Lehr Antonie, Toni, Decknamen: Edith, Annette Lefèvre, Annette Lutterbach; Parteifunktionärin und Widerstandskämpferin

Geb. Czernowitz, Bukowina (Tscherniwzi, Ukraine), 30.11.1907
Gest. Wien, 1.3.1997

A. (Toni) L. wurde 1907 als Tochter von Josef und Lotte Lehr, geb. Schnitzer in Czernowitz/Bukowina geboren. 1914 übersiedelte die wohlhabende jüdische Familie nach Wien, wo A. die Volksschule und das Schwarzwald-Gymnasium besuchte. Unter dem Einfluss Eugenie Schwarzwalds und insbesondere der Pädagogin Aline Furtmüller entwickelte sie bereits als junges Mädchen Interesse an sozialen Fragen. 1922/23 schloss sie sich der sozialistischen Mittelschülerorganisation, später der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) an. Nach der Matura (1926) studierte sie Nationalökonomie an der Hochschule für Welthandel und war Mitglied der Sozialistischen Hochschüler. Unter dem Eindruck der Ereignisse des 15. Juli 1927 trat sie zum Kommunistischen Jugendverband (KJV) über. In den darauffolgenden Jahren engagierte sie sich als Funktionärin in ihrem Heimatbezirk Alsergrund, in der Roten Hilfe sowie als Mitarbeiterin im Parteisekretariat. Sie gehörte der Kommunistischen Studentenfraktion (KOSTUFRA) an. 1931 reiste A. L. erstmals in die Sowjetunion, wo sie als Fakturistin bei einer Moskauer Maschinenexportgesellschaft arbeitete und anschließend das Industriegebiet Magnitogorsk besuchte. Nach Abschluss ihres Studiums arbeitete sie als Büroangestellte. Anfang 1933 wurde sie von der Partei als Mitarbeiterin der OMS, der Abteilung für internationale Verbindungen der Komintern, herangezogen. Ihre konspirative Tätigkeit bestand u. a. im Chiffrieren und Dechiffrieren von Nachrichten und in der Betreuung ausländischer Parteikuriere. Als die Organisation Ende 1934 enttarnt wurde, setzte sich A. L. über Prag nach Moskau ab. Dort war sie als Sekretärin der österreichischen Delegation zum 7. Weltkongress der Komintern tätig. Im März 1936 ging sie nach Paris, wo sie als Sekretärin des Westeuropäischen Büros der Internationalen Roten Hilfe tätig war. Darüber hinaus war sie in einem Hilfskomitee für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge aktiv. Obwohl im Besitz eines amerikanischen Visums, beschloss A. L. nach der Okkupation Österreichs in Frankreich zu bleiben und Widerstand gegen den Faschismus zu leisten. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht flüchtete sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten Franz Storkan (1904-1945) nach Südfrankreich und wurde für kurze Zeit im Anhaltelager Gurs interniert. Im Frühjahr 1942 kehrte sie illegal in das besetzte Paris zurück und beteiligte sich führend an der Organisation der österreichischen Travail Anti-Allemand (TA) innerhalb der Résistance. Gemeinsam mit Franz Marek gab sie die Zeitung „Soldat im Westen“ heraus, die von Widerstandskämpferinnen unter österreichischen Wehrmachtsangehörigen verteilt wurde. Im Rahmen des Versuchs der TA, Mitglieder nach Österreich zur Unterstützung des dortigen Widerstands einzuschleusen, meldete sich A. L. im Juli 1943 unter falscher Identität zum Arbeitseinsatz nach Wien. Als Lothringerin Annette Lutterbach wurde sie der Lokomotivfabrik Floridsdorf zugeteilt, wo sie als Dolmetscherin und Sekretärin arbeitete. Ein Jahr später wurde ihre Gruppe von der Gestapo aufgedeckt. Unter den Verhafteten war auch Franz Storkan, der später in Dachau ermordet wurde. Nach Folter und dreimonatiger Gestapohaft wurde A. L. im November 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Über die Widerstandsorganisation des Lagers erhielt sie eine Stelle als Hilfsschwester im Krankenrevier, wo sie sich mit Typhus infizierte. Im Jänner 1945 wurde sie ins Frauen-KZ Ravensbrück evakuiert. Da sie als Schutzhäftling akut von der Vollstreckung eines Hinrichtungsbefehls bedroht war, wurde die erneut an Typhus Erkrankte gemeinsam mit Gerti Schindel und Edith Rosenblüth-Wexberg vom Internationalen Widerstandskomitee versteckt gehalten. Unter falscher Identität wurden die Frauen in einen Rotkreuz-Transport geschmuggelt, mit dem sie im Zuge eines Gefangenenaustausches am 22. Aril 1945 nach Schweden gebracht wurden.

Über Frankreich kehrte A. L. im August 1945 nach Wien zurück. Sie nahm ihre Arbeit als Parteifunktionärin wieder auf, u.a. als Sekretärin des Parteivorsitzenden Johann Koplenig, im Zentralkomitee und als Gebietsobfrau. 1950 wurde sie auf dem 1. österreichischen Friedenskongress in den Österreichischen Friedensrat (österreichische Sektion des Weltfriedensrates) gewählt. Die Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen in der Ära Chruschtschow, die Ereignisse in Ungarn 1956 sowie die Schauprozesse in Osteuropa weckten in A. L. Zweifel am politischen Kurs der KPÖ. 1968 gehörte sie zu jener Gruppe von Parteimitgliedern um die Zeitschrift „Wiener Tagebuch“, die offen gegen den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die Tschechoslowakei Stellung bezog. 1969 wurde sie aus der Partei ausgeschlossen. Als kritische Kommunistin arbeitete sie beim „Wiener Tagebuch“ bis zu dessen Einstellung Ende der achtziger Jahre mit. Sie war Präsidiumsmitglied und Vizepräsidentin des Verbands österreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus (KZ-Verband) und Mitglied der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz. Als Zeitzeugin berichtete sie an Schulen sowie in zahlreichen Publikationen, Radio- und TV-Sendungen über ihre Erfahrungen während des Nationalsozialismus. 1977 erhielt sie das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs. A. L. starb am 1997 in Wien.

Qu.: DÖW 2.641, 50.149. DÖW, Interviewsammlung Erzählte Geschichte, Interviews 048, 419.

L.: Berger 1985, Berger 1987, Bobrowsky 1990, Brauneis 1974, Junge Generation Floridsdorf 1988, Ley 1995, Reiter 1984, Röder/Strauss 1980-1983, Spiegel 1969

Christine Kanzler