Jesenská Milena, A. X. Nessey, verh. Po(l)lak, Maria Kubesova; Journalistin, Feuilletonistin, Übersetzerin und Widerstandskämpferin

Geb. Prag, Böhmen, (Praha, Tschechien), 10.8.1896

Gest. KZ Ravensbrück, Deutsches Reich (Deutschland), 17.5.1944

Herkunft, Verwandtschaften: Vater: Jan Jesenský, Zahnarzt, Ordinarius für Kieferchirurgie an der Karls-Universität. Stammte aus einer alten, national gesinnten tschechischen Familie. Mutter: Milena, geb. Hejzlarová, starb 1913. Tochter eines Landschulinspektors.

LebenspartnerInnen, Kinder: Heiratete am 16. März 1918 Ernst Po(l)lak (1886-1947), Fremdsprachenkorrespondent der Prager Filiale der Österreichischen Landesbank und Mentor zahlreicher Schriftsteller. 1924 Trennung. 1927 Ehe mit Jaromir Krejcar (1895-1950), Architekt; Lebensgefährte: Evgen Klinger. Tochter: Jana (Honza).

Ausbildungen: M. J. besuchte 1907-1915 das Prager Mädchengymnasium Minerva. Sie studierte nach Wunsch des Vaters, dem sie unter Widerwillen im Spital assistieren musste, zwei Semester Medizin, wechselte dann jedoch zu Literaturwissenschaft und Publizistik.

Laufbahn: 1907 erkrankte ihre Mutter schwer. M. J. übernahm die Pflege. 1913 stirbt die Mutter. M. J. wird, nach mehreren von ihr verursachten Skandalen, vom Vater in die Psychiatrie eingewiesen. Die Diagnose lautete: „psychisch krankhaftes Fehlen sittlicher Begriffe und Gefühle“.

Nach ihrer Hochzeit mit Pollak lebte das Paar bis 1925 in der Wiener Lerchenfelderstraße 113. Die Ehe war unglücklich, da ihr Mann sie ständig betrog. Ihr mangelndes Deutsch und die ärmlichen Umstände machten ihr den Aufenthalt in Wien nicht leicht. Aus Geldnöten übernahm sie Gelegenheitsarbeiten als Haushaltshelferin, am Westbahnhof als Kofferträgerin und erteilte privaten Tschechischunterricht. Ab 1919 schrieb sie regelmäßig Feuilletons für die Prager „Tribuna“. Sie war bald als Journalistin anerkannt. Bis zu ihrem Tod verfasste sie mehr als 400 Zeitungsbeiträge. Ab 1920 korrespondierte sie mit Kafka, dessen Werke sie schon bald übersetzte, und dessen Tagebücher sie von ihm bekam. 1922 wechselte sie zur finanziell besser gestellten Zeitung „Národní Listy“. Ihre unglückliche Ehe trieb sie in die Kokainsucht. Nach der Trennung von Pollak richtete sie in ihrer Wohnung eine Pension mit Mittagstisch ein. Nach ihrer Scheidung verbrachte sie neun Monate bei ihrer Jugendfreundin Alice Rühle-Gerstel in Buchholz bei Dresden. Dieser Aufenthalt wurde für sie politisch prägend. Der Sozialismus wurde die „wichtigste Sache der Welt“. Zurück in Prag lebte sie sich sehr rasch in die Szene der tschechischen Avantgarde ein. Sie redigierte unter anderem 1926-1928 die Zeitschrift „Pestrý týden“ (Bunte Woche). Während einer Schwangerschaft wurde sie schwer krank und war fast über ein Jahr bettlägerig. Es kam zur Trennung von ihrem zweiten Ehemann Jaromir Krejcar. Mit einem steifen Knie und morphiumsüchtig kehrte sie aus einem Kuraufenthalt nach Prag zurück. Sie nahm Kontakt zur kommunistischen Partei auf, schrieb für mehrere Parteizeitschriften der KP und verdeckt unter fünf Pseudonymen auch für sozialdemokratische Zeitungen. In den dreißiger Jahren arbeitete sie mit dem kommunistischen Journalisten Julius Fucik zusammen. Sie brach 1936 mit der Partei. 1935 nahm sie Kontakt zum Widerstand auf, schrieb für die illegale Zeitung „V Boy“ und verhalf vielen Menschen zur Flucht. 1937 wurde sie bei der liberalen Zeitschrift „Pritomnost“ (Gegenwart) fest angestellt. Sie schrieb politische Reportagen. Als ihr jüdischer Lebensgefährte Evgen Klinger mit Hilfe ihres Vaters fliehen konnte, wollte sie in Prag bleiben, weil es dort für sie so viel zu tun gäbe. In ihren Feuilletons über Mode, Kino und Architektur verbarg sie die Radikalität ihrer politischen Position. Ihre frühen Feuilletons erschienen unter ihrem Pseudonym A. X. Nessey. Als sie Mitte der zwanziger Jahre schon sehr bekannt war, zeichnete sie mit „Milena“. 1939 wurde die „Pritomnost“ eingestellt, sie musste wöchentlich Gestapo-Verhöre über sich ergehen lassen, konnte durch taktisches Verhalten aber immer wieder die Vorwürfe gegen sie entkräften. Sie hielt weiterhin zu ihren jüdischen Freunden und versteckte bedrohte Flüchtlinge. Im November 1939 wurde sie jedoch verhaftet und ins Prager Pankrac-Gefängnis deportiert, kurz danach kam sie ins Lager für „Jüdisch-Versippte“ nach Beneschau und von dort in das Untersuchungsgefängnis nach Dresden. Sie wird angeklagt an illegalen Zeitungen mitgearbeitet zu haben, mangels Beweisen kommt es jedoch zu einem Freispruch. Wieder in Prag teilte ihr die Gestapo mit, dass sie in präventive Schutzhaft genommen wird und aus „Umerziehungsgründen“ in das KZ Ravensbrück deportiert werden soll. Sie kam in einem sehr schlechten Gesundheitszustand an und arbeitete in der Schreibstube des Krankenreviers. Sie hatte die Kartei der Geschlechtskranken zu führen, die sie oft zum Vorteil der Gefangenen fälscht. Von einer eitrigen Nierenentzündung und der notwendige Operation erholte sie sich nicht mehr. Sie stirbt am 17. Mai 1944.

Ihr Name war im kommunistischen Prag der Nachkriegszeit tabuisiert, erst durch die Veröffentlichung der Briefe Kafkas an sie tauchte sie wieder aus der Vergangenheit auf.

Ausz.: 1995 wurde ihr posthum das „Certificate of Honour“ der Jerusalemer Yad Vashem Gedenkstätte verliehen. Ein Café in Prag wurde nach ihr benannt.

W.: „Alles ist Leben. Feuilletons und Reportagen 1919-1939. Hg. Dorothea Rein“ (1984), „Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang. Die Briefe von Milena. Hg. von Alena Wagnerová“ (1999). Übersetzungen: „Kafka, Franz: Heizer. In: Kmen, 22.4.1920“, „Kafka, Franz: Unglücklichsein. In: Kmen, 16.7.1920“. Übersetzte unter anderem Gina Kaus ins Tschechische. Betreute die Rubrik „Baby“ in der Zeitung „Lidové novíny“.

L.: Alt 2005, Buber-Neumann 1991, Canauz 2000, Capovilla 2004, Hechtfischer/Hof/Stephan 1998, Rein 1999, Wikipedia