Blei Sibylla, Bley, Maria Eva Sibylla gen. Billy; Schauspielerin, Modell und Übersetzerin
Geb. Zürich, Schweiz, 22.3.1897
Gest. 1962?

M. E. S. B. kommt am 22. März 1897 in Zürich als Tochter von Dr. Franz Bley und Maria Franziska Bley, geborene Lehmann, zur Welt. Am 17. Juni 1905 wird ihr Bruder Peter Maria in München geboren. Ihr Vater, 1871 in Wien geboren, ist promovierter Nationalökonom, widmet sich jedoch der Schriftstellerei, arbeitet als Literaturkritiker und Übersetzer. Er gibt verschiedene Literaturzeitschriften heraus und ist Entdecker und Förderer von literarischen Talenten. Über den „Tausendsassa“ Franz Blei – dessen geänderte Schreibweise des Familiennamens S. B. später übernehmen wird – ist in den letzten Jahren ausgiebig geforscht worden, über ihre Mutter erst in Ansätzen. Maria Lehmann wird am 2. Jänner 1867 in Offenburg geboren. Als Medizinstudentin in Zürich ab dem SS 1891 gehört sie zu den europaweiten Pionierinnen an Universitäten.
Von 1908 bis 1912 kommt Billy, wie Sibylla zeitlebens genannt wird, in die bekannte 1906 gegründete Freie Schulgemeinde Wickersdorf bei Saalfeld a. d. Saale, ein nach reformpädagogischen Überlegungen geleitetes Internat. Daraufhin dürfte S. B. eine Ausbildung als Schauspielerin absolviert haben. Jedenfalls debütiert sie am 13. November 1914 am von Max Reinhardt geleiteten Deutschen Theater in Berlin, wo sie zwei Jahre lang in verschiedenen kleinen Rollen mitwirkt, so als stumme „Vertraute“ in Hugo von Hofmannsthals Tragödie „Elektra“, als „Freifrau von Totleben“ im „Marquis von Keith“ von Frank Wedekind. In William Shakespeares „Romeo und Julia“ spielt sie den „Balthasar“, in Longdon Michells Lustspiel „Jonathans Töchter“ die „Grace Phillimore“. Vielleicht arbeitet sie auch mit Gerhard Hauptmann zusammen, in dessen Stücken sie ebenfalls mitwirkt.
Seit der ersten Jahreshälfte 1917 lebt S. B. mit ihrer Familie in Wien, wo sie über ihren Vater, der schnell zu einem wichtigen Bindeglied in der Wiener LiteratInnen- und KünstlerInnenszene wird, viele Intellektuelle und Kulturschaffende kennen lernt. Mit einigen befreundet sie sich. So schreibt ihr Robert Musil eine handgeschriebene Widmung in den ersten Band seiner Novelle „Der Mann ohne Eigenschaften“, ebenso Rudolf Borchardt zu seinem Aufsatz „Der Krieg und die deutsche Verantwortung“ (1916). Borchardt verfasst 1917 auch einen Zyklus seiner Nachklanggedichte auf sie. Hermann Broch, der mit Franz Blei eng befreundet ist, schreibt ebenso Gedichte auf S. B. In seinem Hamlet-Fragment lässt er sie selbstironisch als die Schauspielerin Sibylla Blei, die „Ophelia“ spielt, auftreten.
Im Sommer 1918 geht S. B. mit dem Fronttheater an die italienische Front, gleich danach reist sie nach Bosnien-Herzegowina, um in zwei Propagandafilmen des k. u. k. Kriegspressequartiers mitzuwirken. Weitere kleine Theater- und Filmengagements folgen. S. B. ist als „Der Hüter der Schwelle des Tempels“ in der Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss zu sehen, die am 10. Oktober in Wien Premiere feiert. 1919 spielt sie im Kinofilm „Madame Dubarry“, 1921 im Film „Lucifer“ (Regisseur: Ernest Juhn) und 1923 in der Nebenrolle eines Hoffräuleins in „Scaramouche“ von Rafael Sabatini in der Regie von Rex Ingram mit. In dieser Zeit wird S. B. von der Wiener Malerin und Grafikern Erika Abels-d‘Albert (1897-1975), Tochter des bekannten Wiener Kunstkenners und -kritikers Dr. Ludwig W. Abels, portraitiert. Dieses Gemälde wird im Herbst 1919 in Wien ausgestellt.
Neben ihrer schauspielerischen Tätigkeit führt S. B. Übersetzungen durch. Namentlich belegt ist einzig die Transkription der lange Zeit Oscar Wilde zugeschriebenen Erzählung „Der Priester und der Messnerknabe“, welche ihr Vater in dem Band „Der Priester und der Messnerknabe und andere apokryphe Erzählungen“ 1924 veröffentlicht. Ebenso posiert sie als Modell für Modezeitschriften, wofür sie durch ihre ungewöhnliche Körpergröße prädestiniert ist. 1919 lässt sie sich in dem von Ea von Allesch redaktionell betreuten Modeteil in der „Moderne[n] Welt“ mit exklusiven Hutkreationen fotografieren – mit Ea von Allesch (1875-1953) soll sie auch befreundet gewesen sein. 1927 führt sie in der „Illustrierte[n] Zeitung“ (Leipzig) ein Pilotinnenkostüm vor.
S. B. heiratet am 25. Februar 1926 in Wien Dr.phil. Ernst von Lieben (1875-1970). Die Ehe dauert nicht lange und wird 1928 oder 1929 aufgelöst, doch bleiben beide weiterhin freundschaftlich in Verbindung.
Um 1930 trifft S. B. Sarah Halpern (1898-1974). Diese wird bis zu ihrem Tod ihre ständige Lebensgefährtin. Über Sarah Halpern, die sich später Sarita nennt, wissen wir nicht viel. Sie stammt aus einer vornehmen russischen Familie und arbeitet zeitweise als Übersetzerin. Sie soll in Frankfurt, Paris, Madrid und Wien gelebt haben, wo sie S. B. begegnet. Ab März 1932 hält sich das Paar auf Mallorca auf, wo sich Franz Blei in dem kleinen, balearischen Ort Cala Ratjada ins freiwillige Exil zurückgezogen hat. S. B. betreibt auf Mallorca eine Hühnerfarm und beabsichtigt in der Nähe von Cala Ratjada einen Landkauf in größerem Umfang. Aus diesem Projekt wird ebenso wenig wie aus ihrem Vorhaben in Marbella/Südspanien Land zu erwerben. Mit Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im Juli 1936 flüchtet S. B. zurück nach Wien.
Sarita Halpern lässt sich in Portugal, in Costa da Caparica, einem Badeort in der Nähe von Lissabon nieder. Dorthin folgt ihr S. B. 1938. 1939 beginnt das Paar mit dem Aufbau einer Firma zur Herstellung von Naturkosmetik. Im Februar 1941 nimmt S. B. ihren vor den Nazis flüchtenden Vater bei sich auf und ermöglicht ihm und gemeinsamen Freunden mit Hilfe Hermann Brochs die Emigration in die USA. Auch ihre Mutter verbringt die ersten Kriegsjahre bei ihr in Portugal.
Über die späteren Lebensjahre S. B.s ist wenig bekannt, selbst ihr genaues Todesdatum ist unklar. Ihre Lebenspartnerin Sarita Halpern stirbt 1974. Nach ihrem Tod gelangt die an die tausend Exemplare zählende, wertvolle Bibliothek S. B.s, deren Kern die umfangreiche Privatbibliothek des Bibliophilen Franz Bleis ist, als Schenkung durch ihren Bruder, David Halpern, an die Nationalbibliothek in Lissabon, wo sie sich noch heute befindet.

