Vitzthum Hilda; Röntgenschwester und Stalin-Opfer

Geb. Frankenmarkt, OÖ, 28.12.1902

H. V. wird am 28.12.1902 im oberösterreichischen Ort Frankenmarkt geboren. Ihr Vater arbeitet als k. .k. Beamter im Bezirksgericht, die Mutter ist eine oberösterreichische Bauerntochter. Das Ehepaar Vitzthum hat insgesamt drei Töchter und einen Sohn. Die Mutter stirbt im September 1913, der Vater heiratet 1914 wieder, doch die Kinder sind mit der Stiefmutter nicht glücklich. Der Bruder verlässt das Elternhaus, übersiedelt nach Wien und wird schließlich Mitglied des antifaschistischen Komitees der KPÖ.

Nach einigen Anstellungen als Kinder- und Stubenmädchen in der Provinz folgt H. V. ihrem Bruder 1919 nach Wien. Dort absolviert sie eine Ausbildung als Röntgenschwester. 1922 tritt sie der KPÖ bei und nimmt an der Demonstration des Jahres 1927 teil. Noch im selben Jahr stirbt der Bruder.

H. V. wird 1929 verhaftet und des Hochverrates angeklagt. Trotz Freispruchs ist sie nach ihrer Verhaftung arbeitslos. Sie wird von der Kommunistischen Partei nach Moskau geschickt und besucht dort 1929/30 die Lenin-Schule. In Moskau lernt sie ihren späteren Lebensgefährten, den russischen Ingenieur Georgij Schtscherbatow, kennen. 1930 kehrt H. V. nach Wien zurück und arbeitet hier für die Kommunistische Partei. Wegen ihrer politischen Tätigkeit wird sie einige Male verhaftet; 1932 emigriert sie endgültig in die UdSSR. Sie wird Mitglied der KPdSU und begleitet ihren Mann nach Kusnezk in Sibirien, einem Stahlkombinat in dem viele Deutsche und Österreicher beschäftigt sind. H. V. hat den Auftrag vom Zentralkomitee der KPdSU die ausländischen Arbeiter kulturell zu betreuen. Sie gibt Russisch-Unterricht und arbeitet in der Werksbibliothek. 1936 nimmt sie die sowjetrussische Staatsbürgerschaft an.

Nach ihrem Sohn Ruslan, der 1935 geboren wurde, kommt im Mai 1937 ihr zweites Kind, die Tochter Irina, zur Welt. Im August 1937 setzen die Verhaftungen durch das NKWD (Volkskommissariat des Inneren) massiv ein, die Ausweisung der deutschen und österreichischen Fachkräfte beginnt. Später werden fast alle ehemaligen ausländischen Fachkräfte, die die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben, ausgewiesen. Die anderen mussten das Land bereits nach dem Beschluss der Sowjetführung von 1936/37 verlassen. Diese Ausweisung bedeutete in der damaligen politischen Situation in den Herkunftsländern eine Gefahr für Leib und Leben. Im Oktober 1937 werden H. V. und ihr Mann aus der Partei ausgeschlossen. Ende Oktober 1937 wird Georgij Schtscherbatow verhaftet. Am 6. Jänner 1938 erhält H. V. einen Brief von ihrem Mann, es ist das letzte Lebenszeichen von ihm. Später erfährt sie, dass er wahrscheinlich noch im selben Jahr als Volksfeind erschossen wurde.

H. V. fährt auf Wunsch ihres Mannes mit den beiden Kindern zu dessen Bruder Grigori in das Dorf Kostino Otdelez. Im Oktober 1938 erhält H. V. eine Vorladung zur Kontrollkommission in Nowosibirsk. Dort erfährt sie, dass Georgij zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt worden ist; sie selbst wird als Familienmitglied eines Volksfeindes zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Sie wird in das Sonderlager für Familienmitglieder der Volksfeinde und Vaterlandsverräter Akmolinsk (Nordkasachstan) gebracht in dem ausschließlich Frauen eingesperrt sind. Dort trifft sie auf Mia Spitz, die bereits im Mai 1938 verhaftet wurde. Nach mehreren Monaten gemeinsamer Haft in verschiedenen Lagern werden die beiden Frauen bei einer neuerlichen Aufteilung der LagerinsassInnen auf verschiedene Zwangsarbeitslager in Karaganda getrennt.

