Wahle Anna, Schwester Hedwig, Hedwig Wahle; Nonne, Religionslehrerin und Judaistin
Geb. Wien, 17.12.1931
Gest. London, Großbritannien, 24.8.2001
Herkunft, Verwandtschaften: Vater: Karl Wahle (Dr.iur., 6.6.1887 Wien-15.6.1970 Wien, Oberlandesgerichtsrat, ab 1945 Leiter, später Präsident des Handelsgerichts, ab 1948 Rat des Obersten Gerichtshofes, 1949 Senatspräsident, 1954 Zweiter Präsident und 1956 bis zu seiner Pensionierung Erster Präsident. Er erhielt 1967 den Ehrendoktor der Innsbrucker Universität und war zusätzlich Universitätsprofessor für Handelsrecht und Mitglied mehrerer Prüfungskommissionen.). Mutter: Dr.phil. Hedwig Brunner (geb.13.11.1897, Versicherungsmathematikerin, starb 1957). Bruder: Franz (geb. 1929, emigrierte nach Großbritannien, studierte Nationalökonomie an der Londoner Universität und legte die Prüfungen für „Chartered Accountant“ ab. Danach arbeitete er mehrere Jahre für John Lewis (eine Großkaufhauskette). 1959 bis 1966 studierte er in Rom und wurde 1965 zum Priester geweiht).
Ausbildungen: A. W. besuchte die Volksschule in mehreren Klöstern, unter anderem jene der Erzdiözese Wien am Judenplatz, ab Herbst 1938 die Schule am Börseplatz. Wegen ihrer jüdischen Abstammung wurde sie zusammen mit ihrem Bruder von ihren Eltern am 10. Jänner 1939 mit einem Kindertransport nach England geschickt und blieb bis 1950 in mehreren Klöstern, unter anderem in „Unsere Liebe Frau von Sion“ in London, wo sie die Volks- und Mittelschule besuchte. Im Juli 1948 erhielt sie das Oxford School Certificate und 1950 das Higher School Certificate. Nachdem sie nach Österreich zurückgekehrt war und die in England abgelegten Prüfungen anerkannt worden waren, begann sie Mathematik und Physik an der Universität Wien zu studieren. 1954 legte sie die Lehramtsprüfung ab. Daneben absolvierte sie 1951 bis 1953 das theologische Laienjahr.
Laufbahn: Am 14. Februar 1955 trat sie in Wien in die Kongregation „Unsere Liebe Frau von Sion“ ein und nahm den Namen Hedwig an. Das letzte Jahr ihres Noviziates verbrachte sie in Frankreich. 1957/58 leistete sie ihren Probedienst am privaten Mädchengymnasium in der Kenyongasse. 1959 bis 1962 unterrichtete sie an der Handelsakademie der Kongregation. Danach lebte sie zwei Jahre lang in Paris, begann Hebräisch zu lernen und sich mit Judaistik zu beschäftigen. Nach ihrer Rückkehr 1964 inskribierte sie Judaistik an der Universität Wien und übernahm zugleich die Leitung des Studentinnenheims der Kongregation in der Burggasse. Dabei organisierte sie monatliche Veranstaltungen mit christlich-jüdischer Thematik. 1965 bis 1967 unterrichtete sie am neusprachigen Gymnasium. Um sich intensiver ihren Studien widmen zu können, zog sie sich vorübergehend vom Lehramt zurück.
1966 war H. W. im Anschluss an das Konzilsdekret „Nostra Aetate“ an der Überprüfung der Religionsbücher auf judenfeindliche Inhalte beteiligt. 1970 erarbeitete sie zusammen mit Prof. Dr. Kurt Schubert und Dr. Clemens Thoma, sowie mit Otto Herz, Otto Mauer und Erika Weinzierl das vom Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit vorgelegte Memorandum mit dem Titel „Darstellung des Judentums in der Katechese“. Das von der Wiener Diözesansynode ohne Gegenstimme angenommene Memorandum enthielt eine der für die damalige Zeit deutlichsten Verurteilungen des Antisemitismus. In ihm hieß es u. a.: „Existenz und Geschichte des Judentums sind (nach Röm. 9-11) für die Christen ein Heilsmysterium, daher müssen die Christen die Existenz auch des heutigen Judentums heilsgeschichtlich verstehen. Mit sicherem Glauben halten wir fest, dass der Neue Bund in Christus die Verheißungen des Alten Bundes nicht außer Kraft gesetzt hat.“ (Dialog – Du Siach, S. 33)
W. war an der Gründung des „Informationszentrums im Dienste der christlich-jüdischen Verständigung“ (IDCIV) maßgeblich beteiligt, das 1967 über Anregung der römischen Ordensleitung der Sionsschwestern in Wien errichtet wurde und dessen Leitung W. von der Gründung bis 1991 inne hatte. 1969-1975 arbeitete Sr. H. W. mit an der „Einführung in die Perikopen“ des Österreichischen katholischen Bibelwerkes. 1969 bis 1972 unterrichtete sie wieder in der Sperlgasse. Zu dieser Zeit begann sie an ihrem Buch „Ist Adam an allem schuld?“ zu arbeiten. 1972 promovierte sie mit der Dissertation „Das Problem der rabbinischen Anthropologie“ zum Dr.phil. Im Jahr 1973 organisierte sie im Auftrag des Koordinierungsausschusses eine ökumenische Studientagung für Religionslehrer zum Thema „Judentum und Katechese“ in Neuwaldegg. 