Helbich Ilse, geb. Hartl; Verlagskauffrau, Journalistin und Schriftstellerin
Geb. Wien, 22.10.1923
Gest. Wien, 26.1.2024
Herkunft, Verwandtschaften: Der Großvater Wenzel Hartl, ein aus Böhmen eingewanderter Häuslersohn, machte die Zimmerlehre in Nussdorf und arbeitete sich zum Firmengründer und reichen Unternehmer hinauf; 1910 errichtete sein Unternehmen das erste vorgefertigte Einfamilienhaus. Später folgte die serienmäßige Erzeugung von Holz-Fertighäusern, dem Hartl Haus. Der Vater Dipl.-Ing. Dr. Fritz (Friedrich Carl) Hartl (1896-1985) war Bautechniker und Juniorchef, dann Chef der Baufirma Wenzel Hartl in Wien.
Die Mutter Maria, geb. Seidl wurde 1900 in Brod/Save als Tochter eines Berufsoffiziers geboren (gest. 1987 in Wien). I.s fünfzehnjähriger Bruder Fritz (1927-1953) musste mit seiner Klasse als Luftwaffenhelfer einrücken; der Siebzehnjährige kam mit stark fortgeschrittener Lungentuberkulose zurück, woran er acht Jahre nach Kriegsende starb.
LebenspartnerInnen, Kinder: 1951 schloss sie die Ehe mit Dr.iur. Franz Helbich (27.9.1924-27.6.2012), Rechtsanwalt, Generalsekretär der Österreichischen Industriellenvereinigung, Honorarprofessor, der über Steuerrecht und Privatstiftungsrecht publizierte. Aus der Ehe stammen die Kinder Lisa (1952-2000), deren Tod sie zutiefst traf, Martin (geb. 1953), Nikolaus (geb. 1956), Franz (geb. 1960) und Anna (geb. 1963). Die Beziehung des Ehepaares war von Anfang an nicht harmonisch; dazu kam I. H.s Dauerbelastung durch den Tagesablauf: vormittags die eigenen Arbeiten, nachmittags die Betreuung der Kinder, abends gesellschaftliche Verpflichtungen („ich musste funktionieren“). Ständig hatte sie das unbestimmte Gefühl, es sollte sich etwas ändern. Doch erst nach 30 Ehejahren fasste sie den spontanen Entschluss, sich von ihrem Mann zu trennen. „Jetzt kannst du gehen, ich schaffe es schon allein; wenn du jetzt nicht gehst, wirst du noch kränker und stirbst“, hatte ihre jüngste Tochter zu ihr gesagt. I. H. zog zunächst in eine leer stehende Wohnung von Freunden. Später folgte die Ehescheidung. Doch jetzt bestehe ein echt freundlicher Umgang mit ihrem Mann, bemerkte sie in der Sendung „Tonspuren“ (2008).
Freundschaften: Aus ihrer Jugendzeit hob sie vor allem zwei Persönlichkeiten hervor: den Universitätsprofessor Heinrich (von) Ficker (1885-1957)), Sohn des Historikers Julius von Ficker, Meteorologe, Geophysiker und Bergsteiger, für sie „Onkel Heinz“, der so wunderbar erzählen konnte; und den Dompfarrer Arnold Dolezal in St. Nepomuk im 2. Wiener Bezirk, der stets half, wo er konnte, während der Nazizeit Verfolgte versteckte, Juden im Dachboden seiner Kirche unterbrachte und wunderbarer Weise nie angezeigt wurde; in Schönberg im Kamptal dann Frau Hedwig, im Hauptberuf Vorarbeiterin der Forstarbeiter, welche die Pflege ihres Gartens übernahm.
