Becker Annie, Edle von, geb. Lieser; Ausdruckstänzerin
Geb. Wien, 12.6.1901
Gest. Los Angeles, USA, 25.6.1972

Annie ist die jüngere Tochter von Lilly Lieser, geborene Landau und Justus Lieser.

Vermutlich besuchte sie, wie ihre Schwester Helene Berger-Lieser, die Reformschule von Dr. Eugenie Schwarzwald, erhielt Tanzunterricht von Grete Wiesenthal und ging ihrer Karriere als Ausdruckstänzerin bis zur Geburt ihres Sohnes nach.

Am 21.Februar 1920 schrieb das „Neue Wiener Tagblatt“:

Annie Lieser gibt ihren Tanzabend, den 27. um 6 Uhr abends im großen Konzerthaussaale. Die Leitung des Orchesters hat Oskar Fried übernommen. Der 1914 von Sergej Djagilew engagiert war, die Aufführungen des russischen Ballett zu leiten. Fried sollte als erste Aufführung die Josefslegendevon R. Strauß in Berlin vorbereiten. Da die mimische Darstellung von Annie Lieser sich in der Linie der russischen Tanzmusik bewegt, hat sich Oskar Fried veranlaßt gefühlt, das Orchester zu dirigieren. Durch das sorgfältig abgestimmte Zusammenwirken von Tanz und Mimik gewinnt der Abend eine erhöhte Bedeutung.“

Aufführungen:
Georges Bizet: L’arlésienne/Suite Nr. 1 Teilaufführung (1872)
Edvard Grieg: Gebet und Tempeltanz (Gebet) (1893)
Alexander Glasunow: Pa de caractère G-Dur op. 68
Georges Bizet: Menuett (L’arlésienne. Suite Nr. 2) (1872)
Jean Sibelius: Valse triste op. 44/1 (Kuolema) (1904)
Georges Bizet: Adagietto (L’arlésienne, Suite Nr. 1) (1872)
Xaver Scharwenka: Polnischer Tanz
Georges Bizet: Carillon (L’arlésienne, Suite Nr. 1) (1872)
Peter Illjitsch Tschaikowski: Marche (der Nussknacker op. 71) (1891.1892)
Georges Bizet: Menuett II (L’arlésienne)
Johann Strauß (Sohn): Walzer (Die Fledermaus) (1874)
Georges Bizet: Farandole (L’arlésienne, Suite Nr. 2) (1872)


Kritik von Joseph Roth, „Der Neue Tag“, Sonntag, 26.2.1920:

Annie Lieser

Ein Herr, der hinter mir saß, sagte zu seiner Nachbarin: »Der Abend kostet eine Menge Geld! Sie ist reich! Zwanzig Millionen!« Ich hörte drei Ausrufezeichen.
Großer Konzerthaussaal; Symphonieorchester; Scheinwerfer über dem Podium; Cottagegäste in den Logen; und ein Herr, der drei Rufzeichen spricht; – macht das nicht misstrauisch?
Ich war es. Ich bin es. Aber, dass Annie Lieser tanzen kann, weiß ich auch. Ich weiß nur nicht, ob sie auch tanzen würde, wenn jener Herr hinter meinem Sitz keine Veranlassung gehabt hätte, die Rufzeichen zu sprechen.
Ich saß im Parkett, nicht sehr weit von der Bühne, eingehüllt in die Musik des Symphonieorchesters und das Cottagepublikum imponierte mir. Warum nicht? Und die Blumen, die man Annie Lieser auf die Bühne brachte, imponierten mir auch. Sie machten so beiläufig eine Jahresgage aus.
Und die Scheinwerfer spielten. Es war dunkel im Saal. Ich hatte das unangenehme Gefühl eines Skeptikers, der bei einer spiritistischen Séance fürchtet, durch Suggestion hereinzufallen.
Aus diesem Gefühl heraus, sah ich sehr deutlich, dass Annie Lieser das Griegsche »Gebet« nicht hingegeben genug, nicht weiblich, nicht passiv, nicht demütig, sondern maskulin, stark, eindrucksvoll, nur zuweilen in etwas unmotivierten Bewegungen, tanzte. Es war eher Herausforderung, denn ein »Gebet«.
Beim »Walse Triste« von Sibelius merkte ich zum ersten Mal Übereinstimmung zwischen Vorwurf und künstlerischer Durchführung. Allerdings, die Tänzerin trug ein dunkellila Gewand und schien dadurch schlanker, frauenhafter. Der Tanz bekam einen leisen erotischen Beigeschmack und das soll er.
Dann stieg ich auf die Galerie. Und merkte, dass Annie Lieser ein Recht hat auf Symphonieorchester, Großen Konzerthaussaal, Aufmachung. Ihre große starke Erscheinung wirkt graziös nur in der Entfernung. Von der Galerie aus gesehen sind Scheinwerfer, Blumen, Saalverdüsterung nur unbedingt notwendiger Rahmen.
Es ist Tanz; losgelöst von aller Erotik. Selbst im Straußschen »Fledermaus« Walzer, den Annie Lieser am besten tanzte, keine Spur von Erotik.
Die maskuline Heroinengestalt braucht viel Musik, um weicher zu erscheinen; braucht Scheinwerfer, damit Muskelkonturen in weichen Farben verschwimmen; braucht Blumen, um Frauenhaftes anzusetzen; braucht Großen Konzerthaussaal, Entfernung.
Aber maßgebend ist schließlich, dass das Können der Künstlerin Anspruch auf vorbereitende Wirkung erheben darf. R.