Im Februar 1939 müssen die Häftlinge 200 Kilometer durch den sibirischen Winter zu Fuß in die ehemalige englische Kolonie Spassky gehen. Im September 1939 werden die Sonderlager aufgelöst und H. V. wird nach Dolinki, der Verteiler-Station der Karaganda-Lager, eines Lagerkomplexes in der Größe der Schweiz, gebracht. In Dolinki erfährt sie vom Tod ihrer damals zweijährigen Tochter Irina, die an Scharlach in einem Kinderheim gestorben war. H. V. wird ins Nowosibirsker Gefängnis überstellt und von dort ins Lager Assinowka deportiert, wo sie bis Dezember 1939 in einem Sägewerk arbeitet. Die politischen Gefangenen wurden hier von den Kriminellen besonders terrorisiert. Im August 1940 wird das Lager Assinowka aufgelöst, nach wochenlangen Transporten in Viehwagons kommen die Gefangenen im karelischen Lager Medweschogorsk an. H. V. muss hier schwere Feldarbeit leisten und in einer Kleiderfabrik arbeiten, in Kem ist sie im lagereigenen Kinderheim tätig. Mit der Evakuierung der karelischen Lager im Sommer 1941 kommt H. V. wieder ins Landesinnere und zwar in das bei Gorki gelegene Lager Suchobeswodnaja. Dort wird sie für das Lagerspital als Krankenschwester eingesetzt. Nach Zwischenaufenthalten in Etappengefängnissen arbeitet sie ab August 1943 im Lager Wolosnita (Gebiet Kaiski) im Lagerspital, obwohl ihre fünfjährige Haftzeit bereits zu Ende ist.

In den sowjetischen Zwangsarbeitslagern gibt es vor 1946 keine Entlassungen, unabhängig davon wie hoch der ursprüngliche Strafrahmen gewesen und ob die Haftzeit schon abgelaufen ist. Ab 1946 werden politische Gefangene zwar aus der Haft entlassen, sie dürfen sich aber nicht in der Nähe von großen Städten ansiedeln. H. V. wird ab September 1946 zur Erntearbeit in den Sowchos geschickt und 1947 nach Bogoruslan verbannt. Im Mai 1947 reist sie nach Moskau um für sich und ihren Sohn die Ausreise nach Österreich vorzubereiten. Auf dem Weg zu ihrem Verbannungsort holt sie ihren Sohn von seiner Tante und nimmt ihm nach Bogoruslan mit. An ihrem Verbannungsort kann sie nicht als Krankenschwester arbeiten, sondern muss wieder im Sowchos Feldarbeit leisten, außerdem ist die monatliche Meldung beim NKWD Pflicht. Die Verbannung dauert insgesamt ein Jahr. Im Juli 1948 kann H. V., deren Gesundheitszustand nach insgesamt 10 Jahren Zwangsarbeitslager und Verbannung sehr schlecht ist, mit ihrem Sohn nach Wien zurückkehren. Ihre 1989 veröffentlichten Memoiren beruhen auf Aufzeichnungen, die sie in den Lagern gemacht und mit viel Mühe durch die Kontrollen der Behörden geschmuggelt hat.

W.:Mit den Wurzeln ausrotten. Erinnerungen einer ehemaligen Kommunistin“ (1984)

L. u. Qu.: Schafranek 1991
https://www.doew.at/erinnern/biographien/oesterreichische-stalin-opfer-bis-1945/stalin-opfer-v/vitzthum-hilda

 

Karin Nusko