Kohlhaas Marietta, Etta, geb. Federn, verh. Federn-Kirmsse, Federn-Kohlhaas, Ps. Esperanza; Schriftstellerin, Übersetzerin, Literaturkritikerin und politische Aktivistin

Geb. Wien, 28.4.1883

Gest. Paris, Frankreich, 29.9.1951 (29.10.)

Herkunft, Verwandtschaften: Jüngste Tochter einer assimilierten jüdischen Familie. Vater: Josef Salomon Federn (1831-1920), praktischer Arzt, Pionier in der Erforschung der Blutdruckmessung; Mutter: Ernestine, geb. Spitzer (1848-1930), aktiv in der Frauenbewegung; Brüder: Karl (1868-1943), Rechtsanwalt; Walther (1869-1949), Journalist, Hg. des „Österreichischen Volkswirt“; Paul (1871-1950), Psychoanalytiker; Hans Robert (*1878), Schriftsteller und Verleger; Schwester: Else (1873-1946), übernahm von ihrer Mutter die Leitung des Vereins Settlement in Wien.

LebenspartnerInnen, Kinder: Heiratete 1916 in Berlin den Sonder- und Heilpädagogen Max Bruno Kirmsse, 1917 geschieden. Vom zweiten Ehemann, dem Maler Peter Paul Kohlhaas, trennte sie sich 1930, 1934 offiziell geschieden. Kinder: Hans Kirmsse (1917-1944), Laborant bei IG Farben in Barcelona; aus zweiter Ehe: Michael (*1922).

Ausbildungen: M. K. wurde zunächst von der älteren Schwester unterrichtet und besuchte 1893-1895 eine höhere Töchterschule. Während der Pubertät war sie infolge nervöser Störungen teilweise bettlägerig, bildete sich in Französisch und Englisch weiter, trat mit 14 Jahren in ein Wiener Mädchengymnasium ein und legte 1903 die Matura ab. Sie studierte Literaturgeschichte, Philosophie und Griechisch 1903/04 an der Universität Wien und ab 1905 an der Universität Berlin, promovierte mit einer Arbeit über Faust zum Dr.phil.

Laufbahn: Blieb gegen den Willen der Eltern in Berlin, war als Übersetzerin und Privatlehrerin tätig. Sie übersetzte aus dem Englischen, Französischen, Russischen und Jiddischen. Später arbeitete sie für das „Berliner Tagblatt“ als Literaturkritikerin. Etwa zur gleichen Zeit begann ihre schriftstellerische Tätigkeit. Sie schrieb Essays, Erzählungen, Biografien, Autobiographisches, Gedichte und ein Theaterstück. Wegen der gescheiterten Ehen musste sie allein für ihren Lebensunterhalt sorgen. Ihre Arbeit wurde immer wieder durch Krankheiten und schwere Operationen unterbrochen. 1929 pachtete sie eine kleine Pension in einem Thüringer Badeort, scheiterte jedoch nach einem Jahr, kehrte nach Berlin zurück, arbeitete als Kritikerin und hielt zahlreiche Vorträge. War aktiv beim Allgemeinen Schriftstellerverein und beim Deutschen Schriftstellerinnenbund tätig. M. K. war auch Aktivistin in der anarchistischen Bewegung Groß-Berlins und engagierte sich besonders für Themen wie soziale Revolution, freie Pädagogik, die Bedeutung von kultureller Arbeit und Frauenemanzipation. Ferner war sie Mitarbeiterin in der FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschlands) und schrieb auch für deren Zeitschriften zahlreiche Artikel. Mit ihrer 1927 erschienenen Erstbiografie über Walter Rathenau hatte sie sich vor allem in Berlin einen Namen gemacht. Ihre freiheitlich-geistige Gesinnung, ihre assimilierte jüdische Herkunft sowie die vehemente Verteidigung des liberalen Politikers Rathenau machten sie zur Erzfeindin der Nazis, und sie erhielt sogar Morddrohungen. Als der Verfolgungsdruck zu groß wurde, kehrte sie 1932 schließlich Deutschland den Rücken und ging mit ihren beiden Söhnen nach Barcelona ins Exil. Ihre Freundinnen in Deutschland hatten ihr bereits Anlaufadressen und Mitarbeitsmöglichkeiten verschafft, und so erfolgte die Integration der Exilantin außerordentlich schnell. Bereits nach einigen Wochen veröffentlichte sie journalistische Artikel auf Spanisch und lernte Katalanisch. In Deutschland wurden damals alle ihre bisher veröffentlichten Bücher verbrannt und ihr Name auf die „Schwarze Liste“ gesetzt. Ab 1936 unterrichtete sie Flüchtlingskinder in Blanes und im Kulturzentrum der anarchosyndikalistischen Frauenbewegung von Barcelona – „Mujeres Libres“ − Literatur, Sprache und Pädagogik. Sie gründete vier Schulen, die sich am libertären, katalanischen Pädagogen Francisco Ferrer orientierten. Trotzdem litt sie anfänglich unter dem Verlust, ihre poetisch-literarische Ausdrucksfähigkeit im Exil vorerst nicht verwirklichen zu können. Hinzu kamen finanzielle Belastungen. Nahestehende Verwandte in den USA halfen ihr mit regelmäßigen, allerdings geringen Überweisungen. 1937 kehrte sie nach Barcelona zurück und zog im April 1938 aufgrund der massiven Bombardierung Barcelonas nach Paris. Mehrere Emigrationsversuche in die USA misslangen. 1940 bis 1945 lebte sie versteckt, unter anderem in einem Kloster in Lyon. Nach dem Krieg wohnte sie erneut in Paris. Sie lebte, isoliert und schwer krank, von Übersetzungen und Handlese-Analysen. Kurz vor ihrem Tod wurde sie als Mutter eines Résistancekämpfers – ihr ältester Sohn war 1945 in einem Gefecht umgekommen − geehrt. Sie erhielt eine kleine Lebensrente und die französische Staatsangehörigkeit. Ihr gesamtes Denken und Leben war geprägt vom Kampf für individuelle und gesellschaftliche Emanzipation.

Qu.: Archiv Bibliographia Judaica, Frankfurt am Main; Deutsche Bibliothek, Frankfurt am Main; Tagblattarchiv (Personenmappe)W. u. a.: „Zwischen den Armeen. Erzählung“ (1915), „Christiane von Goethe. Ein Beitrag zur Psychologie Goethes“ (1916), „Das Bild des Weibes, geschaut von Mann und Frau. Ein geistiges Kaleidoskop“ (1917), „Friedrich Hebbel“ (1920), „Goethe. Sein Leben der reiferen Jugend erzählt“ (1922), „Dante. Ein Erlebnis für werdende Menschen“ (1923), „Ein Sonnenjahr. Erzählung“ (1925), „Goethes Faust“ (1927), „Walther Rathenau. Sein Leben und Wirken“ (1927), „Erziehung zur Gesundheit durch die Mutter“ (1930), „Mujeres de las revoluciones Barcelona“ (1937 auf Deutsch: Marianne Kröger (Hrsg.): Etta Federn: Revolutionär auf ihre Art. Von Angelica Balabanoff bis Madame Roland -Skizzen unkonventioneller Frauen Gießen: Psychosozial Verlag 1997)

L.: Archiv Bibliographia Judaica 1998, Bolbecher/Kaiser 2000, Buchegger 2002, Budke 1995, Kröger 1995, Kröger 1997, ÖNB 2002, Schmid-Bortenschlager/Schneld-Bubenicek 1982, Wininger Bd. 7, www.onb.ac.at/ariadne/