1974 bis 1991 war sie geschäftsführende Präsidentin des „Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit“. Ab 1975 arbeitete sie in der Projektgruppe Wien, die heute Interdiözesane Projektgruppe heißt, an der Erstellung eines neuen Lehrplanes und an Religionsbücher für die Unterstufe der AHS mit. 1975 bis 1991 unterrichtete sie hauptsächlich Religion und einige Stunden Mathematik und Physik in der Schützengasse, im April 1980 wurde sie pragmatisierte Lehrerin. Dazwischen studierte sie Theologie und wurde 1982 mit der Diplomarbeit „Die Bedeutung der Methode des alttestamentarischen Unterrichts für die Darstellung des Judentums“ zum Magister der Kombinierten Religionspädagogik sponsiert. Im Jahr 1980 veröffentlichte sie das Buch „Das gemeinsame Erbe. Judentum und Christentum in heilsgeschichtlichem Zusammenhang“, das einen Überblick über die Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum, über die Geschichte des christlichen Antisemitismus, über den jüdisch-christlichen Dialog und über die neuere Geschichte des Judentums enthielt. 1986 publizierte sie zusammen mit dem aus Ungarn stammenden Wiener jüdischen Kaufmann Alexander Ronai „Das Evangelium − ein jüdisches Buch? Eine Einführung in die jüdischen Wurzeln des Neuen Testaments“. Dieses Buch wollte über jene Einzelaspekte des Judentums informieren, die für das Verständnis bestimmter ausgewählter Stellen aus den Evangelien unbedingt notwendig waren. Am Ende entstand ein Gesamtbild sowohl über das „jüdische“ Evangelium, als auch über das antike und moderne Judentum.
1991/1992 verbrachte W. in den USA und nahm an einem Sabbatical Programm „Focus on Leadership“ in Spokane, Washington teil. Nach der Schließung der Wiener Ordensniederlassung in der Burggasse 1991 verbrachte Sr. H. W. die Jahre 1992 bis 1998 teilweise in Rom und in Brüssel. Sie arbeitete im SIDIC in Brüssel und hielt unter anderem Vorlesungen über das Judentum und den christlich-jüdischen Dialog in Lumen Vitae, dem CETEP und der Faculté Universitaire Saint-Louis. Ab 1998 lebte sie in London, ebenso wie ihr Bruder, der nun ein katholischer Priester war. Dort bereitete sie sich vor, als Spiritual Director und Retreat Director zu wirken. Daneben war sie mit der Computerisierung der Bibliothek des Studienzentrums für Christlich-jüdischen Dialog beschäftigt. Zugleich arbeitete sie an ihren eigenen Memoiren und denen ihrer Eltern. Sie erkrankte schwer an Krebs. Nach Operationen, Chemotherapien und langer Bettlägrigkeit starb Sr. H. W. am 24. August 2001 im Beisein ihres Bruders in London.
Qu.: Korrespondenz mit Susanne Blumesberger am 28.7.2000, Literaturhaus/Exilbibliothek, Erzählte Geschichte, DÖW.
W.: „Ist Adam an allem schuld?“ (1971), „Das gemeinsame Erbe. Judentum und Christentum in heilsgeschichtlichem Zusammenhang“ (1980), „Das Evangelium – ein jüdisches Buch? Eine Einführung in die jüdischen Wurzeln des neuen Testaments“ (1986), „Juifs et Chrétiens en dialoque. Vivre d’un héritage commun“ (1997)
Beiträge: „Die Erbsündenlehre und die zwischentestamentliche Literatur In: Dexinger-Staudinger-Wahle-Weismayer: Ist Adam an allem schuld?“ (1971), „Das christlich-jüdische Gespräch in Österreich. In: Emuna 2“ (1973), „Bibliographie und Hilfsmittel zum Thema Judentum und Katechese. In: Christlich-pädagogische Blätter 4“ (1973), „Jüdische Riten und Gebräuche im Christentum. In: Religionsunterricht an höheren Schulen Düsseldorf 2“ (1975), „Die christlich-jüdische Zusammenarbeit in Europa. In: Lebendiges Zeugnis“ (Februar 1977), „Das synagogale Gebet am Freitag Abend IDCIV Behelf Nr. 1 (o. J., mit Kurt Bergmann), „Rabbinische Gleichnisse und die Gleichnisse Jesu IDCIV Vortrag Nr. 3“ (Juni 1986), „Das I.D.C.I.V. − Entstehen und Wirken des Informationszentrums im Dienste der christlich-jüdischen Verständigung. Vortrag Nr. 9“ (Oktober 1987, Informationszentrum im Dienste der christlich-jüdischen Verständigung), „Die Juden in Ungarn IDCIV. Vortrag Nr. 27“ (Oktober 1988), „Der christlich-jüdische Koordinierungsausschuß und sein Werden. In: Christlich-pädagogische Blätter 6“ (1991), „Christlich-jüdische Zusammenarbeit in TRE /Theologische Realenzyklopädie)“, „Mutter, Bruder, Vater, ich. In: Entschluß 5/1991 (Jesuitenzeitung)“, „25 Jahre nach der Konzilserklärung Nostra Aetate §4 IDCIV. Vortrag Nr. 31“ (Oktober 1990), „Some known and unknown pioneers (in Christian-Jewish Dialogue) of continental Europe. In: SIDIC 2“ (1997)
L.: Mutter, Bruder, Vater, ich In: Entschluß 5/1991 (Jesuitenzeitung)
Susanne Blumesberger