Kraus Hedwig

Musikwissenschafterin, Bibliothekarin und Archivleiterin
* 20.8.1895, Wien, † 3.12.1985

Herkunft, Verwandtschaften: Hedwig Kraus wurde am 20.8.1895, Wien geboren. Der Vater Dr. Ernst Kraus war Hof- und Gerichtsadvocat (25.8.1867–25.7.1945, Wien); 1890 Dr. iur., Gerichtspraxis, dann Konzipient bei seinem Vater Dr. Eugen Kraus, ab 1897 selbständiger Rechtsanwalt; Franz-Josephs-Orden, Orden der Eisernen Krone, III. Klasse, Großes Silbernes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik; Vizepräsident der Gesellschaft der Musikfreunde; verheiratet mit Hedwig Mathilde, geb. Charwat (*5.6.1871, Wien).
Ausbildungen: Hedwig Kraus besuchte das Mädchengymnasium des Vereins für erweiterete Frauenbildung mit dem vollwertigen Lehrplan des humanistischen Gymnasiums alten Styles, in der Wiener Rahlgasse 3. 1915 maturierte sie mit Auszeichnung und studierte danach bis 1919 an der Universität Wien Musik­wissenschaft.
Im Rahmen ihrer Dissertation, die sie 1919 vorlegte, beschäftigte sich Kraus mit Jacob Buus (J. Buus, 1500–1565, war Hoforganist in Wien). In der Beurteilung dieser Arbeit stellte ihr Doktorvater Guido Adler fest:
„Eine bei Frauen seltene analytische Beobachtungsgabe hebt den Wert der Untersuchung, die auch allgemein entwicklungsgeschichtlich manch brauchbares Resultat zeitigt.“
Diese Arbeit wurde von der niederländischen Musikgesellschaft publiziert, und noch Jahrzehnte später wird in Rezensionen vermerkt, wenn Musikwissenschafter die Erkenntnisse von Hedwig Kraus nicht berücksichtigt hatten.
Seit Herbst 1915, mit Beginn des Studiums, war Kraus auch Mitglied des Singvereins und ausübendes Mitglied der Gesellschaft der Musikfreunde. Ebenfalls bereits während des Studiums, seit 1917, war sie Mitglied des Musikhistorischen Institutes, hat einschlägige wissenschaftliche Arbeit geleistet und hat auch über die dortige Bücherei die Custodie besorgt.
Daneben studierte Hedwig Kraus privat bei Josef V. von Wöss Harmonielehre und Kontrapunkt und nahm 1918 ein Gesangsstudium bei Frau Agnes Bricht-Pyllemann, einer damals bekannten Konzertsängerin, auf. Kraus spielte gut Klavier und − nach eigener Aussage − hervorragend gut Kontrabass, war auch im Orchesterspiel gut bewandert und im Partiturlesen geübt.
Laufbahn: Noch vor Abschluss des Studiums trat sie mit 1. September 1919 in den Dienst der Gesellschaft der Musikfreunde ein, und zwar als Bibliotheksassistentin des Archivars Mandyczewski, das heißt, sie wurde als sogenannter Bibliotheksadjunct angestellt und avancierte 1923 zum Amanuensis.
Dem Archivar Hofrat Prof. Dr. Mandyczewski, der an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Kurse über Instrumentenkunde abhielt, scheint seine a.o. Hörerin Kraus sehr positiv aufgefallen zu sein. Später wird Kraus festhalten:
„Hofrat Mandyczewski hat mich vor Jahren – ohne mein Zutun – zum Eintritt in den Archivdienst der Gesellschaft aufgefordert und mich auch stets im Falle seiner manchmal notwendigen Verhinderung mit seiner Stellvertretung betraut.“
Kraus war auch in diesen Jahren daneben sehr beschäftigt, zwischen Februar 1922 und Herbst 1924 arbeitete sie als Expertin für das Bestimmen und Schätzen alter Handschriften und Musikwerke für Herrn Otto E. Deutsch (Seidelsche Buchhandlung, 1. Am Graben), ab Herbst 1924 bei der Universal-Edition (durchaus im Konzeptfache musikalischen Charakters).
Seit 1923 war sie zudem wirkendes Mitglied der Kommission Denkmäler der Tonkunst in Österreich. In diese Zeit fallen Publikationen wie ein Raimund-Liederbuch oder ein Spezialkatalog zu Alt Wiener Tanzmusik.
All diese Arbeiten erledigte sie neben ihrer eigentlichen Tätigkeit für die Gesellschaft der Musikfreunde. Neben der Betreuung von Besuchern und Lesern und der eigentlichen Bibliotheksarbeit wie Erledigung der Korrespondenz, der Katalogisierung, der Ordnung und Sichtung der Bestände, gab es noch die Ausstellungsarbeit.
Kraus konnte in diesen Jahren große Erfahrung sammeln und war so mit allen Bereichen bestens vertraut. Nach dem Tod von Mandyczewski im Juli 1929 bewarb sie sich dann um dessen Stelle als − in zeitgenössischer Diktion − Direktor.
Im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde haben sich zu dieser Stellenausschreibung einige Dokumente erhalten – es gab sehr viele Bewerber, doch Kraus dürfte wirklich die am besten Qualifizierte gewesen sein, auch wenn ein Kollege andeutete, Kraus wäre nur aufgrund der Tatsache, dass ihr Vater Vizepräsident der Gesellschaft gewesen ist, Direktorin geworden.