Ausbildungen: Sie besuchte die Volksschule und das Realgymnasium in der Klosterschule Maria Regina im 19. Wiener Bezirk, wo sie sich nicht wohl fühlte, und setzte ab der fünften Klasse Gymnasium den Wechsel in die Neulandschule (ebenfalls im 19. Bezirk) durch, von deren Ideen sie begeistert war, bis deren Verwaltung von den Nationalsozialisten übernommen wurde. Im Frühling 1941 legte sie die Matura ab; daran schloss sich der Reichsarbeitsdienst und nach krankheitsbedingter Entlassung der Kriegshilfsdienst in einem Kinderheim der Stadt Wien. Im Herbst 1941 begann sie ihr Studium an der Universität Wien (Germanistik, Philosophie, Geschichte), unterbrochen durch kriegsbedingten Arbeitseinsatz, den sie in der väterlichen Firma leisten konnte. Ab Herbst 1945 setzte sie ihr Studium fort und schloss es 1947 mit der Promotion ab.
Nach einem mehrwöchigen Italienaufenthalt im Frühling 1948 absolvierte sie eine Buchhandelslehre bei der Firma W. Krieg im 1. Wiener Bezirk und anschließend eine Verlagslehre beim Springer Verlag, ebenfalls im 1. Wiener Bezirk, mit erfolgreicher Abschlussprüfung.
Laufbahn: Nach der Abschlussprüfung erhielt sie beim Springer Verlag eine Anstellung, doch nach ihrer Eheschließung gab sie ihren Beruf auf; denn zur Geburt und Betreuung von fünf Kindern kamen die gesellschaftlichen Verpflichtungen durch den Beruf ihres Mannes, wodurch ihr Leben ausgefüllt wurde. Sie betrachtete dies rückblickend als typisch für die damalige Zeit („…eisern war ihr von zuhause eingeschrieben: verheiratete Frauen arbeiten nicht“). Dennoch verschaffte sie sich einen „Nebenerwerb“ mit Nachhilfeunterricht und journalistischen Beiträgen über Wirtschaftsfragen; auch machte sie gelegentlich Drehbucharbeiten für den ORF (z. B. für die Serie „Fenstergucker“), ein Rohdrehbuch für einen dreistündigen Film über Ludwig Wittgenstein und schrieb seit 1972 vierzehntägige Kolumnen im Feuilleton-Teil der Tageszeitung „Die Presse“. Das Schreiben, so sagte sie, war ihr immer wichtig.
Nach der Trennung von ihrem Mann nahm sie an Friedensmärschen teil, beteiligte sich an der Besetzung der Hainburger Au, betreute behinderte Kinder und betätigte sich in der Hospizbewegung. 1985 erwarb sie die „Alte Post“, einen alten Dreikanthof in Schönberg im Kamptal/NÖ., der seit der Thurn-und-Taxis-Post bis 1964 als Poststelle gedient hatte. Sie ließ das Gebäude restaurieren und machte es zu ihrem Hauptwohnsitz (vgl. ihr Buch „Das Haus“). „Zum ersten Mal in ihrem Leben ist die Siebzigjährige zuhause.“ („Schwalbenschrift“). Sie sei in einem glücklichen Hafen gelandet, sagte sie („Menschenbilder“). In dieser „neuen Geborgenheit“ könne sie „Menschen nun näher lassen“ („Tonspuren“).
Seit Mitte der Neunzigerjahre gestaltete sie zahlreiche Radio-Collagen, u. a. für die Sendung „Diagonal“ des Senders Ö1. 2003 veröffentlichte sie im Alter von 80 Jahren ihr erstes Buch, den autobiographischen Roman, „Schwalbenschrift“; darin beschrieb sie sehr anschaulich die Schauplätze ihrer Kinderspiele auf dem großen Firmengelände im 19. Wiener Bezirk, das sich zwischen Sieveringer Straße, Weinzingergasse, Iglaseegasse und Grinzinger Allee erstreckte (1979 wurde das Grundstück Wenzel Hartl verkauft und anschließend verbaut). Sie schildert auch die kühle, distanzierte Atmosphäre ihres großbürgerlichen Elternhauses; Angestellte, besonders Jarosch, der Chauffeur ihres Vaters, wurden daher zu wichtigen Bezugspersonen. „Die Mutter war anwesend und abwesend zugleich, überfordert mit ihrem Schicksal…“, „Eltern und Kinder waren weit auseinander“, so suchte sie das Verhältnis in der Sendung „Menschenbilder“ zu beschreiben. Gegenüber den Frauen der Familie herrschte eine streng patriarchalische Einstellung: eine leitende Stellung derselben in der Firma blieb – auch nach dem Tod ihres Bruders und selbst, als die Kräfte ihres Vaters nachließen – undenkbar, obwohl sie immer Interesse dafür zeigte („Lieber soll meine Firma zugrunde gehen, bevor ich eine Frau an die Spitze lasse.“). So ging denn schließlich ein Teil der Firma an Cousins, der Rest später in fremde Hände. Aber auch gegenüber Söhnen herrschte ein sehr autoritärer Stil.
