 51, 11.12.1972, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42762676.html, Zugriff: 20.8.2012, Der Spiegel (1973): Österreich. Kandidat im Bad, Nr. 6, 5.2.1973, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42675575.html, Zugriff: 20.8.2012, Der Spiegel (1977): Personalien. Ingrid Leodolter, Karl-Gunther von Hase, John Eisenhower, Elizabeth II. Königin von England, Jürgen Wohlrabe, Richard M. Dixon, Nr. 28, 4.7.1977, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40830758.html, Zugriff: 20.8.2012, Lexikon der Wiener Sozialdemokratie (2005), hg. von der SPÖ, verfügbar unter: www.dasrote-wien.at, Zugriff: 20.8.2012, Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938: Ingrid Leodolter (geb. Zechner), verfügbar unter: http://gedenkbuch.univie.ac.at/, Zugriff: 20.8.2012, Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938: Hildegund Zechner (verh. Kothbauer ab 1939), verfügbar unter: http://gedenkbuch.univie.ac.at/, Zugriff: 20.8.2012, Homepage von Dr. Michael Leodolter: Lebenslauf, http://www.psychiatrie-leodolter.at/de/lebenslauf/, Zugriff: 29.8.2012, Medizinische Universität Wien: Surgical Skills Training Center, Das Team: Sepp Leodolter, http://www.meduniwien.ac.at/SSTC/team.htm, Zugriff: 29.8.2012, Munzinger-Archiv Online, hg. vom Munzinger-Archiv. Ravensburg, verfügbar unter: www.munzinger.de, Zugriff: 20.8.2012, Österreichisches Parlament (Hg.) Wer ist wer?, verfügbar unter: www.parlament.gv.at, Zugriff: 20.8.2012, Schwediauer, Veronika: Biographische Datenbank über die österreichischen Minister und Ministerinnen zwischen 1966 und 2006, Vorgehensweise wird in Schwediauer, Veronika (2010): Same Same But Different: The Political Recruitment of Women and Men to the Austrian Government, Dissertation, Wien, verfügbar unter: http://homepage.univie.ac.at/veronika.schwediauer/___DISSERTATION_Schwediauer_Final.pdf, Zugriff: 10.10.2011, S. 326-329 dargestellt

Veronika Schwediauer