Bestellung zum Direktor: Mit 1. Jänner 1930 wurde Kraus definitiv zum Direktor des Archivs, der Bibliothek und des Museums der Gesellschaft der Musikfreunde ernannt. Es wurden ihr ein Gehalt von 400 Schilling und eine Funktionszulage von 100 Schilling sowie ein jährlicher Urlaub in der Dauer von 6 Wochen zuerkannt.
Zum Vergleich hier die Bezüge ihres Stellvertreters Dr. Karl Geiringer. Dieser war zum Kustos der Instrumentensammlung ernannt worden, das war eine neu geschaffene Stelle. Sein Monatsgehalt betrug 300 Schilling, die Urlaubsdauer war ein Monat.
Tätigkeit als Direktorin: In die ersten Jahre der Direktion von Kraus fallen viele Neuerungen: Die Instrumentensammlung wurde vollkommen neu aufgestellt, vielen Objekten wurden neben genauen Erläuterungen auch Bilder zum besseren Verständnis der Spieltechnik beigegeben.
Eigens angefertigte Photographien von besonders hervorragenden Stücken und Musikhandschriften wurden dem Museumsbesucher zum Kauf angeboten.
Neben der üblichen Bibliotheksarbeit, Betreuung der Besucher und Publikationstätigkeit war Kraus also auch im − heute würde man sagen: − Marketing erfolgreich; weiters hat sie internationale Kontakte gepflegt bzw. aufgebaut.
So hat im Haydn-Jahr 1932 eine entsprechende Ausstellung viel Aufmerksamkeit erzielt: Ein Hörbericht zur Haydn-Ausstellung wurde am 27. Februar 1932 von mehreren deutschsprachigen Sendern ausgestrahlt und fand sehr großen Anklang. Sogar eine amerikanische Gesellschaft machte in der Ausstellung eine Tonfilmaufnahme.
Darüber hinaus konnte Kraus international Spenden lukrieren, besonders werden amerikanische Geber erwähnt. So hatte Leonhard Liebling, Chefredakteur des „Musical Courier“, nach seinem Besuch der Sammlungen im Juli 1931 seine Leser erfolgreich zur Zeichnung von Beträgen zugunsten der Gesellschaft aufgefordert. Eine Spende der Beethoven-Gesellschaft in New York wiederum ermöglichte die Anschaffung einer großen Instrumentenvitrine, welche die ältesten Stücke der Sammlung in vollkommener Weise vor Staub und schädlichen Witterungseinflüssen schützte.
Weitere Betätigungsfelder von Kraus waren, dass sie Vorträge gehalten hat, zum Beispiel im Technischen Museum über die Geschichte des Klaviers. Dazu verfasste sie auch Einführungen in die Konzertprogramme und besorgte nicht zuletzt die Herausgabe des Notenmaterials an die ausübenden Musiker. Die Komplexität dieser Tätigkeit ist daran zu ermessen, dass es sich dabei oft um mehrere hundert Exemplare umfassende Singstimmen handelte.
Für die Zeit von 1935 bis 1961 gibt es eine große Lücke. Im Index der Exhibitenbücher des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien finden sich für diese Zeit keine Einträge, die Hedwig Kraus direkt betreffen.
So existieren auch für die Zeit des Nationalsozialismus keine direkten Quellen zu Kraus. Sie konnte jedoch in einem Aufsatz kurz nach dem Krieg die Gesellschaft der Musikfreunde einem amerikanischen Publikum vorstellen. Indirekt geht es in diesem Aufsatz vor allem auch darum, die Gesellschaft der Musikfreunde − bzw. das Archiv und die Sammlungen – als übernationales Gut zu präsentieren und um Spenden zu bitten. Ihre Einstellung gegen den Nationalsozialismus lässt sich aus einer Bemerkung von Guido Adlers Sohn in einem Brief an Egon Wellesz ablesen.
Für die Jahre bis zur Pensionierung 1961 gibt es wie erwähnt keine konkreten Unterlagen zu Kraus. Eine Möglichkeit, mehr herauszufinden, wäre, die gesamte Korrespondenz durchzuarbeiten. Im Großen und Ganzen wird davon auszugehen sein, dass sich die Tätigkeit nicht wesentlich von der vor 1938 unterschieden hat.
Ende November 1961 ging Kraus in Pension, ein Jahr darauf wurde sie mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet. Dr. Hedwig Kraus starb am 3. Dezember 1985.
Nach Dr. Hedwig Kraus war mit Dr. Hedwig Mitringer wieder eine Frau Archivleiterin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.
Die Datenlage ist zwar eher dürftig, aber man darf mit gebotener Vorsicht dennoch den Schluss ziehen: Hedwig Kraus war sicher mit klischeehaften Vorurteilen Frauen gegenüber konfrontiert. Andererseits hat sie auch viel Unterstützung erfahren – die profunde Ausbildung wurde von der Familie ermöglicht, Mandyzewski scheint sie sehr gefördert zu haben. Sicher ist, dass Hedwig Kraus neben viel Fleiß vor allem Können und Geschick gehabt hat.