Qu.: (aus urheberrechtlichen Gründen nicht für diesen Beitrag verwendet): Wien, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Tagebuch von Maria Bley für Sibylle Blei (1987-1919), Fotoalbum (Ostseereise, 1925), Fotoalbum (1927), Scrapbuch für Sibylle (ca. 1920-1960).
L.: Ebermayer 2005, Einsele 1994, Einsele 1997, Frisé 1981, Fuks/Kohlbauer 2004-2005, Gabrisch 1999, Haus der jungen Künstlerschaft 1919, Kafka 1990, Lützeler 1985, Pinto Correia 1997, Uma Biblioteca Reencontrada 1988. Die Tochter Franz Bleis erzählt. In: Der Morgen, 24.8.1936, S. 4, bzgl. S. B. als Trägerin neuer Hutmodelle siehe: Die Moderne Welt, 1919, Heft 7, S. 26 und 27, bzgl. S. B. Rolle in der Strauss-Oper „Frau ohne Schatten“ siehe: Die Moderne Welt, 1919, Heft 11, S. 20, bzgl. Cala Ratjada siehe: Mallorca-Deutsche unterm Hakenkreuz Teil 2: Deutsche Exil-Kolonie am Ende der Welt. In: mallorcazeitung.es, 22.05.2009, www.mallorcazeitung.es/…Leben-MallorcaDeutsche-unterm-Hakenkreuz-Teil-2Deutsche-ExilKolonie-Ende-Welt

Barbara Karahan