Sie erzählte von prägenden Erlebnissen während der Naziherrschaft, deren Ideen die damals Fünfzehnjährige zunächst beeindruckten, von denen sie sich jedoch bald distanzierte, sowie von den Schrecken des Krieges, der Kämpfe um Wien und des Einmarsches der russischen Besatzungstruppen, dann von der Nachkriegszeit − und schließlich von ihrem späten Ausbruch aus der Ehe und ihrem Neubeginn, mit dem sie „noch im Alter ein Fortleben in konventionellen Erwartungen gegen den neuen Weg ins Offene eintauscht“ (Klappentext von „Schwalbenschrift“) − all dies freilich ohne Namensnennungen und in der dritten Person; doch in Radiointerviews bestätigte sie die Authentizität des Erzählten.
Trotz schwankendem Gesundheitszustand folgten weitere Romane und Erzählungen. Erst das Schreiben, so meinte sie, verhalf ihr zu einer klareren Sicht auf ihr Leben.
Den Prozess ihres Schreibens schilderte sie ausführlich in der Sendung „Tonspuren“. Dabei bemerkte sie auch, sie sei „altersbesessen“, sie empfinde diese Zeit als Ziel, als Höhepunkt ihres Lebens. Ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle im hohen Alter zeichnete sie in ihrem Buch „Grenzland Zwischenland. Erkundungen“ (2012) auf.
Ihre Gottsuche, die sie bei Kriegsende, in einem Erdkellerloch versteckt, von Kampffeuer umtobt, ihren Tod vor Augen, gelobte, falls sie überleben sollte – diese Suche, die ihr weiteres Leben begleitete, habe sie beendet, weil sie einen Schwerpunkt in sich selbst fühle; gerade in einer schweren Krankheit habe sie das Gefühl einer äußersten Geborgenheit empfunden („Menschenbilder“). Sie wisse nicht, ob das religiös sei.
Ihre Mitteilungen in der Sendung „Menschenbilder“ schloss sie mit den Worten: „Das Leben ist dadurch, dass man ein Begrenzungsgefühl hat, unbeschreiblich schön“.
Qu.: Schriftliche Mitteilungen von I. H.; Ö 1, Tonspuren, 25. 1. 2008: Die Spätberufene. Porträt der Schriftstellerin Ilse Helbich; Protokoll der Veranstaltung des Österreichischen Frauenrates mit Ilse Helbich vom 16.12.2009; Ö 1, Sendung „Menschenbilder“, 28.2.2010, 14.00 Uhr: „Schwalbenschrift“− Ilse Helbich.
W.: „(Unter Ilse Hartl): Die Rittergeschichten Johannes Beers. Phil. Diss. Wien“ (1947), „Schwalbenschrift“ (2003), „Die alten Tage“ (2004), „Iststand. Sieben Erzählungen aus dem späten Leben“ (2007), „Das Haus“ (2009), „Fremde. Erzählungen“ (2010), „Grenzland Zwischenland. Erkundungen“ (Graz 2012)
L.: Julia Kospach: „Zum Weggehen gewandt.“ In: Die Presse am Sonntag, 14.3.2010, S. 54f.; Isabella Pohl: Das Bodenlose. In: Der Standard, 14./15.8.2010, S. 24; Ilse Helbich: Ich sehe ja noch. In: Die Presse, 21.1.2012, S. VI (Spektrum); Wikipedia, Suchbegriff „Ilse Helbich“, Zugriff: 16.2.2013, mit Weblinks zu Die Presse, 13. März 2010 und zur Website des Droschl Verlages
Edith Stumpf-Fischer