Grün, Lili, Lily, Elisabeth; Schriftstellerin
Geb. Wien, 3.2.1904
Gest. 1942 verschollen
L. G. wurde am 3. Februar 1904 in Wien geboren (manche Quellen nennen 1907 als Geburtsjahr). Ihr Vater Armin, geboren im damals ungarischen Élesd (heute Aleşd, Rumänien), war Kaufmann; der Mädchenname ihrer in Wien geborenen Mutter war Regine Goldstein. L. G. wuchs in Wien auf und lebte zeitweise in Berlin, Prag und Paris.
L. G. veröffentlichte zunächst einige Texte in Zeitschriften: „From 1918 until 1934, when the Social Democratic party controlled the city government, Jewish women writers published more works than ever before in socialist ‚Red Vienna’. Talented authors such as Else Feldmann (1884–1942), Veza Canetti (1897–1963), Lili Grün (1904–1942), and Hilde Spiel (1911–1990), among others, became regular contributors of short stories and essays to prominent Viennese newspapers, and also published numerous novels and dramas.“ (Silverman, S. 30).
L. G.s erster Roman, „Herz über Bord“, erschien 1933 im Zsolnay-Verlag, zu dem die Beziehung von Robert Neumann vermittelt wurde. Im Mittelpunkt des Buches steht die in Wien geborene Schauspielerin Elli, die in Berlin ihr berufliches und privates Glück sucht und dabei zwischen einzelnen kurzen Engagements, die Hoffnung geben, immer wieder von Mietrückständen, Hunger, Zukunftsängsten und den Folgen von Armut eingeholt wird. „Hedwig ohne Schminke, im Spitalskittel, mit mageren Armen, spitzen Schultern, keine Zigarette zwischen den Lippen. Es ist auf den ersten Blick zu sehen, daß Hedwig nicht die Kameliendame ist. Es ist nicht poetisch, lungenkrank zu sein, es ist nicht poetisch, in einem langen, freudlosen Spitalssaal zu liegen, zwischen hustenden, spuckenden Menschen. Es ist nicht die Krankheit, die Elli aus der schönen Literatur kennt, es ist eine arme, arme Proletarierkrankheit, es ist ein häßliches Siechtum. Keiner von ihnen wird mit ein bißchen Blut auf den Lippen und einem Lächeln sterben. Auf diesen Gesichtern steht mit großen Buchstaben: Elend, Hunger, ewige Entbehrungen. Elli möchte sich verkriechen können, um dies alles nicht sehen zu müssen. So ist das also, so!“ (S. 133-134).
Neumann rezensierte den Band im Juli 1933 in der „Neuen Freien Presse“: „Hier bei der Grün geht es in jedem Betracht auf Sichdurchbeißen oder Verrecken. Und ich stehe, da es sich nun einmal um ‚Dokumentenliteratur’ handelt, nicht an, zu verraten, daß das Schicksal der Heldin da durchaus dem der Autorin nachgebildet ist. Als ich diese und ihr Manuskript vor wenigen Monaten aufspürte, wog sie neununddreißig Kilogramm und lebte von – aber das würde man mir nicht glauben. […] Es ist in diesem Erziehungsroman eine ganz besondere Form von Ueberwindertum, der ‚Protest der Jung-Frau gegen die Sachlichkeit’ vollzieht sich auf eine erschütternde und sehr zarte Manier, und zwar derart, daß die Heldin sich geheime seelische Reservationen, geheimste Traumwinkel aufspart, in denen sie jene halbe Stunde, die ihr von vierundzwanzig für ihr privates, eigenes, inneres Leben übrigbleibt, in einer seltsam versponnenen und den eigenen Wirklichkeiten abholden Weise reich macht und leuchten läßt. Um diese Lili Grün ist mir nicht bange. Sie wird ihren Weg machen“ (Neumann, S. 2).
Etwa im Oktober 1933 ging G. nach Prag, 1934 hielt sie sich längere Zeit in Paris auf. Da sie in Paris kein Einkommen hatte und lungenkrank geworden war, kehrte sie Anfang 1935 nach Wien zurück. Felix Costa, Cheflektor beim Zsolnay-Verlag, bemühte sich, für die lungenkranke Schriftstellerin Spenden zu sammeln, mit denen ihr Kuraufenthalte in Grimmenstein-Hochegg (NÖ) und Meran finanziert wurden (Bolbecher, S. 263). G.s zweiter Roman, „Loni in der Kleinstadt“, wurde 1933 in der Zeitung „Der Wiener Tag“ vorabgedruckt und erschien 1935 als Buch in der Zürcher Reihe „Bibliothek zeitgenössischer Werke“ des Zsolnay-Verlages. Diese „ermöglichte es Paul Zsolnay, Autoren, die in Deutschland nicht mehr vertrieben werden durften, eine Publikationsmöglichkeit zu bieten. Der ‚Preis’ dafür waren kleinere Auflagen (3000 Exemplare), geringere Vorschüsse und Honorare sowie eingeschränkte Werbemöglichkeiten. […] Auf diese Weise konnte Zsolnay Schriftsteller wie Paul Frischauer, Ernst Lothar, Heinrich Eduard Jacob, Lili Grün, Viktoria Wolf, Schalom Asch und Robert Neumann, die im Hauptverlag nicht mehr gedruckt werden konnten, wenigstens eine Möglichkeit geben, ihre Bücher überhaupt zu veröffentlichen“ (Hall, S. 8). Der dritte Roman „Anni hat Unrecht“ wurde vom Zsolnay-Verlag nicht mehr gedruckt (biografiA, o. P.).
L. G. schloss eine flüchtige Bekanntschaft mit Hilde Spiel, die später im Band „Die zeitgenössische Literatur Österreichs“ über sie schreibt: „Ein rührendes Mädchen, das mit seinem zarten Roman ‚Herz über Bord’ zum ersten Mal in dem fatalen Jahr 1933 hervortrat. Ihre Lebensgeschichte bliebe im Dunkeln, und sie wäre vom Erdboden weggewischt, als hätte es sie nie gegeben, würde ihrer hier nicht Erwähnung getan“ (Spiel, S. 43).
1938 wurde L. G. delogiert und in Massenquartieren untergebracht. Ende Mai 1942 wurde sie nach Minsk deportiert (Hall/Renner, S. 96), seither ist sie verschollen.
W.: „Herz über Bord. Roman“ (1933), „Loni in der Kleinstadt. Roman. Bibliothek zeitgenössischer Werke“ (1935. Vorabdruck in Fortsetzungen in: Der Wiener Tag, 7. August bis 3. September 1933), „Anni hat Unrecht“ (unveröffentlicht)
L.: Bolbecher/Kaiser 2000, Hall 1994, Hall/Renner 1992, Kosch 1978, Neumann 1933, Schmid-Bortenschlager/Schnedl-Bubenicek 1982, Schmidt 1996, Silverman 2006, Spiel 1976
Monika Bargmann