Literatur / Quellen

Quellen
Archiv der Universität Wien, Rigorosenakt.
Wiener Stadt- und Landesarchiv, historische Wiener Meldeunterlagen.
Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Exh Nr. 248, 1918/19 – 7. Juni 1919; Exh, Nr. 139; 1922/23: 22. April 1923; Exh.188, 1929/30, Bewerbung Kraus, Okt 1929; Exh. Nr. 45, 1935/36; 10. Nov 1935, Antrag auf Erwirkung Prof.Titel für den Direktor Frau Dr. H. Kraus.
Österreichisches Staatsarchiv, Präsidentschaftskanzlei, Zl. 51 238/62; Antrag Kraus, Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, Grundzahl 49977; Zl. 47047-9/62.
ÖNB Musikslg. F13 Wellesz 1046, Brief von Hubert Joachim Adler an Egon Wellesz, 2. Jan. 1953.

Literatur
Kralik, Heinrich: Das Buch der Musikfreunde. Hg. von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Almathea Verlag, Zürich/Leipzig/Wien 1951, S. 243.
Hilscher, Elisabeth Th.: Denkmalpflege und Musikwissenschaft. 100 Jahre Gesellschaft zur Herausgabe der Tonkunst in Österreich 1893–1992, verlegt bei Hans Schneider, Tutzingen 1995, S. 130, 151.
Hilscher, Elisabeth Th./Kretschmer, Helmut (Hg.): Wien Musikgeschichte. LIT Verlag, Wien 2011, S. 480.
Noch Jahrzehnte nach Vorlage der Dissertation bzw. deren Publikation in einer Zeitschrift wird in Rezensionen vermerkt, wenn Musikwissenschafter die Arbeit von Kraus nicht kennen: vgl. Jacob Buus als Motettenkomponist by Walter Breitner, rezensiert von Chris Maas. In: Tijdschrift van de Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis, Deel 29, No. 2 (1979), pp. 139–142; Österreichische Kirchenmusik by Ernst Tittel, Herder, Wien 1961, Tuzing Hans Schneider 1977 Wiener Veröffentlichungne zur Musikwissenschaft Bd. 6 In: Music & Letters, Vol. 43, No. 1 (Jan., 1962), rez. v. H. F. R., 79-81: „…Tittels biographie also overlooks the Viennese scholar Kraus and her studies on Jacob Buus, published in 1926–28 in Tydschrift der Vereeniging for Nederlandsche Musikgeschiedenis“.

