Hetzer Hildegard; Psychologin und Fürsorgerin
Geb. Wien, 9.6.1899
Gest. Gießen, Deutschland, 12.8.1991
Herkunft, Verwandtschaften: Älteste von drei Schwestern; ihr Vater war Rechtsanwalt. Sie wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf.
Ausbildungen: Absolvierte die Grundschule an einer evangelischen Privatschule, danach das humanistische Mädchen-Gymnasium, 1919 Matura. 1919-22 Besuch der von Ilse Arlt eingerichteten und geleiteten Fachkurse für Volkspflege; ab WS 1923/24 Studium der Psychologie an der Universität Wien, 1927 Promotion.
Laufbahn: Horterzieherin in Tagesheimstätten in verschiedenen Wiener Arbeiterbezirken. Anfang 1926 von der Fürsorgebehörde an die vom Wiener Psychologischen Institut für Forschung und Lehre genutzte neu errichtete Städtische Kinderübernahmestelle im 9. Bezirk versetzt. Als Assistentin bei Charlotte Bühler angestellt; am Psychologischen Institut Leitung der kinderpsychologischen Praktika, Betreuung von Dissertationen. Sie hielt populärwissenschaftliche Vorträge über allgemeine Erziehungsfragen und über geeignetes Kinderspielzeug. Mitarbeit an einer in Dresden erscheinenden Elternzeitschrift, verfasste Erziehungsratgeber in Form von kleinen Broschüren. Zu Beginn des SS 1931 als Professorin an die Pädagogische Akademie in Elbing/D. berufen, dort im Rahmen der Lehrerbildung tätig, Anfang 1934 Entlassung aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Übersiedlung nach Berlin. Arbeit und Forschung im „Verein zum Schutze der Kinder vor Ausnutzung und Mißhandlung“ und in einem vom Jugendamt geführten Sonderkindergarten für psychisch auffällige Kleinkinder. Mit Kriegsbeginn Auflösung des Berliner Sonderkindergartens und des Vereins. Übernahme der Mitarbeiterinnen in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV). Mitarbeit an der Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen, vor allem bei der Identifizierung „aufwandwürdiger Kinder“, die für die NSV-Fürsorgeeinrichtungen in Frage kamen; H. H. empfahl die Wiener Kleinkindertests auch zur Feststellung angeborenen Schwachsinns bei Vorschulkindern als Hilfsmittel zur Durchführung des Erbgesundheitsgesetzes (1934); 1942 Versetzung zur Gauamtsleitung in den Warthegau nach Posen. Ab 1.3.1942 Dienst im Kinderheim in Brockau, Beauftragung mit der psychologischen Begutachtung zur Selektion von „für das Deutschtum wertvollen Blutsträgern“ im Zuge einer Aktion zur Germanisierung polnischer Kinder. Am 15.5.1942 Rückversetzung zur NSV-Leitung nach Posen. Ihre genaue Tätigkeit im Gaukinderheim Brockau ist ungeklärt, nach eigenen Angaben war sie in SS-Umsiedlungslagern mit „erbbiologisch suspekten“ Kindern befasst. Ende 1944 Erkrankung, das Kriegsende verbrachte sie im Sanatorium in Ballenstedt im Harz. Seit Oktober 1947 Dozentin für Psychologie am Pädagogischen Institut in Weilburg an der Lahn. 1950 außerplanmäßige, 1953 außerordentliche, 1959 ordentliche Professorin, 1948-57 Lehrauftrag für Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Marburg. In führender Stellung am Aufbau von Erziehungsberatungsstellen in Hessen beteiligt. Im Jänner 1961 Ordinariat für Pädagogische Psychologie im Zuge der Eingliederung des Weilburger Pädagogischen Instituts in die Universität Gießen, 1967 Emeritierung.
spez. Wirkungsbereich: An der Kinderübernahmestelle kinderpsychologische Forschungen auf der Grundlage systematischer Dauerbeobachtungen an Kindern verschiedener Altersstufen. Entwicklung von Kleinkindertests, die quantitative und qualitative Aussagen über den psychischen Entwicklungsstand ermöglichen sollten; ab 1929 Pionierin der psychologischen Hospitalismusforschung; als Erziehungsberaterin in der NSV breite Anwendung der in ihrer Wiener Zeit mit Charlotte Bühler erarbeiteten Testsystems.
Ausz., Mitglsch.: 1972 Bundesverdienstkreuz I. Klasse der BRD, 1979 Ehrendoktorat der Universität Marburg, 1982 Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, 1984 des Berufsverbands Deutscher Psychologen.
W. u. a.: „Die symbolische Darstellung in der frühen Kindheit. Phil. Diss. Wien“ (1927), „ Gem. mit Bühler, Charlotte: Inventar der Verhaltungsweisen des ersten Lebensjahres. In: Bühler, Charlotte/Hetzer, Hildegard/Tudor-Hart, Beatrix (Hg.): Soziologische und psychologische Studien über das erste Lebensjahr“ (1927), „Gem. m. Frisch, Friedrich: Religiöse Probleme der Jugendlichen. In: Archiv f. d. ges. Psychologie 62“ (1928), „Gem. m. Beaumont, Henry/Wiehemeyer, E.: Das Schauen und Greifen des Kindes. In: Zeitschrift für Psychologie 113“ (1929), „Kindheit und Armut. Psychologische Methoden in Armutsforschung und Armutsbekämpfung“ (1929), „Gem. mit Bühler, Charlotte: Kleinkindertests. Entwicklungstests für das erste bis sechste Lebensjahr“ (1932), „Gem. mit Noelle, Getrud: Die Funktion verschieden gearteter Kinder in der Kindergartengemeinschaft. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und Jugendkunde 37“ (1936), „Mütterlichkeit. Psychologische Untersuchung der Grundformen mütterlicher Haltung“ (1937), „Psychologische Begutachtung von Grundschülern“ (1939), „Über die Anwendung von Kleinkindertests durch den psychologischen Laien. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 43“ (1941), „Eine Psychologie, die dem Menschen nützt. Mein Weg von Wien nach Gießen“ (1988)
L.: Benetka 1997, Benetka 2002, Bruns 1992, Erler/Lachmann/Selg 1986, Wedel 2010