Der Briefwechsel zwischen Annie und Luzie Korngold, der Ehefrau Erich Wolfgang Korngolds, gibt Einblicke in Annies Seelenleben. Sie neigte zu depressiven Zuständen, fühlte sich von ihrer Mutter unverstanden. Ende November 1926 fuhr sie nach Südamerika, offensichtlich um Hans Sidonius, Ritter von Becker zu treffen, den sie am 24. Januar 1927 ebendort standesamtlich heiratet.

Im Juni 1927 reiste sie vorerst alleine nach Europa zurück, da ihr Vater, Justus Lieser, verstarb. Den Schwestern Annie und Helene stand ein gewaltiges Erbe bevor, das beiden vollkommene finanzielle Unabhängigkeit bescherte. Ihr Mann Hans kam daher im Oktober 1927 ebenfalls nach Wien. Am 10. August 1927 tritt sie aus dem Judentum aus.

Helene kaufte ein Miethaus in Wien Döbling, in dem auch Annie und Hans eine Wohnung bezogen. Hans konnte sich selbständig machen, Annie tanzte. Am 10. September 1936 kam der gemeinsame Sohn Johann Nikolaus Guido Francisco von Becker zur Welt und wurde gleich getauft. Hans von Becker war ein vielfältiger Mensch. Maler, Architekt, Autor, Journalist, Widerstandskämpfer, Mitglied im Hagenbund, Freimaurer und Staatsbeamter im Ständestaat. Somit in höchster Gefahr. Schon zwei Tage nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, am 14. März 1938, wurde er verhaftet und kam ins KZ Dachau, aus dem er erst im Dezember 1940 entlassen wird. Annie und Sohn Johann flüchten 1938 über Genf, London und New York nach Los Angeles.

Hans verliebte sich in eine andere Frau und ließ im Mai 1941 die Ehe mit Annie annullieren. Sein Argument: Erst mit der Entlassung aus dem KZ sei ihm die Schädlichkeit der Ehe mit einer Jüdin bewusst geworden.

Annie, die zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre in Kalifornien lebte, hat das so verletzt, dass sie ihm angeblich jeden Kontakt zu seinem Sohn untersagte. Ob es Kontakte zur Verwandtschaft in Wien gab, konnte ich nicht recherchieren. Zu Alma Mahler-Werfel und Luzie Korngold, die ebenfalls beide in Kalifornien lebten, blieb der Kontakt lebenslang bestehen. Annie und Helene waren bis zum Jahr 1957 in Rückstellungsprozesse verwickelt. Es ist beschämend zu lesen, mit welchen Repressalien die beiden Schwestern, die sich ausschließlich von ihrem Anwalt vertreten ließen, zu kämpfen hatten. Als Helene 1962 an Krebs starb, erbte Annie auch das Haus in Wien Döbling. Ich glaube nicht, dass sie jemals wieder österreichischen Boden betreten hat.

Annie Becker starb am 25.6.1972 in Los Angeles und ist dort beerdigt. Grand View Memorial Park Crematory, Glendale, L. West Mausoleum, Lower Level, Section 15, Crypt.

Autorin der Biografie: Alexandra Löw