Werke

Jacob Buus und seine Werke (ca. 1500 – 1565), Diss. Univ. Wien 1919.
Tijdschrift der Vereeniging voor Nederlandsche Muziekgeschiedenis, deel XII Amsterdam G. Alsbach & Co. 1928. (Dr. H. Kraus, Jacob Buus, Leben und Werke (Wiener Dissertation): S. 35–39: Sein Leben. (Fortsetzung folgt); S. 81–96 Jacob Buus, Leben und Werke: Seine Werke (Schluss folgt), S. 221–235 Jacob Buus, Leben und Werke: II Die Die Vokalwerke geistliche Vokalwerke; S. 227 Weltliche Vokalwerke.
Strauss-Lanner. Eine Sammlung Alt-Wiener Tanzmusik in Original-Ausgaben. Die Werke von Johann Strauss (Vater), Johann Strauss (Sohn), Josef und Eduard Strauss, Josef und August Lanner. Von Ferdinand Scherber. Antiquariat der Seidelschen Buchhandlung, Wien 1924 (Spezialkatalog; Mitarbeit).
Raimund-Liederbuch. Lieder und Gesänge aus Ferdinand Raimunds Werken. (Gesang, Klavier). Wiener Drucke, Wien 1924 (Hedwig Kraus: Bemerkungen zur Musik, Wilhelm A. Bauer, Bemerkungen zum Text).
Gem. mit Dr. Karl Geiringer: Eine musikalische Schatzkammer. 1931.
Führer durch die Josef Haydn Kollektion. 1932.
In Radio Wien, 8. Jg. Nr. 21, Wien 19. Februar 1932, 7: (Zum Hörbericht am Samstag, 27. Februar. Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und ihre Sammlungen, von Dr. Hedwig Kraus.
W. A. Mozart und die Familie Jacquin. Zeitschrift für Musikwissenschaft 15 (1932, Okt.–1933, Sept.), S. 155.
Gem. mit Karl Geiringer: Viktor Luithlen, Johannes Brahms. Zentenar-Ausstellung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Beschreibendes Verzeichnis. Selbstverlag, Wien 1933.
Das Wiener Lied von 1792 bis 1815. Bearbeitet von Hermann Maschek und Hedwig Kraus; unter Leitung von Guido Adler, (Publicationen der Gesellschaft zur Herausgabe der Denkmäler der Tonkunst in Österreich Bd. 79) 1935.
Geschichte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1912–1937. Fortsetzung der Festschrift zur Jahrhundertfeier 1912) im Auftrage der Direktion der Gesellschaft, verfaßt von Carl Lafite. Die Sammlungen der Gesellschaft, verfaßt von Dr. Hedwig Kraus, Wien 1937.
Carl Philipp Emanuel Bach, Klavierstücke. Piano pieces. Pieces pour piano. Ausgewählt u. hg. v. Victor Luithlen u. Hedwig Kraus. Universal-Edition, Wien 1938 [Ausg. 1953].
Wiener Philharmoniker (1842–1942). Universal-Edition, Wien 1942 (Statistik von Hedwig Kraus und Karl Schreinzer).
Wolfgang Amadeus Mozart, (KV 346 [KV 439a]. KV 436. KV 437. KV 438. KV 439. KV 549.) 6 Nocturnos für 2 Soprane u. Bass m. Begleitung von 3 Melodieinstrumenten. Mit einer deutschen Übersetzung vers. u. hg. v. Hedwig Kraus. Peters, Leipzig 1942.
Josef Haydn. Ausstellung zum 150. Todestag; vom 29. Mai bis 30. September 1959, Wien, Neue Hofburg (Gesamtplanung und Katalog Leopold Nowak unter Mitw. von Franz Hadamowsky und Hedwig Kraus). Österreichische Nationalbibliothek, Wien 1959, Biblos-Schriften; 24.
Suiten für Tasteninstrumente von und um Franz Mathias Techelmann ca. 1649–1714. Veröffentlicht von Hedwig Kraus; unter Leitung von Erich Schenk (Publicationen der Gesellschaft zur Herausgabe der Denkmäler der Tonkunst in Österreich Bd.115) 1966.
Programmeinführungen in die Gesellschaftskonzerte von 1930–1937.
Verschiedene Aufsätze in Wiener und ausländischen Zeitschriften:
Konzertblatt der Gesellschaft der Musikfreunde, Radio Wien, Salzburger Museumsblätter, Zeitschrift für Musikwissenschaft, Mitteilungen der Schwedisch-Österreichischen Gesellschaft Austria.
Vorträge über die Geschichte des Klaviers, über die Geschichte des Liedes, ferner verschiedene Radiovorträge, z. B. über musikalische Würfelspiele und die Musikerfamilie Lachner.

Biografieautor:

Veronika Pfolz